Die Motive des Selbstmordes in Goethes „Die Leiden des jungen ...

Gottesidee Trost zu ziehen vermag. Kapitel ... die Tatsache, dass er offenbar zusammen mit der Mutter in die ihm verhasste Stadt ziehen .... Julius 1771, S. 382.
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Annette Wallbruch

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Werthers Todessehnsucht Die Motive des Selbstmordes in Goethes „Die Leiden des jungen Werther“

disserta Verlag

Wallbruch, Annette: Werthers Todessehnsucht: Die Motive des Selbstmordes in Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-820-8 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-821-5 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com

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Inhaltsverzeichnis Einleitung .................................................................................................................................. 9 1

Werther und die Gesellschaft........................................................................................... 11 1.1 Werthers Herkunft, seine Kindheit und Jugend ........................................................... 11 1.2 Werthers Position in der Gesellschaft .......................................................................... 13 1.3 Werthers Haltung zur Gesellschaft............................................................................... 17 1.3.1 Werthers Verhältnis zu Kindern............................................................................. 19 1.4 Die Parallelfiguren zu Werther ....................................................................................... 20 1.4.1 Die Bauernburschenepisode ..................................................................................... 21 1.4.2 Der wahnsinnige Schreiber .................................................................................... 23 1.5 Albert als Werthers Antagonist .................................................................................... 24 1.5.1 Die Selbstmorddiskussion ...................................................................................... 25 1.6 Die Gesandtschaftsepisode ........................................................................................... 26 1.7 Der Eklat in der Adelsgesellschaft ............................................................................... 27

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Werther und die Natur.................................................................................................... 32 2.1 Die Naturauffassung des Sturm und Drang .................................................................. 32 2.2 Der Gegensatz Stadt/Land bzw. Kultur/Natur.............................................................. 34 2.2.1 Werther als Spaziergänger ..................................................................................... 35 2.2.2 Das Motiv der Nussbäume ..................................................................................... 36 2.3 Natur als positiver Verstärker....................................................................................... 37 2.4 Die zerstörerische Natur ................................................................................................. 38

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Werther und die Kunst ................................................................................................... 41 3.1 Erste Annäherung an Lotte mittels Literatur ................................................................ 41 3.2

Werther als Leser ................................................................................................... 42

3.2.1 Klopstock ............................................................................................................... 44 3.2.2 Homer ..................................................................................................................... 46 3.2.3 Ossian ..................................................................................................................... 47 3.2.4 Lessing ................................................................................................................... 48 3.3 Werther als Künstler ..................................................................................................... 49 3.4 Die Kunstauffassung des Fürsten versus Werthers Kunstauffassung .......................... 51 4

Die Liebe zu Lotte ............................................................................................................ 53 4.1 Der euphorische Bericht an Wilhelm ........................................................................... 53 4.1.1 Klopstock als Losung ............................................................................................. 54

4.1.2 Lotte als Lebensmittelpunkt ................................................................................... 54 4.2 Werther als Kranker ..................................................................................................... 56 4.2.1 Werthers Rede gegen die üble Laune ..................................................................... 57 4.2.2 Die Herz-Kind-Metaphorik .................................................................................... 58 4.3 Lottes Charakter ........................................................................................................... 60 4.4 Das Märchen vom Magnetberg .................................................................................... 63 4.5 Albert als Werthers Konkurrent ................................................................................... 64 4.6 Erster Entwurf einer jenseitigen Liebe ........................................................................... 65 4.7 Wilhelm als Vertreter des Vernunftsprinzips ................................................................. 66 4.8 Werthers Vorstellung von der Liebe ............................................................................ 67 4.8.1 Flucht aus der Situation und Rückkehr zu Lotte ...................................................... 69 4.8.2 Die Erfüllung der Liebe durch Lottes Kontrollverlust ........................................... 71 5

Werther und die Religion................................................................................................ 72 5.1 Die Haltung des Sturm und Drang zur Religion .......................................................... 72 5.2 Werthers Pantheismus .................................................................................................. 74 5.2.1 Ossian als Symbol einer deutlichen Absage an Pantheismus ................................ 75 5.3 Biblische Anklänge im Werther ................................................................................... 76 5.3.1 Die Hinwendung zu einem persönlichen Vatergott ............................................... 76 5.3.2 Werther und die Kinder .......................................................................................... 78 5.4 Die religiöse Stilisierung Lottes ................................................................................... 79

