Die Architektur des Rationalismus und Faschismus ... AWS

Ca'Brütta (via Turati/via Moscova; Abb. 2) gebaut, die Muzio seit 1919 federführend im. Büro V. Colonnese und P. ... Eine stark plastische Architektur äußern auch das Wohngebäude in der via. Flaminia (1924), der ... zismus hatten, zog die Scuola Romana ihre Inspirationen vorerst allgemein aus dem Klassi- zismus und der ...
3MB Größe 9 Downloads 421 Ansichten
Martin Petsch

Die Architektur des Rationalismus und Faschismus im „Großvenedig“ der 1930er Jahre

disserta Verlag

Petsch, Martin: Die Architektur des Rationalismus und Faschismus im „Großvenedig“ der 1930er Jahre. Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95935-032-7 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95935-033-4 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 Covermotiv: pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden und die Diplomica Verlag GmbH, die Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Alle Rechte vorbehalten © disserta Verlag, Imprint der Diplomica Verlag GmbH Hermannstal 119k, 22119 Hamburg http://www.disserta-verlag.de, Hamburg 2015 Printed in Germany

Inhalt I. Einleitung ............................................................................................................................ 7 II. Die Architekturströmungen im faschistischen Italien....................................................... 10 III. Grande Venezia ............................................................................................................. 18 1) Die Entstehung der Grande Venezia ................................................................................ 20 Porto Marghera .................................................................................................................. 21 Mestre und Marghera......................................................................................................... 23 Centro storico und Lido ..................................................................................................... 25 Die Verkehrsstruktur der Grande Venezia ........................................................................ 27 Grande Venezia und Faschismus ....................................................................................... 30 IV. Verzögerung und Blütezeit der modernen Architektur in Venedig ............................ 35 1) Die Verzögerung der Moderne ..................................................................................... 35 2) Die Blütezeit der Moderne ............................................................................................. 40 V. Die Bauten des Rationalismus in Venedig .................................................................... 43 1) Verkehrsarchitektur ....................................................................................................... 43 Autorimessa Comunale...................................................................................................... 43 Stazione Ferroviaria „Santa Lucia” ................................................................................... 45 Centrale termica ................................................................................................................. 50 Der Flughafen „Giovanni Nicelli“und der Gruppo Arti Decorative ................................. 52 2) Architektur für die „bonifica morale e materiale della razza” ............................................ 58 Die colonie marine............................................................................................................. 58 „Campo Sportivo Fascista” ............................................................................................... 64 Collegio navale GIL .......................................................................................................... 65 Fürsorge-Einrichtungen der Firma „Montecatini” ............................................................ 69 3) Bauten für den mondänen Tourismus ........................................................................... 72 Palazzo della Mostra del Cinema ...................................................................................... 72 Palazzo del Casinò ............................................................................................................. 73 4) Verhaltener Rationalismus abseits der offiziellen Architektur: Wohnungsbau und Gewerbearchitektur .............................................................................................................. 75 VI. Eine faschistische Moderne: Die faschistische Ideologie im Rationalismus am Beispiel Venedigs ................................................................................................................................... 79 1) Faschistische „Revolution“ und modernità ................................................................... 81 2) Der neue, faschistische Mensch .................................................................................... 89 3) Die Italianità in der Architektur .................................................................................... 95 4) „Civis romanus sum“. Die Ideologie der romanità .................................................. 101 5) Das propagierte Architekturbild .................................................................................... 105 VII. Zusammenfassung ..................................................................................................... 108 VIII. Quellen und Literatur .................................................................................................. 113 IX. Abkürzungen ............................................................................................................... 122 X. Abbildungen ................................................................................................................ 123 XI. Abbildungsnachweis ................................................................................................... 179

I.

