Die Grenzen staatlicher Legitimität - Buch.de

Die Grenzen staatlicher. Legitimität. Eine philosophische Untersuchung zum Verhältnis von Liberalismus und Perfektionismus mentis. MÜNSTER ...
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ISBN 978-3-89785-227-3

Christine Bratu DIE GRENZEN STAATLICHER LEGITIMITÄT Eine philosophische Untersuchung zum Verhältnis von Liberalismus und Perfektionismus

PAP

Ist es legitim, wenn der Staat eine Auffassung zum guten Leben vertritt und seinen Bürgerinnen und Bürgern nahebringt? Oder muss sich ein legitimer Staat aus allen Fragen des Guten heraushalten? Oder darf sich ein Staat Auffassungen zum guten Leben zu eigen machen und legitimerweise befördern, wenn diese vor allen Bürgerinnen und Bürgern gerechtfertigt sind? Um diese Probleme dreht sich der Streit zwischen Perfektionismus, politischem Liberalismus und perfektionistischem Liberalismus. In vorliegendem Buch wird dieser Streit dargestellt und Stellung für den perfektionistischen Liberalismus bezogen. Dazu werden die Unterschiede zwischen den genannten Positionen herausgearbeitet ausgehend davon, wie diese die Minimalanforderung an staatliche Legitimität interpretieren. Insbesondere wird diskutiert, wie sich Perfektionismus sowie politischer und perfektionistischer Liberalismus zu den Fragen der Rechtfertigung normativer und evaluativer Urteile, des gerechtfertigten Pluralismus und der Grenzen gerechtfertigten Dissenses positionieren. Aus den Antworten, die sie auf diese Fragen geben, lässt sich schließlich auch ein neues Verständnis von Toleranz und staatlicher Neutralität im Liberalismus ableiten.  

Bratu · DIE GRENZEN STAATLICHER LEGITIMITÄT

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Bratu · Die Grenzen staatlicher Legitimität

Perspektiven der Analytischen Philosophie Neue Folge

Herausgegeben von Julian Nida-Rümelin und Ulla Wessels Begründet von Georg Meggle und Julian Nida-Rümelin

Christine Bratu

Die Grenzen staatlicher Legitimität Eine philosophische Untersuchung zum Verhältnis von Liberalismus und Perfektionismus

mentis MÜNSTER

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Meinen Eltern, Ioana und Codrut, ˆ ohne die nichts hiervon möglich gewesen wäre.

Inhaltsverzeichnis

1. 1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.1.3. 1.1.4. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.4. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung: Poliberia, Peliberia und Perfekta . . . . . .

11

Die Minimalanforderung an staatliche Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Freiheitsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriterien für eine angemessene Auffassung von Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine angemessene Auffassung von Handlungsfreiheit . . . . Freiheitseinschränkungen durch staatliche Handlungen? . . Der Zusammenhang von Freiheit und MA . . . . . . . . . . . . Das Autonomie-/Authentizitätsargument . . . . . . . . . . . . . Drei Auffassungen personaler Autonomie . . . . . . . . . . . . . Welche Auffassung von Autonomie ist angemessen? . . . . . Von Autonomie zu Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zusammenhang von Autonomie, Authentizität und MA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Autoritätsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein angemessenes Verständnis von Autorität . . . . . . . . . . . Autorität und das ergon des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zusammenhang von Autorität und MA . . . . . . . . . . . Erstes Teilfazit: Für die Minimalanforderung . . . . . . . . . . Die richtige Form der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . Der Perfektionismus und MA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personale vs. sachliche Rechtfertigung – Liberalismus vs. Perfektionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Notwendigkeit praktischer Relevanz . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Teilfazit: Gegen den Perfektionismus . . . . . . . . . .

21 24 27 30 37 39 44 46 58 62 76 79 80 86 88 91 97 98 99 106 111 113

8

Inhaltsverzeichnis

3.

Pluralismus gerechtfertigter Antworten und gerechtfertigter Dissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robuster Pluralismus, robuster Dissens . . . . . . . . . . . . . . . Zwei defiziente Arten, gerechtfertigten Dissens zu denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pluralismus I: Pfadabhängigkeit normativer und evaluativer Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pluralismus II: Inkommensurabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Einwände: Determinismus und die normative Kraft des Faktischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es einen Pluralismus gerechtfertigter Antworten? . . . Führt Pluralismus dazu, dass wir an unserer Position zweifeln müssen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Teilfazit: Für eine Kartographie des Raums der Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7. 3.8.