6. Der Selbstmord ................................................................................................................... 82 6.1 Frühe Thematisierungen des Selbstmordes .................................................................. 82 6.1.1 Das tote Mädchen 3als Beispiel für die Rechtfertigung des Selbstmordes ............ 83 6.2 Werthers latente Todessehnsucht ................................................................................. 84 6.3 Der fantasierte Mord an Albert oder an Lotte .............................................................. 84 6.4 Die Planung .................................................................................................................. 86 6.4.1 Die Funktion des Abschiedsbriefes an Lotte.......................................................... 86 6.5 Die Tat .......................................................................................................................... 88 6.6 Die Symbolik des Sterbetages ...................................................................................... 90 Resümee................................................................................................................................... 91 Exkurs: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte .................................................................... 96 Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 116

Einleitung Friedrich Maximilian Klinger verleiht mit seinem Drama „Sturm und Drang“ der literarischen Bewegung ihren Namen, doch es wird ein Roman eines bis dahin noch relativ unbekannten Autors sein, der als das Werk des Sturm und Drang schlechthin in die Literaturgeschichte eingehen wird. Es ist Goethes „Werther“1, mit dem er seinen Ruhm begründet und mit dem er Wirkungen erzielen wird, die unwiederholbar bleiben werden. „Allerhand neues hab ich gemacht. Eine Geschichte des Titels: die Leiden des jungen Werthers, darin ich einen jungen Menschen darstelle, der mit einer tiefen reinen Empfindung, und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, bis er zuletzt durch dazutretende unglückliche Leidenschaften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schießt“,2

schreibt Goethe im Juni 1774 an Schönborn. Die Protagonisten dieser Liebesgeschichte, Werther und Lotte, sind seit der Veröffentlichung des Romans nicht mehr wegzudenken aus dem Kreis der großen Liebespaare der Weltliteratur und werden in einem Atemzug mit Romeo und Julia, Tristan und Isolde oder Julie und Saint Preux genannt. Goethes Jugendwerk, mit dem er zu Weltruhm gelangt und einen Erfolg feiern kann, den er in dieser Form nie wird wiederholen können, jedoch nur an der Intensität der Darstellung der Liebesproblematik zu messen, würde dem Werk nicht gerecht werden. Wie oben zitiert, sagt Goethe ja selbst, dass die Liebe nur als ein Mosaikstein des Bildes zu sehen ist, als ein hinzutretendes Moment, das zu Werthers Untergang führt. Es zeigt sich sodann im Verlauf des Romans auch nicht ein einzelnes Motiv als ursächlich verantwortlich für seinen Selbstmord, sondern ein sehr komplexes Geflecht von Motiven liegt seiner Tat zugrunde. Psychoanalytische Interpretationen haben immer wieder versucht, herauszufinden, was den Protagonisten hätte retten können.3 Obwohl menschlich verständlich, führen diese Fragestellungen nicht allzu weit, denn man darf Goethe zweifellos unterstellen, dass er die Rahmenbedingungen, in denen er Werther leben lässt und seine Charakterstruktur bewusst genau so 1

Ich beziehe mich mit den Textzitaten auf die Münchner Ausgabe. Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werthers, in: Sämtlich Werke, Bd. I.2, hrsg. von Karl Richter, München 1987, S. 197 - 299 2 Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 bis 30. Oktober 1775, II. Abtl., 1. Bd., hrsg. von Wilhelm Große, Frankfurt am Main 1997, Brief an G.F.E. Schönborn, S. 374 3 So z. B. Möbius, Paul J.:Werthers Leiden, in: Schmiedt, Helmut (Hrsg.): „Wie froh bin ich, daß ich weg bin!“ Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ in literaturpsychologischer Sicht, Würzburg 1989, S. 32: „Man hat kaum das Recht, zu sagen, Goethes Werther sei überhaupt nicht lebensfähig, sein Tod sei notwendig. Wäre Werther durch irgend ein günstiges Eingreifen über die Zeit der Gefahr weggehoben worden, so hätte er ruhig weitergelebt, wäre freilich immer pathologisch geblieben.“