Einleitung

Venedig wird im Allgemeinen mit dem romantischen Bild der von Kanälen durchzogenen mittelalterlichen Stadt verbunden. Seit einiger Zeit hat die historische Forschung aber auch das Venedig der Moderne für sich entdeckt. Vor allem in den letzten Jahren war eine Reihe von Publikationen entstanden, die sich in erster Linie mit der Stadtentwicklung, aber auch mit der Architektur des 20. Jahrhunderts beschäftigten.1 Die Darstellung der architektonischen Entwicklung während des faschistischen Regimes beschränkt sich allerdings meist auf wenige Zeilen2 oder einzelne Bauten.3 Es fehlt eine ausführliche, umfassende und fundierte Betrachtung. Mit diesem Buch soll diese Lücke teilweise geschlossen werden, indem sie die moderne Architektur der Zwischenkriegszeit in der Stadt untersucht und sie in ihren historischen und architekturhistorischen Zusammenhang stellt. Sie kann dabei auf eine Reihe zeitgenössischer Artikel zu einzelnen Gebäuden, vor allem in den Zeitschriften „Le Tre Venezie“ und „Rivista mensile della città di Venezia“, sowie einen weitgehend im Original überlieferten Baubestand aufbauen. Das Buch beschränkt sich auf die Bauten des Razionalismo, der vom Faschismus geprägten italienischen Spielart der internationalen, „klassischen“ Moderne. Was die Besonderheiten der italienischen modernen Architektur der 1930er Jahre ausmacht soll im letzten Kapitel an den venezianischen Beispielen ausführlich untersucht werden. Außenvor gelassen werden daher die Bauten ausländischer Architekten, wie zum Beispiel der österreichische BiennalePavillon, 1934 nach Plänen von Josef Hoffmann und Robert Kramreiter errichtet, oder der Entwurf von Adolf Loos für eine Villa auf dem Lido von 1924. Ebenso wurden in der Regel nur die ausgeführten Bauwerke herangezogen, da die Sondersituation der historischen Inselstadt Venedig zu einer Fülle von Planungen angeregt hat, welche den Umfang der Arbeit sprengen würden. In der Architektur-Geschichtsschreibung hat sich seit einiger Zeit die Meinung durchgesetzt, dass die Rationalisten durch freiwilligen Eifer, aber auch durch äußeren Druck dazu entschlossen waren, eine spezifisch faschistische Moderne zu schaffen. Dem voraus gingen seit der frühen Nachkriegszeit eine Verklärung und später eine Entpolitisierung der Rationalisten. Bruno Zevi suchte in seiner „Storia dell´architettura Moderna“ nach Entschuldigungen für

1

Vgl. u.a. Barbiani 1983, Campostrini 1993, Cosmai/Sorteni 2001, Distefano/Paladini 1997, Distefano/Pietragnoli 1999, Progetti per le città veneta 1982, Somma 1983, Zucconi 2002. 2 Vgl. u.a. Concina 1998, Goy 1997, Howard 1987, Maretto 1969. 3 Vgl. u.a. Domenichini 2002, Farinati 2002, Il Terminal Automobilistico, Farinati 2002, La „Riviera di Venezia” e i nuovi terminal marittimi e aerei, Pieri 2003. 7

das Verhalten der jungen Architekten.4 Er bildete damit den Beginn der lange anhaltenden unkritischen, nicht nur ästhetischen Unterscheidung zwischen den negativ eingeschätzten Traditionalisten und den als positiv angesehenen Rationalisten,5 denen bisweilen sogar eine antifaschistische Haltung unterstellt wurde.6 Entsprechend tauchten erstere in vielen Darstellungen überhaupt nicht auf. In späteren Betrachtungen, vor allem im Rahmen der postmodernistischen Diskussion, wurde die leidenschaftliche Gefolgschaft der Rationalisten ignoriert und die Gebäude unter rein stilistischen Gesichtspunkten untersucht. Hervorzuheben sind dabei die Artikel von Peter Eisenman.7 Ludovico Scarpa schrieb 1985, es sei bloße Behauptung, dass ein bestimmter Stil auch bestimmte politische Inhalte vermittle. Der Faschismus hätte keine neue Architektur geschaffen, sondern nur eine schon vorhandene Formensprache ausgewählt. Als Beweis führte er die zeitgenössischen Polemiken über die Moderne an, die in Italien als „faschistisch“ und „bolschewistisch“, in Deutschland als „bolschewistisch“ und in der Sowjetunion als „westlich bourgeoiser Stil“ bezeichnet wurde. Es hätte sich bei der Zusammenarbeit mit dem Regime nur um ein Streben nach Aufträgen gehandelt. Die politische Einstellung der Architekten sei ein rein „subjektiver Faktor“ gewesen, der sich nicht in den Bauwerken widerspiegele.8 Gegen diese entpolitisierte Geschichtsschreibung wandte sich bereits 1980 Diane Y. Ghirardo in ihren Artikeln.9 In der Folge entstand eine Reihe von Werken, welche sich mit dem Verhältnis zwischen Architekten und Regime befassten.10 Carlo Cresti ging zwar von einer Verbindung der Rationalisten zum Faschismus aus, relativierte diese jedoch. Er wollte mit „Überbewertungen“ oder „Verrissen“ brechen, indem die einzelnen Bauwerke ohne „Vorurteile“ betrachtet würden. Man müsse zwischen misslungener und qualitätvoller Architektur unterscheiden und die „wahren und dauerhaften Werte“ der letzteren erkennen.11 Ähnlich vorsichtig betrachtete auch Etlin die rationalistische Architektur.12 Dagegen äußerten Margit Estermann-Juchler und Ueli Pfammatter13 die Überzeugung, dass die Rationalisten sich in den totalen Dienst des faschistischen Regimes und seiner Ideologie gestellt hätten und dies entsprechende Folgen auf die Gestalt der Bauten hatte. Deren Auffassung

