die blauen bücher

Bildfolge und Gegenüberstellung. 193. Nationale Identität. 200. Ausblick und Entwicklung. 214. Verlagsentwicklung in den 1920er Jahren. 214. Schlagschatten.
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DIE BLAUEN BÜCHER

Die vorliegende Arbeit ist Sandra Varotto und Barbara Fritze gewidmet. Ohne die aufopferungsvolle Sorge der ersten Generation um die dritte wäre es der zweiten niemals möglich gewesen, sie zu verfassen. Questo lavoro é dedicato a Barbara Fritze e a Sandra Varotto. Senza l’altruismo incondizionato della prima generazione per la terza, sarebbe stato impensabile per la seconda produrre questo lavoro.

Britta Fritze

DIE BLAUEN BÜCHER Eine nationale Architekturbiographie ?

Lukas Verlag

© by Lukas Verlag Erstausgabe, 1. Auflage 2014 Zugl.: Dissertation, Technische Universität Darmstadt, 2012 (Hochschulkennziffer D 17) Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 D–10405 Berlin www.lukasverlag.com Layout, Umschlag und Satz: Lukas Verlag Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Fotografie von Britta Fritze Druck: Elbe Druckerei Wittenberg Printed in Germany ISBN 978–3–86732–181–5

Inhalt

Einleitung 7

Karl Robert Langewiesches Biographie 12 Geschichte des Verlages 20 Forschungsgrundlage 28 Zeitgeschichtlicher Kontext 35

Bildreproduktion und Bildrezeption Die Kulturverleger

36 39

Der Freundeskreis 46

Der Geschäftsmann. Karl Robert Langewiesche Die Ethiker. Paul Rohrbach und Friedrich Naumann Der Erfolgsautor. Wilhelm Pinder

53 58 70

Generierung der Blauen Bücher 81

Grenzen deutscher Baukunst Wahl der Titel. Einblicke 1911–15 Wahl des Bildmaterials Produktion und Vertrieb

82 89 98 109

Identität als Schöpfung 121

Dominante Bildtypen in den Blauen Büchern Dominante Bildaussagen Dominante Textaussagen Bildfolge und Gegenüberstellung Nationale Identität

123 138 171 193 200

Ausblick und Entwicklung 214

Verlagsentwicklung in den 1920er Jahren 214 Schlagschatten 217 Zusammenfassung 224

Dank 232 Literatur 234

EINLEITUNG

»Die Blauen Bücher« – das ist die Bezeichnung für eine im Verlag Karl Robert Langewiesche erscheinende Bildbandreihe, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht und, neben Malerei und Plastik, Architektur zum Thema hat. »Deutsche Dome«, »Deutscher Barock«, »Deutsche Burgen und feste Schlösser«, so und ähnlich lauten die Titel. Ihre nationale Setzung macht diese Bände zu einem wichtigen zeitgeschichtlichen Dokument bei der Erforschung des auch kulturell föderalen Hybrids Deutschland. Jeder der Titel erlangt immens hohe Auflagenzahlen, und »Die Blauen Bücher« sind nicht nur vielen Deutschen noch heute ein Begriff. Die vorliegende Forschungsarbeit beschränkt sich auf eine Gruppe von Publikationen, die zwischen 1910 und 1924 erscheint, und damit auf eine Zeitspanne von nicht einmal fünfzehn Jahren. In diesem Publikationszeitraum gewinnt die Architektur zunehmende Bedeutung als Leitmedium kultureller Identität. Die Erforschung der Blauen Bücher legt Interferenzen zu einer Reihe geistesgeschichtlicher Entwicklungen frei, deren Relevanz für die Konsolidierung unserer heutigen Kultur in Anbetracht ihrer zeiträumlichen Kompression überrascht. Welche Entwicklungen das sind, darüber sollen diese einleitenden Seiten einen kurzen Überblick geben; auf die jeweiligen Kapitel wird verwiesen. Zunächst ist die Profilierung der noch jungen Disziplin Kunstgeschichte zu nennen. Im Jahr 1869 wird an der Vorgängerinstitution der Technischen Universität Darmstadt, der »Polytechnischen Hochschule«, erstmals ein Lehrstuhl für Kunstgeschichte eingerichtet. Von Beginn an ist er der Architekturfakultät angegliedert – ein Alleinstellungsmerkmal Darmstadts im Gegensatz zu anderen Universitäten, wo die Kunstgeschichte der Philosophie oder den Geschichtswissenschaften zugeordnet ist. Daher werden selbst maßgebliche Kunsthistoriker wie beispielsweise Heinrich Wölfflin im Fach Philosophie promoviert.1 Um die Jahrhundertwende dokumentiert die zunehmende Emanzipation von den Geisteswissenschaften und die Hinwendung zu einem ganz neuen Wissenschaftszweig, der Psychologie, das Bestreben der Kunstgeschichte, gleich der Physik als eine objektive Wissenschaft anerkannt zu werden.2 Der Wunsch, eine »Entwicklungsgeschichte der Phantasie«3 zum Forschungsschwerpunkt zu machen, prägt neue Begriffe wie jenen der »Völkerpsychologie«. Ein Satz aus den Blauen Büchern artikuliert die zugrundeliegende Auffassung prägnant:

