Diagrammatik und Mediensymbolik. Multimodale ...

Tastatur offenbar der Umgang mit dem Genre einer sogenannten „diskontinu- ierlichen Darstellungsform“ bzw. „Infografik“ zu gelten haben, da eines ihrer.
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Prof. Dr. Thomas Lischeid studierte Germanistik und Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Promotion in Literaturwissenschaft in Bochum. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum 2004-2010. Seit 2011 Professor für Sprach- und Mediendidaktik an der PH Weingarten.

Diagrammatik und Mediensymbolik

Thomas Lischeid

Diagrammatik und Mediensymbolik Multimodale Darstellungsformen am Beispiel der Infografik

Lischeid  

Die Sprache der Medien präsentiert sich heute als eine Kombination aus Text-, Bild- und Diagramm-Elementen, die ihre Kohärenz insbesondere aus Verfahren der Symbolbildung und verwandter analogiebildender Verfahren gewinnt. Am Beispiel des Genres der Infografik lassen sich Strukturen und Funktionen dieser Kohärenzbildung nachweisen. Nach einem Blick auf Begriffsbildung, Historie und medientechnologischen Hintergrund setzt die vorliegende Untersuchung drei Schwerpunkte: Sie entwickelt ein semiotisches Modell, das die einzelnen modalen Bereiche Text, Bild und Diagramm sowie ihr symbolisierendes Zusammenspiel analysiert, sie behandelt Fragenkomplexe im Sinne der kognitiven Psychologie, die sich der Klärung von Prozessen der generativen Produktion und verstehenden Rezeption multimodaler Darstellungsformen und ihrer öffentlichen und didaktischen Vermittlung widmen, und sie berücksichtigt drittens die kulturwissenschaftliche Kontextualisierung des Formats Text-Bild-Diagramm. Im Ergebnis zeichnet sich ein wissenschaftlich-analytisches Bild der Infografik ab, dass dieses Genre als einen Knotenpunkt im Netz aktueller Wissens- und Handlungsformen und damit als ein Signum massenmedialer Diagrammatik erscheinen lässt, in der sich unsere aktuelle Gesellschaft zugleich selbst beschreibt und reflektiert.

ISBN 978-3-942158-26-8

9 783942 158268

UVRR Universitätsverlag Rhein-Ruhr

Thomas Lischeid

Diagrammatik und Mediensymbolik Multimodale Darstellungsformen am Beispiel der Infografik

Universitätsverlag Rhein-Ruhr, Duisburg



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UVRR Format Publishing, Jena Printed in Germany

Inhalt I.

Einleitung: Infografiken als Prototyp diskontinuierlicher/multimodaler Darstellungsformen.............................. 7 I.1. Forschungsstand........................................................................... 10 I.2. Fragestellungen und Hypothesenbildung..................................... 22 I.3. Aufbau.......................................................................................... 30 I.4. Materialkorpus............................................................................. 35

II. Theoretische Grundkonzeption: Semiotische Linguistik, Kognitive Psychologie und kulturwissenschaftliche Kontextualisierung der Infografik............................................................. 37 II.1. Zur Meta-Taxonomie der Text-Bild-Diagramm-Forschung......... 37 Die Infografik als intermodale Symbolmontage.......................... 41 II.2. Semiotisches Grundmodell.......................................................... 42 II.2.1. Beispiel: „Abgehängt von der Weltkonjunktur“.......................... 49 II.2.2. II.3. Kognitionspsychologische Erweiterung: Aspekte mentaler Repräsentation des Symbolverstehens.......... 57 II.3.1. Produktionsbezogene Perspektive: Modell und Beispiele........... 58 (a) Einzelgenre Infografik............................................................ 58 (b) Schwerpunktthema-Gestaltung als Text-Bild-Diagramm-Kombination........................................ 60 (c) Symbolreflexiver Selbstkommentar....................................... 65 II.3.2. Rezeptionsbezogene Perspektive: Forschung, Modell und Beispiel................................................... 67 (a) Kognitionspsychologie des Text-Bild-Diagramm-Verstehens.....67 (b) Symbolverstehen.................................................................... 72 II.4. Kulturwissenschaftliche Kontextualisierung:„Interdiskurs“ – „Soziale Normalität“ – „Subjektivierung“.................................. 78 II.4.1. Infografiken als Genre des Wissenstransfers im gesellschaftlichen Interdiskurs............................................... 79 II.4.2. Elementar-pragmatische Darstellungsformen und die Konstruktion soziokultureller Normalität...................... 85 Subjektivierung in symbolischen Kurvenlandschaften............. 103 II.4.3. (a) Kurvensymbole in Texten..................................................... 108 (b) Kurvensymbole in Bildern................................................... 125 II.5. Drei Beispiele: Schönheitschirurgie – Normalgewicht – IT-Nutzung................ 134 (a) „Schönheitschirurgie“ – Zur Verhaltensnormalisierung anhand eines Mode-Trends.....................................................135