4

Vgl. Zevi 1950. Vgl. u.a. Benevolo 1960, De Seta 1972. 6 Vgl. Veronesi 1953. 7 Vgl. Eisenman 1970; Eisenman 1971; aber auch Zevi 1978. 8 Vgl. Scarpa 1985, S. 43-50. 9 Vgl. Ghirardo 1980, Italian Architects and Fascist Politics; Ghirardo 1980, The Politics of a Masterpiece. 10 Vgl. u.a. Ciucci 1989, Brunetti 1993. 11 Vgl. Cresti 1986, S. 7f. 12 Vgl. Etlin 1991. 13 Vgl. Estermann-Juchler 1982; Pfammatter 1990. 5

8

werde ich mich anschließen, nicht nur weil sie unbestritten die plausibelste ist, sondern weil dies an den rationalistischen Bauten und ihrem Entstehungskontext deutlich wird. Achim Preiß und Stefan Germer behaupteten, dass der Versuch, rationalistische Architektur „abbildlich zu interpretieren, also bestimmte Architekturformen als Ausdruck des politischen Systems Faschismus zu lesen, von vornherein zum Scheitern verurteilt [sei].“ Die rationalistische Architektur hätte meist bewusst auf konventionelle Architekturformen verzichtet, die Herrschaft versinnbildlichen.14 Es muss jedoch gesehen werden, dass nicht nur die Theorie des Rationalismus in vielen Bereichen mit der faschistischen Ideologie übereinstimmte, sondern dass auch die gestalterische Umsetzung zum Abbild dieser Ideologie wurde. Dazu flossen gleichfalls konventionelle Elemente von Herrschaftsarchitektur in der Methode wie in der Form in die rationalistische Architektur ein. Es soll mit diesem Buch gezeigt werden, dass die Durchsetzung des Faschismus in Venedig und die Umsetzung der Idee eines Großvenedigs in den 1930er Jahren die Voraussetzungen für die Entstehung der rationalistischen Architektur in der Stadt waren, welche das weite Spektrum der faschistischen Ideologie inhaltlich und formal widerspiegeln.

14

Vgl. Preiß/Germer, S. 268. 9

II.

Die Architekturströmungen im faschistischen Italien

Das faschistische Italien Mussolinis hatte im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschen Reich keine einheitliche Kultur- und Kunstideologie hervorgebracht.15 Das Regime war weder in der Lage, noch hatte es die Absicht Entscheidungen hinsichtlich einer faschistischen Kunst zu treffen. Durch eine Politik der Zurückhaltung und geschickten Einflussnahme förderte es unterschiedliche, auch moderne künstlerische Bewegungen, die sich durch einen aggressiven Nationalismus auszeichneten und so mit der eigenen Ideologie konform liefen. Verschiedene Strömungen beanspruchten daher, die faschistische Staatskunst zu repräsentieren. Das gemeinsame Streben nach einer bildlichen Darstellung des Faschismus und die Integrationspolitik des Regimes führten oft zu einer stilistischen Annäherung gegensätzlicher Tendenzen.16 Entsprechend konnten sich in den 1920er Jahren verschiedene Architekturauffassungen ausbilden, die Mussolini in Konkurrenz zueinander treten ließ, damit sich ein Stil entwickeln konnte, der das etablierte faschistische Regime am besten darzustellen vermochte.17 Bis weit in die 1920er Jahre war die italienische Architektur noch durch einen eklektischen, akademischen Historismus in der Form des späten Ottocento geprägt. Obwohl sich der Faschismus betont vom vorangegangenen liberal-parlamentarischen System absetzen wollte, bediente er sich in der Anfangszeit der Architekten und des Stils dieser Zeit.18 Erst zu Beginn der 1920er Jahre zeichneten sich die ersten Versuche zur Erneuerung der Architektur durch die Vertreter des Mailänder Novecento ab. Der Novecento war eine Gruppe von bildenden Künstlern, die 1922 von der Kunstkritikerin Margherita Sarfatti formiert wurde, sich aber auch schon vorher um die 1919 gegründeten Zeitschriften „Valori Plastici“ und „La Ronda“ gebildet hatte. Zu dem Kreis gehörten u.a. Carlo Carrà, Giorgio De Chririco, Alberto Savinio und Mario Sironi.19 Zwar vertraten die Künstler ganz unterschiedliche stilistische Formen, gemeinsam war ihnen jedoch das Ziel einer neuen italienischen Kunst, die sich von Liberty und Eklektizismus ebenso abgrenzte wie von ausländischen Tendenzen. Sie sollte zugleich modern und traditionell sein, indem sie als Ausdruck der gegenwärtigen Epoche auf den Werten der klassischen Tradition basierte.20 In engem Kontakt mit dieser Gruppe stand der Architekt Giovanni Muzio, welcher deren 15

Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 11. Vgl. Ebenda, S. 17, 25. 17 Vgl. Pfammatter 1996, S. 23. 18 Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 59. 19 Vgl. Burg 1992, S. 24f. 20 Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 72. 16

10

Vorstellungen von einer Erneuerung der Kunst teilte. Um ihn bildete sich ein Kreis von Architekten, die eine moderne italienische Architektur schaffen wollten, darunter Giuseppe de Finetti, Mino Fiocchi, Emilio Lancia, Gio Ponti, Giuseppe Pizzigoni, Ferdinando Raggiori und Gigiotti Zanini.21 Sie zogen ihre Inspiration aus der klassizistischen Architektur Mailands vom Ende des 18. und vom Anfang des 19. Jahrhunderts, jedoch nicht in Form von Imitationen, sondern im freien Umgang. Im Zentrum stand die Treue zur italienischen Identität, das Streben nach Wiederbehauptung und Stärkung der italienischen Kultur.22 Die klassischen Epochen entsprachen ihrem Verlangen nach Ordnung und stilistischer Kontinuität. Die Klassik war für die Novecentisten nicht nur stilistische Inspirationsquelle, sondern in der Übernahme humanistischer Werte auch deren Geisteshaltung.23 Als erstes bauliches Manifest des Novecento-Stils wurde 1922-23 die spöttisch sogenannte Ca’Brütta (via Turati/via Moscova; Abb. 2) gebaut, die Muzio seit 1919 federführend im Büro V. Colonnese und P. Barelli erarbeitet hatte.24 Die Wohnblöcke sind durch traditionelle Formen und Gesetzmäßigkeiten geprägt, sie wurden aber in ganz neuer Art und Weise angewandt. Es handelt sich nicht um eine eklektische Zusammenstellung historischer Zitate, sondern um eine freie Komposition von Fragmenten, die aus der klassischen italienischen Tradition des Cinquecento bis Ottocento entnommen, aber nicht kopiert wurden.25 Muzio verzichtete auf vorfabrizierten, standardisierten und applizierten Zement-Dekor akademischer Prägung ebenso wie auf eine Nachahmung des üblichen bürgerlichen palazzo. Er löste sich vom traditionellen akademischen Fassadenaufbau, den er zugleich parodierte.26 Zudem lehnte er eine kolossale, monumentale Architektur ab und passte die Gestaltung der Funktion Wohnhaus an.27 Die Wohnblöcke haben keine Hauptfassade. Sie zeichnen sich durch eine mehrschichtige, flächige Fassadendekoration aus. Deren ins Geometrische abstrahierte Ornamente werden frei wiederholt. Der Fassadenschmuck steht im Kontrast zu den gewaltigen Massen und strengen Proportionen der Baukörper. Durch eine vertikale wie horizontale Differenzierung der Fassaden entsteht ein bewegtes Bild. Die Übertreibung und Abstraktion der historischen Zitate und deren ungewöhnliche Kombination greift damit die Erscheinung und Prinzipien der metaphysischen Malerei auf.28 Auch in der Architektur sind die Werke durch einfache geometrische Formen, flache Oberflächen und lineare Begrenzungslinien

21

Vgl. Burg 1992, S. 24ff. Vgl. Etlin 1991, S. 165f. 23 Vgl. Burg 1992, S. 28f. 24 Vgl. Ebenda, S. 50. 25 Vgl. Etlin 1991, S. 167, 184. 26 Vgl. Burg 1992, S. 49f. 27 Vgl. Etlin 1991, S. 176. 28 Vgl. Burg 1992, S. 52f. 22