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und nicht anders gewählt hat. Interessieren kann allerdings, warum Werther von einer so starken Todessehnsucht getrieben wird, die letztlich dazu führt, dass er keine Alternative zum Selbstmord sieht und scheitert. Was ist es also, das Werther das Leben so unerträglich macht, dass er Selbstmord begehen will und diese Tat schließlich auch ausführt? Diese Frage wird in der vorliegenden Arbeit eingehend untersucht. Dazu soll Werthers Charakterstruktur über seine Anschauungen zu verschiedenen Bereichen analysiert werden. Kapitel eins thematisiert Werthers Haltung zur feudalabsolutistischen Gesellschaft, die jedoch bereits Merkmale der aufkeimenden bürgerlichen Gesellschaft trägt sowie die Position, die Werther in ebendieser Gesellschaft einnimmt. In Kapitel zwei wird Werthers Verhältnis zur Natur in ihrer Funktion als gegenzivilisatorische Kraft untersucht. In Kapitel drei werden seine Positionen zur Kunst auch im Hinblick darauf betrachtet, ob die Beschäftigung mit Kunst als Ausgleich zu einer ansonsten defizitär erlebten Welt gesehen werden kann. In Kapitel vier wird die Liebe zu Lotte und ihr Stellenwert für Werther analysiert. Kapitel fünf beschäftigt sich mit der Frage, welche Religionsvorstellung Werther hat und ob er aus seiner Gottesidee Trost zu ziehen vermag. Kapitel sechs beleuchtet den Selbstmord Werthers näher und versucht die Frage zu beantworten, warum sein Selbstmord als zwangsläufig anzusehen ist. Im Resümee werden die Ergebnisse aus den Kapiteln eins bis sechs zusammenfassend dargestellt. Die ungeheure Wirkung des Erstlingsromans von Goethe empfiehlt es, eine Darstellung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Werther-Romans anzuschließen, die sich allerdings auf das zeitgenössische Publikum beschränken soll. So beschäftigt sich der Exkurs mit der Frage, wie es ein fiktiver Text hat erreichen können, dass eine in viele Kleinstaaten zersplitterte Nation in der Frage pro oder kontra Werther insofern geeint zu sein schien, als man nur glühender Verehrer oder aber leidenschaftlicher Gegner des Werther sein konnte.

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1 Werther und die Gesellschaft 1.1 Werthers Herkunft, seine Kindheit und Jugend Über Werthers Familie wissen wir aus seinen Briefen nur Weniges. Sein Vater scheint früh verstorben zu sein, von Geschwistern ist nicht die Rede. Wenn Werther im Brief vom 5. Mai 1772 schreibt, dass die Mutter nach dem Tode des Vaters aus der Idylle einer Kleinstadt in der Nähe von Wäldern und Bergen weggezogen ist, um sich dort, in ihrer „Stadt einzusperren“4, deutet sich an dieser Stelle bereits an, dass die Lebenseinstellung der Mutter nicht der seinen entspricht und eine gewisse Distanz zur Mutter besteht, die sich hier durch beider unterschiedliche Haltung zum Land- und Stadtleben zeigt. Die der erzählten Zeit vorhergehenden Abschnitte Kindheit und Jugend Werthers werden von ihm kaum gestreift, doch lassen sich an den Details, die er berichtet, die Grundlagen der Einschätzung der Welt ablesen, wie er sie später vornehmen wird. So erinnert sich Werther seiner Kindheit als dumpf und bedrückend, wenn er von der Erziehung in der Schule spricht, aber als glücklich, wenn er von den träumend in der Natur verbrachten Stunden berichtet. Seine Betrachtungen über die Schule sind allerdings keine vereinzelten, völlig subjektiven Einschätzungen der Situation aus dem Blickwinkel eines besonders empfindsamen Menschen, der auch schon als Kind sehr sensibel war, sondern decken sich mit zeitgenössischen Erfahrungsberichten über die Art und Weise des Unterrichts von Kindern in deutschen Schulen.5 Werthers Aufenthalte in der Natur, die er rückblickend als glücklich verträumte Tage beschreibt, waren jedoch von den gesellschaftlichen Anforderungen, die seine Familie an ihn stellte, überschattet. Auch hier schon begriff er die sozialen Zwänge etwa eines geregelten Tagesablaufs als Hindernis zur Selbstverwirklichung. Es erfüllte ihn mit Widerwillen, wenn er seinen Platz in der Natur verlassen musste, um den Erwartungen der Familie zu entsprechen und zu einer genau bestimmten Zeit zu Hause zu sein.6 Diese negativ besetzte Routine der zeitlichen Abläufe, eines geregelten Lebensrhythmus überhaupt und der Kontrast des freien Herumschweifens in der Natur schließen an die Vorstellungen Rousseaus von der 4

Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werthers, in: Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 2.2, hrsg. von Karl Richter, München 1987, Brief vom 5. Mai 1772, S. 413 5 So berichteten zahlreiche ehemalige Schüler dieser Zeit, dass der gesamte Unterricht, der ihnen zuteil wurde, auf Zwang ausgerichtet war und dazu diente, gehorsame und funktionierende Untertanen heranzuziehen. Vgl. hierzu Möller, Helmut: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur (Schriften zur Volksforschung, Bd. 3), Berlin 1969, S. 49 ff.