(b) „Normalgewicht“ – Die Normalisierung des physischen Körpers zwischen Norm und Statistik............... 137 (c) „IT-Nutzung“ – Zur Normalisierung technologischer Innovationen im Schnittfeld der Diskurse..... 144

III. Zeichen, Medium, Kode: Infografiken als multimodale Sprachsimulakren.................................... 151 III.A. „Symbolbilder“ – Struktur und Funktion verbaler und visueller Bild-Zeichen............................................159 III.A.1. Zum Text-Bereich: Symbolische Phrasen- und Satzstrukturen..... 160 III.A.1.1. Das ästhetische Potenzial verbaler Symbolik (Aktuelle Mediensymbolik und die Symbolisierungsverfahren pragmatischer und institutionalisierter Literatur) ..............................................163 (a) Emblematischer Symboltyp der Frühen Neuzeit................. 166 (b) Klassisch-romantischer Symboltyp (Goethe)........................167 (c) Avantgardistisch-moderner Symbolytp (Kafka).................. 168 (d) Postmoderne Poetologie der Metapher (Schrott)...................170 (e) Symboltypologisches Resümee.............................................174 III.A.2. Zum Bild-Bereich: Struktur, Funktion und System visueller Symbolik.......................................................................176 III.A.2.1. Das „Bild“ in den Wissenschaften..............................................176 III.A.2.2. Die symbolische Grundstruktur................................................ 180 III.A.2.3. Elementabbildende Relationen im Bild-Bereich.........................182 (a) Synekdochisch-repräsentative Elementabbildung (rθ) ..........183 (b) Metaphorische Elementabbildung (rμ)...................................189 (c) Metonymische Elementabbildung (r π).................................. 197 (d) Kombination und Dominantsetzung von Abbildungsrelationen..................................................... 199 (e) Pragmatische Verankerung der Picturae.............................. 203 (f) Symbole primärer und sekundärer Arbitrarität: Heraldische Zeichen und National-/Epochen-/ Kultur-Symbole.................................................................... 204 III.A.2.4. Die Grundfunktionen verbal-visueller Symbolik.......................211 (a) Ästhetisierende Funktion ......................................................212 (b) Repräsentanzfunktion synekdochischer Symbole................217 (c) Wissens- und Sozial-Integration.......................................... 220 (d) Sozialperspektivische Bewertungsfunktion......................... 228 (e) Naturalisierungs-, Mythisierungs und Mirakularisierungsfunktion.......................................... 232 (f) Hyperbolische Funktion....................................................... 236