11

geprägt.29 Wesentlich weiter ging die Erneuerung der Architektur im Bezug auf die technischen und hygienischen Standards. Bei der Ca´Brütta wurden moderne Baustoffe, Konstruktionsmethoden (Stahlbeton-Skelettbauweise) und technische Ausstattungen angewandt. Die Grundrisse sind durch klar gegliederte Funktionsgruppen und durch eine besondere Luft- und Lichtfülle geprägt.30 Bald bedienten sich auch Architekten anderer Städte der neuen Architektursprache. Ein zweiter Schwerpunkt des Novecento wurde Rom. Zwar griff man auch hier auf die bekannten Bilder der italienischen Architekturgeschichte zurück und vollzog eine starke Vereinfachung des Dekors, die Vorbilder waren jedoch andere. Giuseppe Capponi und Pietro Aschieri benutzten im Gegensatz zu den Mailändern barockisierende, dem Chiaroscuro verpflichtete Formen (Abb. 3).31 Eine stark plastische Architektur äußern auch das Wohngebäude in der via Flaminia (1924), der Albergo degli Ambasciatori (1925-26; Abb. 4), beide von Marcello Piacentini, der albergo suburbano per sfrattati in Garbatella (1927-28) von Innocenzo Sabbatini oder die Casa del Cooperativa „Nuova Prati“ (1929) von Enrico Del Debbio. Sie folgten jedoch eher klassischen Vorbildern. In den 1920er Jahren hatte sich in Rom ein Architektenkreis entwickelt, in dessen Zentrum Marcello Piacentini stand und zu dem vor allem Dozenten und Schüler der Scuola superiore di architettura di Roma gehörten, darunter so einflussreiche Personen wie Gustavo Giovannoni, aber auch Calza-Bini, der seit 1924 als Generalsekretär der ArchitektenSyndikate fungierte. Als Hochschulprofessor und späterer Direktor des Architekturinstituts schuf Piacentini eine Art Stilschule, die Scuola Romana.32 Ihm wurde auch die Koordination der anderen Architekturschulen übertragen, wo er bald Anhänger fand.33 Piacentini und seine Gefolgsleute erlangten die Dominanz über die gesamte italienische Architekturszene. Die Scuola Romana beherrschte nicht nur die öffentliche Baukunst in Rom, sondern dehnte ihren leitenden Anspruch auf die Staatsarchitektur in den Provinzen aus. Besonders durch die Politik des sventramento konnte dieser Kreis in ganz Italien tätig werden. Seit den späten 1920er Jahren entstanden in zahlreichen Städten an Stelle abgerissener Altstadtareale neue monumentale Gebäudeensembles, so die piazza della Vittoria in Brescia (Abb. 5), 1927-32 von Piacentini. Der Novecento - in seiner Römer Variante - wurde somit bestimmend für die italienische Architektur der Zwischenkriegszeit.34 Dies hatte nicht nur die

29

Vgl. Etlin 1991, S. 176. Vgl. Burg 1992, S. 49f. 31 Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 75. 32 Vgl. Pfammatter 1996, S. 30. 33 Vgl. Nicoloso 1999, S. 168. 34 Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 76. 30