1

Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, Dissertation im Fach Philosophie, Basel 1886. 2 »In seiner Dissertation ›Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur‹ von 1886 […] griff er [Wölfflin, fr] auf damals moderne psychologische Literatur zurück und übernahm daraus das Apriori des körperlichen Miterlebens, den Begriff ›Einfühlung‹: Die Kunsterfahrung entspreche dem körperlichen Empfinden, das Wahrnehmen der Architektur also dem Wahrnehmen des eigenen Körpers.« Nikolaus Meier: Heinrich Wölfflin (1864–1945), in: Dilly 1990, S. 65. 3 Wundt 1900–1910, Dritter Band – Die Kunst, S. 111.

Einleitung

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Wir dürfen nie – und hier zuallerletzt – die Bauwerke als so oder so geformte Materie sehen: sie sind Niederschläge bestimmter und großartiger geistiger Träume, bestimmter Phantasiebewegungen aus einem Volke heraus, aus einer Zeit heraus.4

Gestützt wird der Fortschritt auf dem Gebiet der Kunstgeschichte durch eine Reihe technischer Innovationen. Dazu gehört Ende des 19. Jahrhunderts die sprunghafte Verbreitung der Doppelprojektion in kunstgeschichtlichen Seminaren, die ein neues Sehen evoziert. Zeitgleich und nicht zuletzt diesem neuen Bedarf an fotografischem Material geschuldet entstehen Bildkonvolute, die den Denkmalbestand systematisch zu erfassen versuchen. Gewaltige Bildarchive wie das »Bildarchiv Foto Marburg« oder die »Preußische Messbildanstalt Berlin« dokumentieren die Zuversicht, der Vergänglichkeit Einhalt gebieten und den Bauwerken ihre überzeitliche Gültigkeit sichern zu können. Über das Medium der Fotografie können die Kunstwerke jetzt losgelöst von ihrem zeitlichen und räumlichen Kontext parallel betrachtet und verglichen werden, revolutionär gerade für die Anschauung von Architektur als einer ortsgebundenen Kunst. Zudem stellt man fest, dass sich das Gedächtnis die Reproduktionen leichter und dauerhafter aneignet als die Originale.5 Die Bilder werden zum Erinnerungsträger und stillen damit noch ein ganz anderes Bedürfnis – das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Die 1870 gegründete Nation war ein »von oben« geschaffenes Kunstprodukt ohne einheitliche Tradition. Auch die deutsche Sprache als zentrales Element der Kulturnation war fragwürdig, existierte eine gemeinsame Sprache ja erst seit knapp einem Jahrhundert. Ein weiteres Problem für das nationale Selbstbewußtsein der Deutschen war das seit der Reformation gespaltene Kunstschaffen, das somit keine einheitliche Kunsttradition bot. Einen Ausweg sah man deshalb in der Hinwendung zum Mittelalter, als diese Trennung noch nicht bestand und im Überbau mit der Nationsidee.6

