Die europäische Union und der deutsche Föderalismus AWS

Materie beschäftigt haben, sind in erster Linie Renate Mayntz, Fritz W. Scharpf, Rudolf. Hrbek, Edgar Grande, Markus Jachtenfuchs, Beate Kohler-Koch, ... Aufl., VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden; Stefan Marschall, 2011: Das politische. System Deutschlands, 2. Aufl., UTB-Verlag: Stuttgart. 2 Sabine Kropp ...
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Christoph Grützmacher

Die europäische Union und der deutsche Föderalismus Möglichkeiten und Grenzen der politischen Einflussnahme der Bundesländer am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns

Diplomica Verlag

Grützmacher, Christoph: Die europäische Union und der deutsche Föderalismus: Möglichkeiten und Grenzen der politischen Einflussnahme der Bundesländer am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns. Hamburg, Diplomica Verlag GmbH 2014 Buch-ISBN: 978-3-8428-9443-3 PDF-eBook-ISBN: 978-3-8428-4443-8 Druck/Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2014 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis………………………………………………………………………... 3 1. Einleitung…………………………………………………………………………………... 5 1.1 Vorgehensweise…………………………………………………………………………… 6 1.2 Forschungsstand…………………………………………………………………………… 7 2. Theorie der Politikverflechtung…………………………………………………………... 8 2.1 Entstehung, Leitideen und Herausforderungen…………………………………………… 8 2.2 Die Politikverflechtungstheorie – Entstehung und Relevanz……………………………..13 2.3 Folgen der Politikverflechtung für die deutschen Länder………………………………... 19 2.4 Kritik und Alternativen zur Politikverflechtungstheorie………………………………….24 2.5 Zwischenfazit…………………………………………………………………………….. 28 3. Das europäische Mehrebenensystem……………………………………………………. 31 3.1 Komponenten und institutionelle Besonderheiten……………………………………….. 31 3.2 Die Europäisierung des deutschen Beteiligungsföderalismus…………………………… 37 3.3 Zur Problematik der demokratischen Legitimation im Mehrebenensystem……………... 42 3.4 Zwischenfazit…………………………………………………………………………….. 51 4. Möglichkeiten und Grenzen der politischen Einflussnahme der Länder…………….. 53 4.1 Herausforderung Europa für den deutschen Föderalismus………………………………. 53 4.2 Möglichkeiten und Grenzen der politischen Einflussnahme der Länder………………… 56 4.2.1 Der „Europaartikel“……………………………………………………………………. 58 4.2.2 Das Subsidiaritätsprinzip………………………………………………………………. 61 4.2.3 Der Ausschuss der Regionen...………………………………………………………… 62 4.2.4 Interessenvertretungen der Länder in Brüssel………………………………………….. 64 4.2.5 Klagerecht……………………………………………………………………………… 65 4.3 Entwicklungen durch den Verfassungsvertrag von Lissabon……………………………. 67 4.4 Rechtsprechung des BVerfG zu den Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesrats………. 71 4.5 Zwischenfazit…………………………………………………………………………….. 73 5. Politische Mitwirkung in der Praxis am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns……... 76 5.1 Historische Entwicklung und Zuständigkeiten für europapolitische Themen…………… 76 5.2 Zum Stellenwert der Europapolitik in der Landesregierung……………………………... 80 5.3 Die EU-Ostseestrategie für den Ostseeraum und Mecklenburg-Vorpommern…………..85 5.4 Zwischenfazit…………………………………………………………………………….. 90 6. Schlussbetrachtung……………………………………………………………………..... 94 1

7. Literatur- und Quellennachweis………………………………………………………… 97 7.1 Monografien……………………………………………………………………………… 97 7.2 Internetquellen………………………………………………………………………….. 114

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Abkürzungsverzeichnis

AdR

-

Ausschuss der Regionen

AEUV

-

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Art.

-

Artikel

APuZ

-

Aus Politik und Zeitgeschichte

BLANO

-

Bund/Länder-Ausschuss Nord- und Ostsee

BMU

-

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

BRD

-

Bundesrepublik Deutschland

Bspw.

-

beispielsweise

bzw.