4. 4.1. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.3. 4.4. 4.4.1. 4.4.2. 4.5. 5. 5.1. 5.1.1. 5.1.2. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3.

Bruchlinien im Raum der Gründe – Politischer vs. perfektionistischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Asymmetriethese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was folgt aus der Asymmetriethese? Leben in und Theorie von Poliberia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was spricht für die Asymmetriethese? . . . . . . . . . . . . . . . . Was folgt aus der Authentizitätsthese? Leben in und Theorie von Peliberia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viertes Teilfazit: Gegen den politischen Liberalismus . . . . Das semantische Feld des Liberalismus . . . . . . . . . . . . Toleranz als Bestandteil des semantischen Felds des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine sinnvolle Explikation von Toleranz . . . . . . . . . . . . . . Liberale Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neutralität als Bestandteil des semantischen Felds des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzept und Konzeptionen staatlicher Neutralität . . . . . . Das übliche Vorgehen vs. Neutralität als derivative Eigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit und Rechtfertigungsneutralität vs. Chancengleichheit und Effektneutralität . . . . . . . . . . . . . .

119 120 123 128 137 141 144 149 154

157 159 165 167 170 176 188 188 189 204 209 210 211 215 216 217 222 224

Inhaltsverzeichnis

5.2.4. 5.3.

9

Liberale Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünftes Teilfazit: Toleranz und Neutralität als derivative Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228 232

Schlussbemerkung: Von Füchsen und Igeln . . . . . . . .

235

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Dieses Buch stellt eine leicht überarbeitete Version der Arbeit dar, mit der ich im Sommer 2011 im Fache Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert wurde. Ich möchte meinem Doktorvater Julian Nida-Rümelin für die Möglichkeit, diese Arbeit zu schreiben, herzlich danken, ebenso wie für die Betreuung und Unterstützung, die ich über die Jahre hinweg von ihm erhalten habe. Ebenso herzlich danke ich meiner Zweitgutachterin Elif Özmen, die es mir in zahlreichen Diskussionen ermöglicht hat, meinen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Für die zahllosen philosophischen Denkanstöße und lebensweltlichen Hilfestellungen, ohne die die erste Fassung dieses Buches kaum entstanden wäre, bin ich Mara-Daria Cojocaru zutiefst dankbar, für ihr aufmerksames Lektorat Gesa Koch-Weser und für den letzten Anstoß zur Veröffentlichung dieser Version Maximilian Muth.

Einleitung: Poliberia, Peliberia und Perfekta

Das Ziel dieser Untersuchung könnte man metaphorisch folgendermaßen auf den Punkt bringen: In welchem der folgenden drei Länder sollten wir leben? Welcher der folgenden Staaten stellt für uns die richtige politische Ordnung dar? Unsere Reise beginnt in Poliberia. Die normative Grundannahme dieses Gemeinwesens – d. h. die Basis, ausgehend von der die Legitimität des Staates in Poliberia bewertet wird – ist, dass der Staat keine Handlung vollziehen darf, die nicht vor all seinen Bürgerinnen und Bürgern gerechtfertigt ist. Mit dieser Grundannahme beziehen sich die Bürgerinnen und Bürger von Poliberia hauptsächlich auf die Gesetzgebung des Staates, denn das Erlassen von Gesetzen ist für sie die paradigmatische Handlung des Staates. Für die Bürgerschaft von Poliberia gilt also: Ein staatliches Gesetz muss vor allen Bürgerinnen und Bürgern von Poliberia gerechtfertigt sein, anderenfalls ist es illegitim. Kennzeichnend für Poliberia ist zudem, dass die Bürgerinnen und Bürger die Rechtfertigung, die sie von staatlichen Handlungen verlangen, in einem ganz bestimmten Sinne verstehen. So fordern sie nicht, dass jede Bürgerin immer unmittelbar einsehen muss, was für ein bestimmtes Gesetz spricht, und dass sich diese Einsicht in offen erklärter Zustimmung zu diesem Gesetz äußern muss. Diese Forderung wäre in den Augen von Poliberias Bürgerschaft überzogen. Denn ihrer Ansicht nach ist allseits bekannt, dass Menschen sich manchmal in der Abwägung der ihnen bewussten Erwägungen für und wider ein bestimmtes Gesetz irren – etwa weil sie wichtige Aspekte vergessen oder aufgrund emotionaler Erregung falsch gewichten; und ebenso ist bekannt, dass Menschen manchmal aus Sturheit oder Trotz nicht wahrhaftig Auskunft darüber geben, was für richtig zu halten sie sich eigentlich genötigt sehen. Stattdessen erachten die Bürgerinnen und Bürger von Poliberia ein Gesetz für gerechtfertigt und also legitim, wenn alle Bürgerinnen und Bürger erkennen könnten, dass dieses Gesetz gelten sollte, würden sie nur die Gründe, die ihnen bereits bekannt sind, vollständig und gemäß richtiger Schlussregeln abwägen. Die Bürgerinnen und Bürger von Poliberia fordern also, dass man sich bei der Beantwortung der Frage, ob ein Gesetz allgemein gerechtfertigt ist oder nicht, den epistemischen Standpunkt der Bürgerinnen und Bürger zu eigen macht. Deren epistemischer Standpunkt ist zwar leicht idealisiert, weil gefordert wird, dass die Bürgerinnen und Bürger die Gründe, über die sie verfügen, vollständig und gemäß richtiger Schlussregeln abwägen. Dennoch muss jede Rechtfertigung