Der mit der Industrialisierung einhergehende gesellschaftliche Umbruch weckt um die Jahrhundertwende zur »Kompensation des Vertrautheitsschwundes« ein Bedürfnis nach »Erinnerungsfixpunkten«.7 Die in den Blauen Büchern publizierten Bilder legen einen Kanon an, an den sich die »kollektive Erinnerung«8 anlagern kann. Die Popularität der Reihe vermehrt das Trachten nach Zugehörigkeit. Leser beklagen in Briefen an den Verleger wiederholt, dass »ihr« Bauwerk keine Aufnahme gefunden hätte. Am deutlichsten reagiert Karl Robert Langewiesche darauf in dem Vorwort zu dem 1921 erscheinenden Band »Tore, Türme und Brunnen«:

4 Pinder 1912, S. 7. 5 »Denn die makellos immateriellen Reproduktionen bleiben, wie Herman Grimm bereits 1893 feststellte, besser im Gedächtnis haften als die Originale. Sie sind auch dann noch präsent, wenn man nach den Tagträumen im akademischen Hörsaal ins Nordlicht der Museen, ins Dämmer- und Zwielicht der Kirchen und ins strahlende der Schlösser tritt.« Dilly 1995, S. 42. 6 Belting 1992, S. 10. 7 Will 2000, S. 113. 8 Der Begriff »mémoire collective« wird in den 1920er Jahren von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs entwickelt; vgl. Halbwachs 1925.

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Einleitung

Irgendeine Vollständigkeit zu erreichen, kann an sich nicht Absicht eines solchen Bandes sein, und insbesondere die Liebe zur engeren Heimat wird immer das Fehlen des einen oder anderen heimischen Objektes zu tadeln haben, weil sie seine Bedeutung und Einzigartigkeit zu überschätzen geneigt sein wird.9

Die Bildbände werden von Menschen publiziert, die den rasanten Wandel der Verhältnisse bewusst durchlebt haben. Ihre Lebenserfahrung wird anschaulich durch die Ausführungen Eugen Diesels geschildert, der in dem Vorwort zu dem 1931 erscheinenden Blauen Buch »Das Werk. Technische Lichtbildstudien« schreibt: Die Werkstatt hing nicht mir Büros, Börsen und ungeheuren Kollektiven von Menschen zusammen, sondern mit der Einzelzelle der damaligen Arbeit, nämlich mit dem Haushalt und der Familie. So fand sich alles immer wieder zu einfacheren menschlichen Zusammenhängen ohne mechanische und organisierte Zwischenschaltung zurück, und dieser Zustand prägte die alten Häuser, Städte, Verkehrswege, Kunstwerke. Hierauf beruht der unsagbare Reiz, den die vergangene Welt auf uns ausübt, die wir in einen ganz neuartigen Schicksalsraum hineingeschoben wurden.10

Gerade ihre zeitgeschichtliche Position macht die Blauen Bücher somit zu einem aufschlussreichen Dokument, denn in ihnen ist ein ganz besonderer Moment gebannt, der sich folgendermaßen beschreiben lässt: Wir erleben einen Augenblick des Übergangs, da das Bewußtsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einhergeht mit dem Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses, zugleich aber ein Augenblick, da dies Abreißen noch soviel Gedächtnis freisetzt, dass sich die Frage nach dessen Verkörperung stellen lässt.11