-

beziehungsweise

BVerfG

-

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

-

Bundesverfassungsgerichtsentscheidung

CBSS

-

Council of the Baltic Sea States

CDU

-

Christlich Demokratische Union

CSU

-

Christlich Soziale Union

EEA

-

Einheitlichen Europäischen Akte

EAG

-

Europarechtsanpassungsgesetz

EGKS

-

Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EG

-

Europäische Gemeinschaft

EGV

-

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

EMK

-

Euroministerkonferenz

EU

-

Europäische Union

EUV

-

Vertrag über die Europäische Union

EuGH

-

Europäischen Gerichtshof

EUZBBG

-

Gesetze über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union

EUZBLG

-

Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union

e.V.

-

Eingetragener Verein

EZB

-

Europäischer Zentralbank

GG

-

Grundgesetz

GOLT

-

Geschäftsordnung des Landtags

HELCOM

-

Helsinki-Kommission 3

IntVG

-

Integrationsverantwortungsgesetz

KMK

-

Kultusministerkonferenz

LV-MV

-

Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommerns

MPK

-

Ministerpräsidentenkonferenz

M-V

-

Mecklenburg-Vorpommern

NPD

-

Nationaldemokratische Partei Deutschlands

OMK

-

Offenen Methode der Koordinierung

RGRE

-

Rates der Gemeinden und Regionen Europas

SMAD

-

Sowjetische Militäradministration in Deutschland

SPD

-

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

StAG

-

Ständige Arbeitsgruppe

u.a.

-

unter anderem

US

-

United States (USA)

VVE

-

Vertrag über eine Verfassung für Europa

4

I. Einleitung

Zur Charakterisierung der Politik im deutschen Bundesstaat werden seit Ende der 1960er Jahre vor allem zwei Begriffe verwendet, die die Entwicklungstendenzen des bundesstaatlichen Ordnungsprinzips am ehesten beschreiben: Politikverflechtung und Föderalismus. Im Rahmen der Koordination und Kooperation der verschiedenen staatlichen Akteure ist ein komplexes Netzwerk von sich überschneidenden Zuständigkeiten, Koordinationsmustern sowie formellen und informellen Mitsprachebefugnissen entstanden. Politikverflechtung lässt sich vor diesem Hintergrund am ehesten als Reaktion darauf interpretieren, dass Probleme von den verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren nicht mehr isoliert voneinander betrachtet werden können. Die Anforderungen der Gesellschaft gegenüber der Politik sind quantitativ vielschichtiger und qualitativ anspruchsvoller geworden. Vor dem Hintergrund des voranschreitenden europäischen Integrationsprozesses stellt sich für die bundesdeutschen Länder die Frage, wie sie auf die Europapolitik des Bundes und auf die politischen Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden, Einfluss nehmen können. Im Mittelpunkt steht dabei stets die Intention, den durch den europäischen Integrationsprozess erlittenen Kompetenzverlust auszugleichen und möglichst das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre haben die deutschen Länder deshalb damit begonnen, sich stärker als europapolitische Akteure zu profilieren. Mittlerweile haben sich die Bundesländer zwar auf der europäischen Politikbühne etabliert, ihre europapolitische Einbindung hat aber die Frage aufgeworfen, ob sie mit ihren Aktivitäten nicht eher eine blockierende oder zumindest lähmende Wirkung auf die europäische Zusammenführung ausüben? Die Landesregierungen wenden dagegen ein, dass die Fortführung der europäischen Integration Verfassungsrang hat, dem man sich natürlich auch auf Länderebene verpflichtet fühlt. Zudem sei nichts dagegen einzuwenden, wenn jede Region ihre Interessen einbringt und sich um deren Beachtung und Durchsetzung bemüht. Das Verhalten aller Akteure auf europäischer Ebene sei ja letztendlich interessengeleitet. Trotz ihrer Bemühungen müssen die Länder eine wachsende Limitierung ihres eigenständigen Handlungs- und Gestaltungsspielraums hinnehmen, wobei die Landesparlamente in besonderer Weise betroffen sind. Der Umstand, dass der bundesdeutsche Föderalismus das zwischen Nationalstaat und Europäischer Union bestehende Zwei-Ebenen-System um eine dritte subnationale Ebene erweitert, und die Frage, welche Konsequenzen dies für die Beteiligungsmöglichkeiten der Länder am europäischen Entscheidungsprozess hat, liegen dieser

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Arbeit zugrunde. Beides soll anhand der vorliegenden Studie am Beispiel des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern aufgearbeitet werden.