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Einleitung: Poliberia, Peliberia und Perfekta

von den Gründen derer ihren Ausgang nehmen, vor welchen sie stattfinden soll. An dieser normativen Grundannahme halten die Bürgerinnen und Bürger von Poliberia fest, weil sie die Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass jede Person die Möglichkeit haben sollte, weitgehend in Freiheit zu leben, d. h. dass keine Person an Handlungen gehindert werden sollte, die sie eigentlich ausführen kann und die auszuführen sie Grund hat. Diese Grundnorm des wechselseitigen Miteinanders hat jeder Mensch zu beachten, aber vor allem muss sich der Staat im Umgang mit seinen Bürgerinnen und Bürgern an ihr orientieren. Und für Poliberias Bürgerschaft ist dies genau dann gewährleistet, wenn sich der Staat an die normative Grundannahme hält. Doch die Bürgerschaft von Poliberia eint noch etwas anderes als die genannte normative Grundannahme sowie deren Auslegung in puncto Rechtfertigung: Die Bürgerinnen und Bürger von Poliberia sind zudem davon überzeugt, dass es in vielen normativen Fragen gerechtfertigten Dissens gibt. D. h. sie sind davon überzeugt, dass zwei Personen auf eine normative oder evaluative Frage – wie etwa auf die nach dem guten Leben – unterschiedliche und sogar kontradiktorische Antworten geben können, ohne dass sich dabei eine von beiden irrt. Dass ich gerade die Frage nach dem guten Leben als Beispiel für eine umstrittene Frage wähle, ist dabei kein Zufall. Denn die Bürgerschaft von Poliberia glaubt, dass sich das Faktum des gerechtfertigten Dissenses thematisch lokalisieren lässt: Fragen darüber, was sich Menschen wechselseitig schulden und wie die staatliche Ordnung einzurichten ist, sind nicht gerechtfertigterweise umstritten. So kann man bspw. nicht bestreiten, dass alle Menschen die Möglichkeit haben sollten, ihr Leben frei zu gestalten, und dass der Staat ihnen diese Möglichkeit einräumen muss. Würde man dies leugnen, würde man ipso facto offenlegen, dass man unvernünftig ist. Aber Fragen danach, was an sich und damit insbesondere auch in der jeweils individuellen Lebensführung gut ist, können Schauplatz nicht vernünftig klärbaren Dissenses sein. Aus diesen zwei Annahmen – der wie dargestellt zu interpretierenden normativen Grundannahme und der Annahme über die thematische Ausdehnung gerechtfertigten Dissenses – folgt nun einiges für die politische Ausgestaltung des Staates Poliberia. So wird dieser Staat grundsätzlich keine Gesetze erlassen können, die sich auf Annahmen über die richtige individuelle Lebensführung beziehen. Denn solche Annahmen sind gerechtfertigterweise umstritten und ein Gesetz, das sich auf sie bezieht, wäre dies auch. Damit würde ein solches Gesetz gegen die normative Grundannahme von Poliberia verstoßen und wäre also illegitim. Der poliberianische Staat kann seinen Bürgerinnen und Bürgern also nicht legitimerweise vorschreiben, wie sie ihr eigenes Leben führen sollten. Nur zwei Erwägungen können in Poliberia dafür sprechen, die grundsätzlich geltende Freiheit der individuellen Lebens-