Die Blauen Bücher vermitteln uns ein Bild davon, was ihre Produzenten auf dem Gebiet der Architektur für die Verkörperung des nationalen Gedächtnisses halten. Die Auswahl aufzunehmender Bauwerke und Fotografien erfolgt individuell, allenfalls diskursiv zwischen Autor und Verleger. Das bedingt die Sorgfalt, mit der die Protagonisten in dieser Arbeit betrachtet werden. Die systematische Erforschung bislang unveröffentlichten Quellenmaterials, namentlich des Schriftverkehrs zwischen Verleger und ausgewählter Autoren, ermöglicht den ungefilterten Blick auf die Charaktere. Ihre Urteilsfähigkeit bestimmt die Qualität und Gültigkeit des angelegten Kanons. Sie vertreten eine Generation, die mit der Entwicklung der Massenkommunikation große Hoffnungen verknüpft. Die Bevölkerung ist weitgehend alphabetisiert, und eine ausgereifte Drucktechnik ermöglicht die wirtschaftliche Reproduktion von Bild und Text. Die weitgehend zensurfreie Kommunikation, zu der alle gesellschaftlichen Schichten Zugang haben, weckt die Erwartung, »mit der wissenschaftlich angeleiteten öffentlichen Meinung stelle sich politische Vernunft ein und befördere die freiheitliche Selbstorganisation der Gesellschaft und die beste Verfassung des Staates«.12 Kulturverleger bestimmen die Verlagslandschaft, 9 10 11 12

Langewiesche 1921, S. 3. Dr. Eugen Diesel, in: Langewiesche 1931a, S. 7. Nora 1990, S. 11. Hübinger 2008, S. 28.

Einleitung

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die Volksbildungsbewegung entsteht, und zahlreiche Arbeiterbildungsvereine werden gegründet. Überraschend klar zeichnet sich die prägende Kraft des Protestantismus auf das geistige Leben in Deutschland ab, dessen Milieu der Verleger zuzurechnen ist. Protestantisches »Gedankenmaterial«13 liefert Ende des 18. Jahrhunderts die Grundlage für den deutschen Idealismus und den kategorischen Imperativ Immanuel Kants. Auch der politische Liberalismus zu Beginn des 20.  Jahrhunderts ist, nicht zuletzt personell, eng an das protestantische Intellektuellenmilieu gebunden. Die Reihe der Blauen Bücher beschränkt sich nicht auf die bereits erwähnten Bildbände, sondern begleitend erscheinen auch Textbände mit politischen und ethischen Schwerpunkten. Eine kleine Auswahl bildet in dieser Forschungsarbeit die Folie, vor der sich die mit den Bildbänden verfolgte Strategie abzeichnet. Die kompakte Profilierung der hier angesprochenen Zusammenhänge bildet den historischen Bezugsraum, vor dem der Schöpfungsakt eines nationalen, architektonischen Selbstbildes betrachtet wird. Die Schlüsselposition kommt der Auswahl an Themen und Einzelbeispielen zu, der Selektion relevanter Orte, Bauten und Räume durch die Produzenten. Die Fotografien von den Objekten werden durch Ausschnitt und Retusche zu eigenständigen Originalen. Erst die Virtuosität, mit der sie gewählt, bearbeitet und arrangiert werden erzeugt die bemerkenswerte Durchgängigkeit der Reihe, und so kennzeichnet die Blauen Bücher eine klare, nahezu porträthafte Wirkung vieler Architekturfotografien. Den eigentlichen Kern der Arbeit bildet das Kapitel »Identität als Schöpfung«, welches sich unmittelbar mit den Fotografien befasst. Einzelne, besonders auffällige oder gehäuft auftretende Bildtypen des angelegten Kanons werden hier beispielhaft analysiert. Die Untersuchung wird auf drei Gliederungsebenen durchgeführt, einer bildlichen, einer thematischen und einer intentionalen Ebene. Allen voran die thematischen Ausführungen verbalisieren den speziellen Blick des Architekten. In einer einzigen Fotografie sind für ihn eine Vielzahl von Aussagen verdichtet, zunächst ganz unabhängig von der Historizität und der individuellen Biographie des darauf abgebildeten Gebäudes. Die Fragen, die er sich bei der Betrachtung stellt, können lauten: Welche Art von Bauwerk ist abgebildet, welche Funktion muss es erfüllen? Welche Raumqualitäten bietet es? Wie ist es strukturell erschlossen, gegründet, konstruiert? Wie reagiert es auf die Landschaft, wie ist es in seinem Umfeld positioniert, wie definiert es den Außenraum? Welche Fernwirkung erzielt es? Welche Materialien sind verwendet, sind sie regionaltypisch, alterungsfähig, von haptischer Qualität? Welche emotionale Wirkung, welche Atmosphäre wird vermittelt? Die Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen fällt umso leichter, je klarer die architektonische Aussage des abgebildeten Objekts zutage tritt, mit anderen Worten: ein hoher Abstraktionsgrad befördert die überzeitliche Wirkung der Fotografie und überhöht das Einzelbauwerk zum Typus. Genau das liefern die Abbildungen in den untersuchten Architekturbildbänden, und hier liegt das spezielle Interesse des Architekten an der 13 »Weiter hat der deutsche Protestantismus damit den Grund zum Aufbau unserer heutigen Innenwelt durch die deutsche idealistische Philosophie vorbereitet, die mit protestantischem Gedankenmaterial die Absolutheit des Sittlichen, den kategorischen Imperativ, begründete.« Rohrbach 1912, S. 123.