1.1 Vorgehensweise

Nach einer kurzen Einleitung in die Thematik wird zunächst das theoretische Konstrukt der Politikverflechtung dargestellt und dessen konzeptionelle Unterschiede zu anderen Theorieansätzen der Föderalismusforschung beleuchtet, bevor die damit verbundenen Herausforderungen beschrieben und mögliche Lösungsansätze genannt werden. Im nächsten Schritt steht zunächst die Charakterisierung des europäischen Mehrebenensystems im Fokus des Interesses. Dabei wird den Fragen nachgegangen, welche wichtigen Komponenten und institutionellen Merkmale darin enthalten und welche Auswirkungen damit für die Politikgestaltung der deutschen Bundesländer verbunden sind. Nachdem die Besonderheiten des europäischen Mehrebenensystems dargestellt wurden, soll dann in einem weiteren Schritt untersucht werden, welche Konsequenzen damit für die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme der Länder auf den Entscheidungsprozess der Europäischen Union verbunden sind. Dazu werden die politischen Partizipationsmöglichkeiten der Bundesländer unter Beachtung aktueller Entwicklungen kurz skizziert und deren Wirkungsgrad einer kritischen Betrachtung unterworfen. Im letzten Abschnitt des Hauptteils der Studie sollen dann die bisher gewonnenen Erkenntnisse der Studie am konkreten Beispiel des Landes Mecklenburg-Vorpommerns und dessen Möglichkeiten und Grenzen zur Partizipation am europäischen Entscheidungsprozess aufgezeigt werden. Dabei ist vor allem von Interesse, welche konkreten Maßnahmen die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns bisher angewendet hat, um den politischen Entscheidungsprozess in ihrem Sinne zu beeinflussen. Anhand von anschaulichen Beispielen soll darüber hinaus eine Einschätzung der Relevanz europapolitischer Zusammenhänge für die Landespolitik Mecklenburg-Vorpommerns erfolgen. Im Schlussteil der Studie werden noch einmal die wichtigsten Ergebnisse der Darstellung rekapituliert und in einen Kontext gestellt, um so die zu Beginn aufgeworfene Fragestellung zu beantworten. Aufgrund der Komplexität der Studie werden zum Ende jedes Kapitels im Hauptteil der Thesis Zwischenfazits gezogen. Auf der Grundlage der gesammelten Erkenntnisse soll schließlich eine persönliche Bilanz gezogen werden.

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Folgende Leitfragen bilden das thematische Gerüst der Studie und sind gleichsam die Zielgrößen des Erkenntnisinteresses, das mit der vorliegenden Studie befriedigt werden soll: Was sind Mehrebenensysteme, welche Möglichkeiten und Gefahren bieten sie und welche Konsequenzen entstehen daraus für die Länder bezüglich ihrer Mitgestaltungskompetenzen am europäischen Entscheidungsprozess? Wie sind diese vor dem Hintergrund der europäischen Integration einzuordnen? Welche Bedeutung hat Europa in den deutschen Ländern und wie ist es um deren „Europafähigkeit“ bestellt?

1.2 Forschungsstand

Zur Thematik der Politikverflechtung in Mehrebenensystemen bietet sich mittlerweile eine reichhaltige Quellenlage. Hinsichtlich der deutschen Autoren, die sich bisher mit dieser Materie beschäftigt haben, sind in erster Linie Renate Mayntz, Fritz W. Scharpf, Rudolf Hrbek, Edgar Grande, Markus Jachtenfuchs, Beate Kohler-Koch, Gerhard Lehmbruch und Arthur Benz zu nennen. Des Weiteren ist auch auf die Arbeiten von Gary Marks, Liesbet Hooghe oder Kermit Blank hinzuweisen, die ebenfalls wichtige Beiträge zum europäischen Mehrebenensystem und dessen Auswirkungen auf den europäischen Integrationsprozess geleistet haben. Weitaus geringer ist die Anzahl an Studien, die sich mit den konkreten Auswirkungen der Mehrebenenverflechtung für die Bundesländer auseinandersetzen. Zu nennen ist hier vor allem die Dissertationsschrift von Roland Johne „Die deutschen Landtage im Entscheidungsprozess

der

Europäischen

Union.