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Natürlichkeit an, die den ganzen Roman durchziehen und einer unverbildeten, urwüchsigen Lebensweise das Wort reden.7 Werthers Jugend wird noch sparsamer beleuchtet. Alles, was er dazu reflektiert, ist zum einen die Tatsache, dass er offenbar zusammen mit der Mutter in die ihm verhasste Stadt ziehen musste, zum anderen die Freundschaft zu einem Mädchen, das gestorben ist und das er schmerzlich vermisst: „Ach daß die Freundin meiner Jugend dahin ist! ach, daß ich sie je gekannt habe! – Ich würde sagen, du bist ein Tor, du suchst, was hienieden nicht zu finden ist; aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien, mehr zu sein als ich war, weil ich alles war was ich sein konnte.“8

Bereits in diesem frühen Brief, als Werther sich in der Aufbruchsstimmung des Reisenden befindet, der gerade in einer fremden Gegend angekommen ist, klingt eine melancholische Stimmung an, wenn er die eigentliche Unerreichbarkeit von Glück thematisiert. Doch Werther hat dieses Glück der Seelenverwandtschaft erlebt. Er ist somit von daher ausreichend disponiert, ein Suchender zu bleiben, für die Begegnung mit Lotte ist er vorgeprägt. Noch ein zweites Element schwingt mit, denn in der Beziehung zu seiner Jugendfreundin konnte er sich selbst, seine eigene Seele, als wertvoller empfinden, eine Selbsteinschätzung, wie sie für die spätere Beziehung zu Lotte noch interessant werden wird, denn auch dort erlebt Werther sich ab einem gewissen Punkt nur noch in Bezug auf Lotte und lediglich in Hinsicht auf sie als wertvoll, worauf in Kapitel vier noch näher eingegangen wird. Außer der Mutter existiert noch eine Großmutter, von der Werther berichtet, dass sie ihm Märchen vorlas. Die These von der typisch matriarchalischen Hominisation Werthers in einer grundsätzlich patriarchalisch organisierten Gesellschaft, in der Werther sich aufgrund des mangelnden männlichen Rollenvorbildes von seiner Mutterprägung nicht emanzipieren könne und immer auf der „Suche nach dem abwesenden Vater“9 bleibe, lässt sich aufgrund des Fehlens einer Aussage von Werther über das Zusammenleben mit der Mutter schwerlich stützen, denn wenn Werther auch einige seiner Schritte dahingehend betrachtet, wie wohl die Mutter dazu stehen würde, so ist sein Verhältnis zu ihr doch grundlegend von „gleichgültig6

Goethe, Johann Wolfgang: A.a.O., Brief vom 9. Mai 1772, S. 414 Vgl. hierzu: Wuthenow, Ralph-Rainer: Rousseau im „Sturm und Drang“, in: Hinck, Walter (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, Kronberg/Ts. 1978, S. 18 f. 8 Goethe, Johann Wolfgang: A.a.O., Brief vom 17. Mai 1771, S. 354 9 Meyer-Kalkus, Reinhart: Werthers Krankheit zum Tode. Pathologie und Familie in der Empfindsamkeit, in: Schmiedt, Helmut (Hrsg.): „Wie froh bin ich, daß ich weg bin!“ Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ in literaturpsychologischer Sicht, Würzburg 1989, S. 133 7