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Einleitung

Reihe der Blauen Bücher begründet. Schöpferische Architektur ist auf die Kenntnis ihrer eigenen Historizität, auf Archetypen und Prototypen angewiesen. Der Fundus, aus dem Architekten in Deutschland sich zu schöpfen erlauben, scheint jedoch überproportional begrenzt. Auslöser dieser Selbstzensur könnten mehrere Faktoren sein: Die Architekten der Avantgarde lehnten jede Form von Erinnerungsbezug ab und propagierten das »Vergessen als Bedingung für die Moderne«, einen von Historismus und Gründerzeit unbelasteten Neuanfang.14

Diese traditionsfeindliche Haltung einer Avantgarde der 1920er Jahre kulminiert in dem Schamgefühl der Nachkriegsgeneration: Hinter der Ausdrucksverweigerung der deutschen Nachkriegsarchitektur steht eine Art von Identitätsverweigerung, die wiederum mit einer Abkehr von der Geschichte zusammenhängt. […] Der Zusammenhang von Geschichte und nationaler Identität ist offenkundig, und ebenso klar ist, dass die Deutschen ihre Geschichte in ganz besonderer Weise als eine schwere Last empfanden. Diese Jahre standen im Zeichen der Scham und nicht der Schuld.15

Als dritter Faktor wirkt die Diskreditierung spezifisch nationaler Architektur durch ihre Instrumentalisierung für die Ideologie des Nationalsozialismus bis heute nach. An dieser Schnittstelle liegt die Motivation zu der vorliegenden Arbeit. Die Beweggründe sind keineswegs revisionistisch, vielmehr indiziert die über die Titel der Blauen Bücher verheißene »Entdeckungsreise in die eigene architektonische Vergangenheit« das vorrangige Bedürfnis, die Selbstzensur des entwerfenden Architekten auf seiner Suche nach Archetypen und Prototypen in Frage zu stellen. Die Zerstörung der physischen Existenz deutscher Städte und die traumatisch bedingte Abkehr von einer Architekturlehre, die »nationale« historische Typen tradiert, hat unsere Kenntnis speziell jener Architektur abreißen lassen, die über ihren Alterswert eine geschichtliche Dimension und damit prägenden Einfluss auf unsere Identität hat. Die vorurteilsfreie Betrachtung eines zeitgeschichtlichen Dokuments, das uns bei der Kultivierung des historischen Bruchs als Wegweiser dienen kann, scheint an der Zeit: die der Blauen Bücher des Verlags Karl Robert Langewiesche.