Parlamentarische

Mitwirkung

im

europäischen

Mehrebenensystem“, die im Jahr 2000 erschienen ist. Des Weiteren ist auch die etwas aktuellere Habilitationsschrift von Friedhelm Baltes Meyer zu Natrup von Bedeutung, die erstmals 2008 unter dem Titel „Europapolitik und Europafähigkeit deutscher Länder: das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern“ veröffentlicht wurde. Zudem sind einige Autoren wie Jürgen Dieringer, Roland Sturm, Sabine Kropp oder Herbert Schneider zu nennen, die sich in ihren Arbeiten mit dem Phänomen der Politikverflechtung und dessen Implikationen für den deutschen Föderalismus auseinandergesetzt haben. Darüber hinaus existieren zahlreiche Veröffentlichungen wissenschaftlicher Institutionen, darunter unter anderem das Europäische Zentrum für Föderalismus-Forschung an der Universität Tübingen oder das Deutsche Institut für Föderalismusforschung e.V., die für die Arbeit an der vorliegenden Studie heranzuziehen waren. 7

2. Theorie der Politikverflechtung 2.1 Entstehung, Leitideen und Herausforderungen Die Bundesrepublik Deutschland ist ein föderal verfasster Staat.1 Von zentralistisch organisierten Staaten unterscheidet sie vor allem, dass die politische Macht der Parlamentsmehrheit und der aus ihr hervorgehenden Regierung durch vielfältige Abstimmungszwänge und Vetomöglichkeiten beschränkt ist.2 Die Leitideen des Föderalismus, nämlich die Wahrung größtmöglicher Autonomie auch für kleinste gesellschaftliche Gebilde sowie die Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, tragen dem Verlangen der Menschen Rechnung, in die politische Entscheidungsfindung der Gemeinschaft einbezogen zu werden. Der föderale Aufbau des deutschen politischen Systems lässt sich zunächst dadurch charakterisieren, dass es sich dabei um eine Republik handelt, deren Gebilde aus einem Zusammenschluss einzelner Länder besteht, in dem der Bund den übergeordneten Zentralstaat und die Länder die Gliedstaaten bilden.3 Sowohl der Zentral- als auch die Gliedstaaten verfügen dabei über bestimmte Merkmale, die ihre Staatsqualität unterstreichen und die sie von einem zentralistisch organisiertem Einheitsstaat unterscheiden: Bund wie Länder besitzen eine originäre Verfassung, eigene Verfassungsinstitutionen (Parlamente, Regierungen und Gerichte), eigene Amtsträger, jeweils eigene Zuständigkeiten sowie ein gewisses Maß an finanzieller Eigenverantwortung.4 Die Gliedstaaten verfügen zudem im Bundesrat über weitreichende Möglichkeiten, die Politik des Bundes über die Beteiligung an bestimmten Gesetzgebungsverfahren aktiv mitzugestalten, während der Bund unter Einbeziehung der Länder den rechtlichen und finanziellen Rahmen für eine Politik setzt, die dem Grundsatz des Ausgleichs und der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse verpflichtet ist.5 Daraus resultiert ein vergleichsweiser hoher Autonomiegrad der Länder, der jedoch in bestimmten Bereichen durch die unmittelbare Hoheitsgewalt des Bundes eingeschränkt werden kann. Zudem bildet das Grundgesetz einen festen, übergeordneten Handlungsrahmen, der der staatlichen Vielfalt ein gewisses Maß an Einheitlichkeit gegenüber stellt. So ist die staatliche Aufgabenverteilung zwar in der Bundesverfassung geregelt, aber nicht in Stein gemeißelt. Das heißt, dass die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, wenn ge1

Ausführlich zum politischen System Deutschlands siehe [u.a.]: Wolfgang Rudzio, 2006: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl., VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden; Manfred G. Schmidt, 2011: Das politische System Deutschlands: Institutionen, Willensbildung und Politikfelder, Verlag C.H. Beck: München; Klaus von Beyme, 2011: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland: Eine Einführung, 11. Aufl., VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden; Stefan Marschall, 2011: Das politische System Deutschlands, 2. Aufl., UTB-Verlag: Stuttgart. 2 Sabine Kropp, 2010: Kooperativer Föderalismus und Politikverflechtung, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, S. 15ff. 3 Ursula Münch, 2008: Charakteristika des Föderalismus, in: Föderalismus in Deutschland, Informationen zur Politischen Bildung, 298, S. 3ff. 4 Ebd. 5 Sabine Kropp, 2010: S.15.