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distanzierter Höflichkeit“10 gekennzeichnet. Dies zeigt sich unter anderem dadurch, dass nicht ein einziger Brief an die Mutter gerichtet ist. In der Beurteilung des Charakters der Tante, die Werther im Auftrag seiner Mutter in strittigen Erbschaftsangelegenheiten aufsucht, lässt sich ebenfalls eine Differenz zwischen Mutter und Sohn erkennen. Werther teilt die Ansicht der Mutter nicht, dass die Tante ein „böses Weib“ sei, sondern sie sei – ganz im Gegenteil – eine „muntere heftige Frau von dem besten Herzen“.11 Die Distanz zur Mutter lässt sich auch an der Wortwahl ablesen, etwa wenn Werther Wilhelm aufträgt, seine Mutter von „ihrem Sohn“ zu grüßen, womit das Rollenverhältnis angesprochen und gleichzeitig auch die Reduktion auf die Rolle des Sohnes ausgedrückt wird. Aus der Selbstverständlichkeit, mit der Werther liest, zeichnet und kleine Aufsätze verfasst, aus seiner Beschäftigung mit der klassischen Literatur, seiner Fähigkeit, fremdsprachliche Dichtung zu übersetzen, und seinen Rekursen auf bildungsbürgerliche Fragestellungen sowie seiner späteren Tätigkeit in der Gesandtschaft kann geschlossen werden, dass er eine höhere Schulbildung, wenn nicht eine akademische Ausbildung, erhalten hat. Dafür spricht auch, dass er Wilhelm – höchstwahrscheinlich in Gleichsetzung mit sich selbst – als „auch der Gelehrten einer“12 bezeichnet.

1.2 Werthers Position in der Gesellschaft „Wie oft lull‘ ich mein empörtes Blut zur Ruhe, denn so ungleich so unstät hast du nichts gesehen als dieses Herz. Lieber! brauch‘ ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehen? Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet“13,

schreibt Werther im Brief vom 13. Mai 1771. In dieser Selbsteinschätzung zeigt sich sein unausgeglichener Charakter, der starken Gefühlsschwankungen unterliegt. Trieberfüllung und Absolut-Setzung des Ich stehen im Vordergrund. Seine Stellung innerhalb der Gesellschaft erleichtert es ihm, diese egozentrische Position auszuleben. Die Zugehörigkeit der Familie Werthers zum vermögenden Bürgertum ermöglicht es seiner Mutter, seinen Lebenswandel ohne Erwerbsarbeit und ohne wesentliche gesellschaftliche Verpflichtungen zu finanzieren, 10

Vgl. hierzu: Hübner, Klaus: Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther, Heidelberg 1982, S. 90 f. 11 Goethe, Johann Wolfgang: A.a.O., Brief vom 4. Mai 1771, S. 350 12 A.a.O., Brief vom 16. Junius 1771, S. 361 13 A.a.O., Brief vom 13. Mai 1771, S. 353

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auch wenn sie andere Ziele verfolgt und ihn in eine geregelte Anstellung bringen will. Hilfreich werden sich hierzu die Kontakte der Familie zum Hofe erweisen, auch diese sind ein Zeichen der privilegierten Stellung der Familie und somit auch Werthers. Auch ohne beruflichen Ehrgeiz sichert sie ihm durch ihre finanzielle Lage und ihre Reputation ein gewisses Ansehen und einige Vorzüge, wie zum Beispiel die dauernde Beschäftigung eines Dieners. Seinen Neigungen entsprechend gestaltet er seinen Tagesablauf, indem er etwas in der Kunst dilettiert, die Lektüre antiker Dichter betreibt und sich in der Natur ergeht. Das Handeln aus Neigung erhebt er dann auch ohne Umschweife zur Maxime, als deutlich wird, dass seine Mutter und Wilhelm ihn zur Übernahme von Pflichten bewegen wollen: „Eure Idee will noch nicht die meinige werden, daß ich mit dem Gesandten nach *** gehen soll. Ich liebe die Subordination nicht mehr, und wir wissen alle, daß der Mann noch dazu ein widriger Mensch ist. Meine Mutter möchte mich gern in Aktivität haben, sagst du: das hat mich zu lachen gemacht. Bin ich jetzt nicht auch aktiv? und ist‘s im Grunde nicht einerlei: ob ich Erbsen zähle oder Linsen? Alles in der Welt läuft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um anderer willen, ohne daß es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor.“14