14 Wohlleben 2000, S. 13. 15 Assmann 2009, S. 19.

Einleitung

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Karl Robert Langewiesches Biographie Karl Robert Langewiesche stammt aus einer Verleger- und Buchhändlerfamilie. Er wird 1874 als jüngster Sohn des Buchhändlers Wilhelm-Robert Langewiesche in Rheydt bei Düsseldorf (heute Mönchengladbach) geboren. Zu seinem älteren Bruder Wilhelm hat er eine sehr enge Beziehung. Die Liebe zu Büchern lässt sich über vier Generationen nachweisen. Den »Erinnerungen«, die 1919 erscheinen, stellt Karl Robert Langewiesche folgende Widmung voran: Dem Andenken meines Urgroßvaters Johann Arnold Langewiesche, geboren und gestorben auf dem Schultenhof Möllenkotten im Bergischen Lande, seien diese Blätter gewidmet. Er war der letzte meiner Vorfahren, der den angestammten Acker noch selbst bebaute, zugleich der erste, in dessen Leben die Bücher ein Wesentliches bedeuteten. Mir war er Vorbild, seit ich von ihm weiß.16

Der Sohn Johann Arnolds, Wilhelm, ist das jüngste von vierzehn Kindern und der Großvater Karl Roberts. Er wird der erste Buchhändler und Verleger der Familie. Die Nachbarstädte Elberfeld und Barmen […] waren der kulturelle Mittelpunkt des schönen und wohlhabenden bergischen Landes […]. Die Fabrikanten und Kaufleute des Wuppertales, die den ganzen langen Tag arbeiteten und rechneten und mit der halben Welt Geschäfte machten, suchten ein erhebendes Gegengewicht mit Vorliebe bei zwei verwandten Mächten. Glaube und Dichtung standen wie stille Sterne über dem lauten Tale.17

Er verlegt in erster Linie Theologisches, aber ein besonders engagiertes Projekt verdient im Hinblick auf die Reihe der Blauen Bücher Beachtung. Der Titel des Buches, das er in den 1830er Jahren plant, lautet »Das malerische und romantische Westfalen«. Anlass dazu ist die bei Georg Wigand in Leipzig erschienene Reihe »Das malerische und romantische Deutschland«, in der auf zehn Bände verteilt deutsche Landschaften vorgestellt, Westfalen jedoch übergangen worden ist. Der Band soll mit zahlreichen Zeichnungen ausgestattet werden, und Wilhelm Langewiesche beauftragt eigens einen Maler, Carl Schlickum, sowie den Dichter Ferdinand Freiligrath. Letzterer stellt die Arbeit niemals fertig, lebt vielmehr von den Vorschüssen seines Verlegers, sodass das Projekt letztlich von Levin Ludwig Schücking gemeinsam mit seiner Freundin Anette von Droste-Hülshoff zum Abschluss gebracht wird. Die Dichterin hält die Entstehungsgeschichte 1840 in einer kleinen Komödie mit dem Titel »Perdu, oder Dichter, Verleger und Blaustrümpfe« fest. Der Band erscheint schließlich 1841, aufwändig ausgestattet mit 100 Holzstichen, 20 Stahlstichen, zehn Lichtdrucken und sechs Autotypien. (Abb. 2) Der Sohn des Großvaters und spätere Vater Karl Roberts, Wilhelm Robert Langewiesche, übernimmt den Buchhandel des Vaters und verkauft den Verlag. Nach eingehenden Überlegungen entschließt er sich, das Unternehmen nach Rheydt in der Nähe von Düsseldorf zu verlegen, wo er 1870 ein Wohn- und Geschäftshaus erbauen lässt, dessen vier große 16 Karl Robert Langewiesche: Aus fünfundzwanzig Jahren. Buchhändlerische Erinnerungen, 1919, in: Staub 2002, S. 115. 17 Wilhelm Langewiesche, in: Menz 1925, S. 72.