12

Nähe der Protagonisten zum Regime als Ursache. Die Vertreter der Scuola Romana waren zugleich als bedeutende Architekturkritiker tätig und hatten als Jurymitglieder bei fast allen großen öffentlichen Wettbewerben sowie als Kommissionsmitglieder starken Einfluss auf die Vergabe von Aufträgen, die nicht selten durch Bevorzugung des eigenen Kreises oder Korruption geprägt war. Teilweise zog Piacentini nach Wettbewerben die Aufträge direkt an sich. Das Monopol von Calza Bini, Giovannoni und Piacentini erstreckte sich auch auf die consigli superiori delle belle arti e dei lavori pubblici, in denen u.a. die Projekte für Kindergärten, Schulen, Regierungspaläste und Märkte geprüft wurden.35 Im Gegensatz zu den Mailänder Novecentisten, die ihre Vorbilder im lombardischen Klassizismus hatten, zog die Scuola Romana ihre Inspirationen vorerst allgemein aus dem Klassizismus und der Renaissance wie die Beispiele der piazza della Vittoria in Brescia und des Foro Mussolini in Rom (Abb. 6), 1927-32 von Enrico Del Debbio, zeigen. In den 1930er Jahren wurde aber zunehmend die antik-römische Architektur zum Vorbild.36 Es entstanden monumentale, massige Bauten eines streng reduzierten, kahlen Neoklassizismus mit scharfkantigen Formen, wie etwa das Rektoratsgebäude der Citta universitaria in Rom (Abb. 7), 1932-35 von Piacentini. Die Scuola Romana entsprach damit der immer zentraler werdenden faschistischen romanità-Ideologie. Nach der Gründung des Imperiums 1936 hielt Mussolini die neoklassizistische Architektur Piacentinis am geeignetsten, um den neuerworbenen Machtstatus zu symbolisieren.37 In den 1930er Jahren kam es auch im Mailänder Novecento zu einem Prozess der Vereinfachung. Es entstand ein reduzierte Variante, welche die ornamentale Anwendung traditioneller Elemente aufgab und auf abstrakten, geometrischen Musterungen mit reicher Farbigkeit basierte,38 wie Giovanni Muzios Eingangsgebäude der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand von 1928-29 zeigt (Abb. 8). Die Bauten von Emilio Lancia und Gio Ponti näherten sich dabei teilweise stark den rationalistischen Bauten an. Eine Architektur nach den Prinzipien der internationalen Moderne trat in Italien erst verspätet auf. 1926 wandten sich die sieben jungen Architekten Luigi Figini, Guido Frette, Sebastiano Larco, Ubaldo Castagnoli (seit 1927 für ihn Adalberto Libera), Gino Pollini, Carlo Enrico Rava und Giuseppe Terragni als Gruppo 7 mit vier programmatischen Schriften (4 note) über eine neue Architektur in Italien an die Öffentlichkeit, die zwischen Dezember 1926 und Mai 1927 in der Zeitschrift „La Rassegna Italiana“ veröffentlicht wurden. Damit war die Bewegung der Architettura Razionale bzw. des Razionalismo begründet. Sie lehnten Eklektizismus 35

Vgl. Nicoloso 1999, S. 147-160. Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 78. 37 Vgl. Nicoloso 1999, S. 166. 36

13

und Stile Liberty, aber auch die „falsche Moderne“ des Novecento und der Scuola Romana ab.39 Die ersten Projekte wurden auf der 3. Triennale der dekorativen Künste in Monza 1927 ausgestellt. Sie zeigen eine deutliche Orientierung an der europäischen Moderne. Während die Rationalisten im eigenen Land kaum Aufmerksamkeit erhielten, bekamen sie im europäischen Rahmen Unterstützung für ihre Bestrebungen,40 indem man sie zu Ausstellungen und zum ersten Congrès International d´Architecture Moderne (CIAM) 1928 auf dem Schloss Sarraz in der Schweiz einlud.41 Die ersten beiden rationalistischen Bauten konnten erst 1928 verwirklicht werden, Giuseppe Terragnis „Novocomum“ in Como (Abb. 9) und der Edificio delle comunità artigiane von Alberto Sartoris auf der Esposizione del Valentino in Turin. Vor allem das Novocomum führte zu einer heftigen landesweiten Polemik. Im selben Jahr fand in Rom die Prima Esposizione Italiana di Architettura Razionale statt, deren Ausstellungsobjekte trotz des Stilpluralismus zeigten, dass der Rationalismus inzwischen ganz Italien erfasst hatte. Die Reaktionen des traditionellen Lagers waren zwar noch gemäßigt, zeigten aber bereits die Konturen der späteren heftigen Polemiken. Es erschien Piacentinis Artikel „Prima internazionale architettonica“ in der Zeitschrift „Architettura e Arti Decorative“, seit 1927 offizielles Organ des nationalen faschistischen Architekten-Syndikats. Darin behauptete er, dass der Rationalismus keine Kunst sei, denn Architektur sei für ihn mehr als nur ein Produkt aus Rationalität und Funktionalität. Er warf der Moderne zudem Anpassungsunfähigkeit innerhalb historischer Stadtzentren, technische Mängel, Verarmung der Materialvielfalt und die Verwendung kurzlebiger Materialien vor. Die Ausstellung hatte nicht die erwünschte Wirkung auf die Kulturpolitik des Regimes. Öffentliche Aufträge blieben aus.42 Einige private Bauherren ermöglichten jedoch den Rationalisten weitere Bauten zu verwirklichen, darunter der Palazzo Gualino in Turin (Abb. 1), 1928-30 von Gino Levi Montalcini und Giuseppe Pagano, und die Casa elettrica für den Elektrokonzern Edison von Luigi Figini und Gino Pollini (Abb. 10) auf der 4. Triennale in Monza 1930. Da der Rationalismus schnell neue Anhänger aus der jungen Architektengeneration gewann, wurde 1930 der Movimento Italiano per l’Architettura Razionale (MIAR) gegründet. Mit der folgenden Seconda Esposizione del MIAR, 1931 in Rom in der Galerie des einflussreichen Kunstkritikers Pietro Maria Bardi, wurde die Forderung an Mussolini gestellt, die Archi38