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wünscht, stets neu verhandelt werden kann.6 Die Grundintention des deutschen Föderalismus basiert demzufolge nicht auf der Trennung der Ebenen, sondern hat einen verbindenden Charakter, dem ein Auftrag zur Kooperation inne wohnt.7 Kritiker des deutschen Föderalismus verweisen auf dessen vermeintliche Intransparenz und unterstellen ihm eine besondere Anfälligkeit für Demokratiedefizite.8 Er sei zudem schwerfällig, weil er ineffiziente Verfahren entwickelt habe und deshalb mit bedenklicher Regelmäßigkeit notwendige politische Reformen ver- oder wenigstens behindere. Das in Deutschland etablierte Verbundsystem zwischen den politischen Ebenen gilt seinen Gegnern folglich als Grundübel, welches die Entscheidungsfähigkeit und die Demokratiequalität des deutschen Staates in erheblichen Umfang schwächt und damit maßgeblich für dessen eingeschränkte Reformfähigkeit verantwortlich ist. Zutreffend ist zunächst sicherlich, dass der Föderalismus stets maßgeblich vom Spannungsfeld der Beziehungen zwischen Bund und den Gliedstaaten geprägt ist. Daher kann es zu Pendelbewegungen zwischen den entgegengesetzten Trends zur Zentralisierung oder zur Dezentralisierung kommen. Unstrittig dürfte ebenso sein, dass föderalistisch verfasste Staaten schon aufgrund des existierenden Mehrebenensystems9 (EU, Bund, Länder, Gemeinden) einen höheren Koordinationsaufwand als beispielsweise Einheitsstaaten aufweisen, in denen die Staatsgewalt zentralistisch ausgeübt und allenfalls um die europäische Supraebene erweitert wird. Politikverflechtung10 bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Entscheidungsfunktionen nicht getrennt voneinander wahrgenommen, sondern vielmehr in gemeinsamer Regie der Handlungseinheiten des Mehrebenensystems ausgeübt werden.11 Im deutschen Föderalismus ist dabei die Verflechtung zwischen den föderalen politisch-administrativen Institutionen EU, Bund, Länder und Gemeinden mittlerweile besonders stark ausgeprägt. Die Gründe dafür, dass sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Föderalismus als Organisationsprinzip durchsetzte, sind in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu

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Ursula Münch, 2008: 4. Sabine Kropp, 2010: S.15. 8 Ausführlich zur Föderalismuskritik siehe [u.a.]: Fritz W. Scharpf, 1999: Föderale Politikverflechtung: Was muss man ertragen? Was kann ertragen?, in: Konrad Morath (Hrsg.), Reform des Föderalismus. Beiträge zu einer gemeinsamen Tagung von Frankfurter Institut und Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Frankfurter Institut: Bad Homburg, S. 23-36. 9 „Mehrebenen-Verflechtung“ ist, gemäß einer Definition von Rainer-Olaf Schultze, ein „[…] politikwissenschaftlicher Fachterminus für mehrfach vermittelte, verschachtelte Interaktionsmuster und Entscheidungssituationen von individuellen und/oder kollektiven Akteuren bzw. Institutionen deren Handlungsweise darüber hinaus durch verschiedene Politikstile und Entscheidungsmodi, intraorganisatorisch durch autoritativ-hierarchisches Entscheiden, interorganisatorisch durch konsensuales Verhandlungssystem-Entscheiden, bestimmt sein können.“ Zitiert aus: Rainer-Olaf Schultze, 1998: „Mehrebenen-Verflechtung“, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze/Susanne S. Schüttemeyer (Hrsg.), 1998: Politische Begriffe. Lexikon der Politik, Bd. 7, Verlag C.H. Beck: München, S. 375, nach: Werner Reutter, 2008: Föderalismus, Parlamentarismus und Demokratie, UTB-Verlag: Opladen, S. 311-312. 10 Der Begriff wurde vom deutschen Rechts- und Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf geprägt, der unter anderem als langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln tätig war und zahlreiche Publikationen zu dieser Thematik publiziert hat. Er steht für eine gemeinsame Planung und Finanzierung politischer Programme in Verhandlungssystemen unter notwendiger Berücksichtigung verschiedener Systemebenen. Siehe [u.a.]: Fritz W. Scharpf (Hrsg.), 1976: Politikverflechtung. Band 1 - Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Sciptor Verlag: Kronberg. 11 Sabine Kropp, 2010: S.15. 7