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1  Karl Robert Langewiesche (1874–1931) beim Lesen, um 1910 (Quelle: Klempert 2002)

2 Ferdinand Freiligrath / Levin Schücking: Das malerische und romantische West­ phalen, Verlag Wilhelm Langewiesche 1841, Innentitel

Karl Robert Langewiesches Biographie

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Schaufenster zu einer Attraktion für die Kundschaft bis nach Düsseldorf werden. Karl Robert wird später seine Kindheitserinnerungen an diese Kundschaft heranziehen, um seine Motivation als Verleger zu erläutern: Es gab Leute, die nannten diese Massen roh. Eine Überheblichkeit, die zu teilen ich auch im späteren Leben nie eine Veranlassung gehabt habe. Derb und dumpf freilich mögen die ersten, aus behäbig halb ländlichen Hauswebern in städtische Fabrikarbeiter umgewandelten Generationen der niederrheinischen Textilarbeiterschaft wohl gewesen sein. Ich aber verdanke der dumpfen, halb unbewußten und doch so deutlichen Begierde, mit der sich diese Männer und Mädchen täglich vor den Schaufenstern der väterlichen Buch- und Bilderhandlung drängten, die ersten Keime zu der Sehnsucht meines Lebens, gerade den breiten Massen der Nation, also denen, die man die Ungebildeten nennt, durch meine Arbeit dienen zu dürfen.18

Nie hat er Zweifel an seinem beruflichen Werdegang: »Noch viel weniger als für die meisten meiner Kameraden hat es für mich jemals die Frage einer Berufswahl gegeben. War es für jene selbstverständlich, daß sie wie ihre Väter ›Fabrikanten‹ würden, so war es für mich noch viel selbstverständlicher, daß ich wie mein Vater Buchhändler werden würde.«19 Noch etwas lernt er von seinem Vater, was Aufschluss über sein späteres Schaffen als Verleger gibt: Denn bereits dieser hat »eine besondere Vorliebe für große, in vielen Bänden nach und nach erscheinende Werke, die die einmalige Werbearbeit jahrelang durch eine Rente belohnten.«20 Auch folgende Beobachtung, die sein älterer Bruder Wilhelm Langewiesche in Rheydt machte, wird Karl Robert nicht verborgen geblieben sein: »Für sich selbst kaufte man im allgemeinen nur, was man zum Vorwärtskommen brauchte, was sensationell war und was durch einen verblüffend niedrigen Preis bestach.«21 Nach einer wenig erfreulichen Kindheit, während der Karl Robert »als ein überaus zartes Kind«22 unter seiner schwachen Konstitution leidet23, kämpft er sich durch seine zweijährige Lehrzeit, während derer ihm vor allem die Arbeitszeiten zu schaffen machen: Gearbeitet wird elf Stunden täglich an sechs Tagen in der Woche.24 Die glücklichsten Jahre seiner Ausbildungszeit verbringt er bei Felix Speyer in Berlin: Nirgendwo vorher waren die Ansprüche an den Mitarbeiter auch nur annähernd so groß wie hier. Nirgendwo vorher aber auch wurde mir das, was ich selbst als Buchhändler und Kaufmann

18 Karl Robert Langewiesche: Aus fünfundzwanzig Jahren. Buchhändlerische Erinnerungen, 1919, in: Klempert 2002, S. 9. 19 Karl Robert Langewiesche, in: Menz 1925, S. 113. 20 Ebenda, S. 77. 21 Ebenda, S. 98. 22 Ebenda, S. 112. 23 »Und es war wohl nur der Begabung meines Vaters für abhärtende Gesundheitspflege und der Sorgfalt und Treue meiner Mutter zuzuschreiben, wenn kein Kindersarg aus dem Hause getragen werden mußte, das der Vater wenige Jahre vor meiner Geburt erbaut hatte. Des Arztes aber, der mich meine ganze Kindheit hindurch so oft begutachtete, gedenke ich ohne Dankbarkeit.« Ebenda, S. 112. 24 »Auch diese Jahre waren mir nicht immer leicht. Erst die zweite Hälfte der Lehrzeit ließ die ererbte Freude am Beruf wieder aufleben, welche die ersten anderthalb Jahre fast erstickt hätten. Erstickt wohl hauptsächlich, weil mein Körper, der sich erst mit dem achtzehnten und neunzehnten Jahre zu seiner späteren ledernen Zähigkeit durchmauserte, den Anforderungen der sehr ausgedehnten Geschäftszeit noch nicht gewachsen war.« Ebenda, S. 113.

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