Vgl. Etlin 1991, S. 328f. Vgl. Pfammatter 1996, S. 13. 40 Vgl. Etlin 1991, S. 229. 41 Ebenda, S. 233. 42 Vgl. Pfammatter 1996, S. 74f. 39

14

tettura Razionale als offizielle und alleingültige Staatsbaukunst zu etablieren.43 Mussolini besuchte die Ausstellung und sprach seine Anerkennung für die Tendenz aus. Das Ziel der Rationalisten schien nahe. Die Ausstellung verursachte jedoch durch ihre kämpferische Haltung einen Eklat, indem sie die traditionellen Architekten, darunter Piacentini und Giovannoni, mit dem „tavolo degli orrori“ persönlich angriffen. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Lagern wurde schärfer. In seiner Polemik „Difesa dell’architettura italiana“ in der Zeitung „Il Giornale d’Italia“ vom 2. Mai 1931 drängte Piacentini, den Rationalismus als „internationalistisch“ und „bolschewistisch“ zu entlarven. Die publizistische Verteidigung der Moderne übernahmen im Gegenzug vor allem Pagano in der Zeitschrift „Casabella“ und Bardi ab 1933 in „Quadrante“.44 Parallel verfolgten die Traditionalisten die Strategie, die Rationalisten durch die Integration in den öffentlichen Architekturbetrieb unter Kontrolle zu bekommen, um eine Entscheidung der Auseinandersetzung zu verhindern und ihr Machtmonopol zu sichern.45 Erste Schritte waren die Rückkehr der Rationalisten in die Disziplin des Syndikats und die Auflösung des MIAR.46 Zudem wurden sie zunehmend von den ausländischen Entwicklungen abgeschirmt. 47 Man lud sie zu bedeutenden Wettbewerben ein und verschaffte ihnen wichtige Aufträge. Im Rahmen der Mostra della Rivoluzione Fascista in Rom 1932, anlässlich des zehnten Jahrestages des „Marsches auf Rom“ und der Machtübernahme Mussolinis, wurden die Rationalisten erstmals in den Dienst des Regimes gestellt. Adalberto Libera und Mario De Renzi schufen dabei die Pläne für die Eingangsfront und Giuseppe Terragni für die Sala del’22.48 1933 gewann der Gruppo Toscano um Giovanni Michelucci den Wettbewerb um den Neubau des Florentiner Bahnhofs (Abb. 11) und in Rom wurden drei der vier ausgeschriebenen Postgebäude von den Architekten Adalberto Libera, Mario Ridolfi und Giuseppe Samonà realisiert. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Integrationspolitik beim Bau der citta universitaria 1932-35 in Rom (Abb. 12), für die Piacentini vom Duce mit der Generaldirektion der Planungs- und Bauarbeiten betraut wurde. Für den Entwurf einiger Gebäude bezog Piacentini neben den Novecentisten Gaetano Rapisardi, Arnaldo Foschini und Gio Ponti auch die rationalistischen Architekten Pietro Aschieri, Giuseppe Capponi, Giovanni

43 Vgl. Pfammatter 1996, S. 77. 44 Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 91f. 45 Ebenda, S. 107f. 46 Ebenda, S. 111. 47 Vgl. Pfammatter 1996, S. 97. 48 Ebenda, S. 85. 15