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suchen.12 Nach der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands im Mai 1945 ging es den westlichen Siegermächten vor allem darum, in der Bundesrepublik ein politisches System zu etablieren, das einer erneuten Machtkonzentration in einer Person von vornherein einen Riegel vorschieben würde.13 Die Vorgabe lautete daher, einen föderalen Bundesstaat zu schaffen, der eine Mehrebenenstruktur aufwies und die politische Macht auf mehrere Schultern verteilte. Auch deshalb plädierten vor allem die Regierungschefs der Länder für politikverflochtene Strukturen, die unter anderem eine geteilte Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern implizierten. Diese sollte auf Bundesebene zuvorderst durch die Einführung eines Zwei-Kammer-System (Bundestag, Bundesrat) erreicht werden, welches die Gesetzgebung und den Gesetzvollzug auf Bund und Länder übertragen sollte. Von dieser Konstruktion unangetastet blieben die Strukturprinzipien der Menschenwürde (Art. 1 GG), der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, das Bundesstaatsprinzip und das Sozialstaatsprinzip.14 Vor allem in letzterem liegt die Wurzel für den unitarischen Charakter des deutschen Föderalismus. So verknüpft das deutsche Grundgesetz in Art. 20 und 28 GG das Selbstverständnis der Bundesrepublik als einer Demokratie,15 eines Bundes- und eines Rechtsstaates ausdrücklich mit dem Begriff des Sozialen.16 Der im demokratischen Grundverständnis verankerte Anspruch auf Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess wurde dadurch um den Auftrag erweitert, ungleiche Teilhabechancen abzufedern. Nach anfänglicher Orientierungslosigkeit aufgrund der Abstraktheit des Begriffs wurde das Postulat der „Sozialstaatlichkeit“ durch mehrere Urteile auf höchstrichterlicher Ebene stetig konkretisiert, weiterentwickelt und an die gegebenen gesellschaftlichen Zustände angepasst. Obwohl die Teilnehmer des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee (1948) nicht die Schaffung eines Übergewichts des Bundes im Bereich der Gesetzgebung beabsichtigten, sondern vielmehr darauf abzielten, die Gesetzgebungskompetenzen paritätisch zwischen den Ebenen zu verteilen, setzte sich auf der Gesetzgebungsebene sehr bald das Bedürfnis durch, einheitliche Lebensverhältnisse zu schaffen und länderspezifische Regelungen zu begrenzen.17 In der Folge gelang es dem Bund im Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung nahezu alle Kompetenzen an sich zu ziehen,18 auch wenn das von einigen Landespolitikern

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Zu den historischen Grundlagen des politischen Systems der BRD siehe [u.a.]: Wolfgang Rudzio, 2006: S. 11ff. Sabine Kropp, 2010: S. 16ff. 14 Beim Sozialstaatsprinzip handelt es sich um ein Postulat, um eine Absichtserklärung, die nicht einklagbar ist. Es legt fest, dass die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Staat ist. Die konkrete Ausgestaltung dieser Vorgabe obliegt indessen der Politik. 15 Artikel 20 bildet, zusammen mit dem Auftrag an die Länder, in ihrer Ordnung dem Prinzip des „sozialen Rechtsstaats“ zu folgen (Art. 28 GG), die verfassungsrechtliche Grundlage des Sozialstaatsprinzips. Dieses Prinzip genießt wie die Grund- und Menschenrechte den Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG (Ewigkeitsklausel) und kann daher nicht abgeschafft werden. 16 Sabine Kropp, 2010: S. 17f. 17 Ausführlich zu den Grundlagen der Bundesrepublik siehe [u.a.]: Thomas Brechenmacher, 2010: Die Bonner Republik. Politisches System und innere Entwicklung der Bundesrepublik, Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, Bd. 13, bebra-Verlag: Berlin-Brandenburg, S. 27-54. 18 Sabine Kropp, 2010: S. 18f. 13

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