Mit dieser Einstellung befindet sich Werther außerhalb der bürgerlichen Moral, in der Berufsarbeit für die männlichen Mitglieder der Gesellschaft ein wesentlicher Bestandteil des Lebens darstellt und der Status des jeweiligen Berufes neben der Herkunft der wichtigste Indikator des Gesamtstatus einer Person ist.15 Auch der christlichen Moral läuft er mit dieser Ansicht zuwider.16 Im Sinne des zeitgenössischen Philosophen Kant, nach dem nur das Handeln aus Pflicht moralisch wertvoll ist17, verhält sich Werther amoralisch. Mit seinem aus Neigung motivierten Handeln kontrastiert er die Normen und Werte der Aufklärung, die das Vernunftgebot zum obersten Prinzip erklärt. Dabei ist das Vernunftprinzip der Aufklärung nicht als absolut zu sehender Gegensatz zum Gefühlsprinzip zu verstehen, vielmehr sollten Gefühle und

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A.a.O., Brief vom 20. Julius 1771, S. 382 Der Status der Frau bemisst sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein allein am erwerbstätigen Familienoberhaupt, also entweder am Status des Ehemannes oder bei unverheirateten Frauen am Status des Vaters. Ein Umstand, der in bezug auf Werthers Liebe zu Lotte in Kapitel vier noch näher beleuchtet wird. 16 Ende des 19. Jahrhunderts wird Max Weber in seiner religionssoziologischen Studie zur Arbeitsethik des Protestantismus und hier vor allem zu der des Calvinismus und Pietismus feststellen, dass die Vorstellung von einer Prädestinationslehre die Grundlage der Berufsauffassung ist. Nach dieser Lehre ist man entweder von Gott zur Gnade auserwählt, oder – wenn dies nicht der Fall sein sollte – man kann sich der Gnade Gottes versichern, indem man in seinen Bemühungen – auch hinsichtlich des Arbeitseifers – niemals nachlässt. Um dieses Ziel erreichen zu können, bedarf es einer ständigen, systematischen Selbstkontrolle und daraus folgenden Askese, die dann zur Gewissheit der Seligkeit führt. Vgl. hierzu Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1921, Bd. 1, S. 114 f. 17 Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ed. Hartenstein, Leipzig 1867, Bd. 4, S. 262 ff. 15

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Vernunft gleichwertig nebeneinander bestehen können, wobei die Gefühle sich allerdings an vernünftigen Prinzipien orientieren sollten. Doch zur Vernunft und zum vernunftgeleiteten Handeln hat Werther eine deutlich negative Haltung. Im Disput mit Albert ruft er aus: „Ach ihr vernünftigen Leute! (...) Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen! scheltet den Trinker, verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der Pharisäer, daß er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in meinem Maße begreifen lernen, wie man alle außerordentliche Menschen, die etwas Großes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien mußte.“18

Hier ist der Gefühlsmensch angesprochen, der in soviel höherem Maße als der vernünftige Mensch geeignet scheint, die Dinge der Wirklichkeit zu begreifen und zu durchdringen, und der erst durch sein hohes Empfindungsvermögen gleichsam geadelt und befähigt wird, Außergewöhnliches zu tun und zu leisten. Es gilt das Primat des Gefühls, das als sichere Quelle von wahrer Erkenntnis angesehen wird. Der Verstand und die Fähigkeiten, die der Mensch mithilfe seiner rationalen Möglichkeiten erwerben kann, nehmen in dieser Hinsicht eine untergeordnete Position ein. So reflektiert Werther dann auch folgerichtig sein Wissen um seine Kenntnisse, die ihm die bildungsbürgerliche Erziehung ermöglicht hat, in resignativer Haltung: „Ach was ich weiß, kann jeder wissen – mein Herz habe ich allein.“19

Doch zeigt sich an dieser Stelle auch deutlich ein Understatement Werthers, das fast an Koketterie grenzt, indem er seinem Wissen einen geringen Stellenwert beimisst und sein fühlendes Herz in den Vordergrund stellt. So ist sein Bildungsstand keineswegs übertragbar auf die Gesamtbevölkerung, vor allem nicht auf die unteren Schichten des Volkes, die Werther aufgrund ihres natürlichen beziehungsweise einfachen Lebens in hohem Maße schätzt. Die Gesellschaft, in der Werther sich bewegt, besteht noch zu einem ziemlich hohen Anteil aus Analphabeten. Diejenigen aus den unteren Schichten, die des Lesens mächtig sind, beschäftigen sich überwiegend mit der reinen Existenzsicherung, sodass ihnen schon allein die Zeit fehlt, sich beispielsweise mit den Werken Homers auseinandersetzen zu können.

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Goethe, Johann Wolfgang: A.a.O., Brief vom 12. August 1771, S. 388 f. A.a.O., Brief vom 9. Mai 1772, S. 415

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