Michelucci, Gaetano Minnucci, Eugenio Montuori und Giuseppe Pagano mit ein. In der Folge entstand durch die beidseitige Annäherung der Gruppen ein relativ homogenes Bild.49 In diesem Prozess übernahmen die Rationalisten bereits wichtige Elemente der Scuola Romana.50 Das Jahr 1932 kann als Auftakt für ein breites Wirken der modernen Architekten für den Faschismus gelten. Die schwere Wirtschaftkrise, unter der Italien seit Mitte der 1920er Jahre zu leiden hatte, war in jenem Jahr u.a. durch die Tätigkeit des Istituto per la Ricostruzione dell’Industria (I.R.I.) überwunden. In der Folge entwickelte sich eine rege staatliche Bautätigkeit, vor allem in den Bereichen der Städteneugründungen und Stadtumbauten sowie Kinder- und Jugendeinrichtungen, an der auch die Rationalisten Anteil nahmen.51 Die Bauten des nationalen Kinder- und Jugendsozialwerkes Opera Nazionale Balilla, besonders die colonie, wurden zum großen Arbeitsfeld für die modernen Architekten. Sie entwarfen aber auch Stadien, Dopolavori und case del Fascio. Außerdem konnten die Rationalisten im privaten Bereich zahlreiche Villen und Mietshäuser errichten.52 Mit der Integration der rationalistischen Architektur war zugleich ihr Ende eingeleitet. Der Sieg eines modernen Entwurfes bei dem national bedeutenden Wettbewerb für den Bahnhof Florenz führte zu einem heftigen landesweiten Protest der Traditionalisten. Der Bahnhof wurde 1935 errichtet. Dennoch war den Erfolgen der Rationalisten damit ein Ende gesetzt,53 obwohl sie sich beim Wettbewerb für den Palazzo del Littorio, den zentralen nationalen Parteipalast an der via dell’Impero in Rom (1933/34), der Forderung des Regimes nach einer monumentalen Herrschaftsarchitektur unterwarfen und Elemente des neuen römischen Baustils wie symmetrische Grundrisse, nach der Hierarchie gerichtete Raumgrößen und Gestaltungen, repräsentative, statisch-monumentale Schaufronten, kolossale Statuen- und Reliefdekorationen oder stilisierte fasci übernahmen (Abb. 13). Bei allen Teilnehmern wurde in dramatischer Form die Ehrerbietung an das antike Rom durch Bezüge zu dessen Bauten in der Umgebung thematisiert, dem Repräsentationsbedürfnis der Parteiführung Rechnung getragen und die via dell’Impero als Triumphstraße für Massenaufmärsche und militärische Auftritte einbezogen. Der erste Preis ging jedoch an Enrico Del Debbio mit seinem konsequent neoklassizistisch-monumentalen Entwurf.54

49 Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 113ff. 50 Vgl. Pfammatter 1996, S. 95. 51 Ebenda, S. 87f. 52 Ebenda, S. 99. 53 Ebenda, S. 96. 54 Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 126; Pfammatter 1996, S. 102f. 16

Angleichungen erfolgten während der gesamten 1930er Jahre bei allen öffentlichen Bauten, denen eine repräsentative Aufgabe zugesprochen wurde, auch wenn sie nur lokalen Rang hatten. Die moderne Architektur reduzierte sich auf eine Frage des Stils. Eine Architektur, die einer strengen Funktionalität folgte, fand sich nur bei Bauten, die dem Utilitärbau zugerechnet wurden, wie etwa Verkehrs- oder Industriebauten. Mit dem Bau der E´42 1937-42 ging der Rationalismus endgültig in der Scuola Romana auf. Südlich von Rom entstand als faschistisches Machtsymbol eine gewaltige Ausstellungsstadt mit festen Bauten für die geplante Weltausstellung 1942. Piacentini war auch hier freie Hand gegeben worden. Die Werke der beteiligten Rationalisten, wie z.B. Adalberto Liberas Palazzo dei Congressi oder der Palazzo delle Poste e dei Telegrafi von BBPR, stimmen in den wesentlichen kompositorischen Elementen mit der neoklassizistischen Scuola Romana überein. Sie weisen wie die Vorbilder Axialsymmetrien, übermenschliche Dimensionen sowie lange Säulen- und Pfeilerreihen auf. Eisenbeton durfte nicht als Fassadenmaterial benutzt werden. Dieses hatte der italianità und der Autarkie zu entsprechen. Daher wurden Stein, Marmor oder Ziegel herangezogen.55 In ganz Italien erfolgte die Eliminierung der Rationalisten aus dem öffentlichen Architekturbetrieb, wenn sie sich nicht dem neorömischen Monumentalismus anschlossen.56 Und auch im privaten Bereich gab es nur noch sehr beschränkte Auftragsmöglichkeiten.57 Bevor ich auf die rationalistische Architektur Venedigs im Detail eingehe, soll der lokale historische und architekturhistorische Rahmen dargestellt werden, in dem die Bauten entstanden sind. Zur Errichtung der modernen venezianischen Bauten führten nicht nur die allgemeinen Entwicklungen in der italienischen Architektur, sondern auch das Zusammenwirken ganz spezieller Umstände in der venezianischen Politik und Stadtentwicklung, die Durchsetzung des Faschismus in der Stadt und die Verwirklichung der Grande Venezia durch das Regime.

55

Vgl. Pfammatter 1996, S. 109f. Vgl. Estermann-Juchler 1982, S. 167. 57 Ebenda, S. 190. 56

17