(g) Affektive Appellfunktion und Funktion pragmatischer Subjekt-Applikation.............................................................. 238 III.A.2.5. Zwischenfazit zum prototypischen Kreationsund Rezeptionsprozess............................................................... 242 (a) Zum Produktions- bzw. Kreationsprozess........................... 242 (b) Zum Rezeptionsprozess........................................................ 251 III.A.2.6. Zum synchronen System der Text- und Bild-Symbolik ........... 252 (a) Sozialperspektivische Grundposition................................... 256 (b) Das Lexikon wichtiger verbaler und visueller Symbolfelder....257 (c) Die Achsen der synchronen Leitsymbole und Leitkatachresen......................................... 278 (d) Die drei topischen Hauptachsen........................................... 286 (e) Generalisierendes Modell der Achsen-Integration............... 304 Zum Diagramm-Bereich............................................................ 307 III.B. III.B.1. Aktuelle Diagrammwissenschaft............................................... 307 III.B.2. Theorieansätze zur Strukturanalyse diagrammatischer Darstellungsformen...................................... 309 (a) Diagramme als „Bilder“ (Peirce, Weidenmann, Schnotz)....310 (b) Diagramme als „Texte“ (Mosenthal/Kirsch).........................314 (c) Eigener Ansatz: Diagramme als emblematische Bild-Text-Kombinationen..................................................... 320 III.B.3. Einzelne Diagrammtypen.......................................................... 323 III.B.3.1. „Logische Bilder“: Qualitative Diagrammtypen....................... 327 III.B.3.1.1. Kartogramm............................................................................... 328 III.B.3.1.2. Struktur- und Prozessdiagramm................................................ 334 (a) Geradlinig-lineare Imposition.............................................. 336 (b) Kreisförmig-zyklische Imposition....................................... 338 (c) Feldförmig-hierarchische Imposition................................... 339 (d) Stereogrammatische Imposition........................................... 342 III.B.3.2. „Zahlenbilder“: Quantifizierende Diagrammtypen................... 345 III.B.3.2.1. Längenproportionale Darstellungsformen: Prototyp Balken- bzw. Säulendiagramm................................... 354 (a) Typologie der Balken- bzw. Säulendiagramme.....................355 (b) Subtypologie am Beispiel des Balkendiagramms................ 356 III.B.3.2.2. Linien- und kurvenproportionale Darstellungsformen: Prototyp Kurvendiagramm........................................................ 358 (a) Einzelne Kurventypen.......................................................... 362 (b) Kurvenverläufe..................................................................... 367 (c) Kurven-Kombinationen........................................................ 369

III.B.3.2.3. Flächenproportionale Darstellungsformen: Prototyp Kreisdiagramm............................................................ 373 (a) Grundstruktur........................................................................374 (b) Junktionstypen: Zur syntaktischen Grammatikalisierung von Kreisdiagramm-Kombinationen.................................... 387 (c) Kombinationstypen und Darstellungsfunktion „Normalität“......................................................................... 397 IV. Fazit: Diagrammatik und Mediensymbolik............................................. 407

Anhang: Beispielmaterial zur Analyse „IT-Nutzung“............................. 433



Literaturverzeichnis................................................................................... 443

I.

Einleitung: Infografi ken als Prototyp diskontinuierlicher/ multimodaler Darstellungsformen

Zum Auftakt sei ein erstes Beispiel aus dem Materialkorpus zitiert:

  Abb. 1: „Begehrte Medien-Jobs“, dpa-infografik, 25.06.2001

Sicherlich ist davon auszugehen, dass sich die alltagsweltliche Lektüre einer Abbildung, wie sie die vorstehende darstellt, auf deren konkreten inhaltlichen Angaben verbaler und visueller Art konzentrieren würde, also im Beispiel auf die statistischen Angaben über die Anzahl Erwerbstätiger in der Medienbranche Deutschlands (mit der Unterteilung in verschiedene Medienbereiche und im Vergleich zwischen den Jahren 1998 und 2000). Es dürfte aber auch leicht nachvollziehbar sein, dass sich eine fachwissenschaftliche, im vorliegenden Fall vorrangig linguistisch bzw. literatur- und medienwissenschaftlich orientierte Untersuchung, nicht auf einen solchen Blick beschränken kann und sie sich stattdessen aufgerufen fühlen muss, ein höheres Abstraktionsniveau anzusteuern. Dies soll schon an dieser Stelle geschehen, indem der visuelle Anteil der vorliegenden Abbildung als Anlass für eine einführende Refl exion über moderne Kommunikationsstrukturen und ihre medialen Darstellungsformen genommen wird. Unter dieser Voraussetzung erlangt die vorliegende Abbildung einen gewissermaßen metarefl exiven Status, nämlich insofern als die cartoonhaft überzeichnete und damit leicht ironisierte Ikonografi e des ‚coolen DJs‘ bzw. ‚Popstars‘ als eine Personifi kation auf die moderne Medienkommunikation und deren imaginäres Ideal eines sich ihrer Klaviatur souverän bedienenden Produzenten und Rezipienten erscheint. Konkret würde dies weiterhin bedeuten können, dass sich die abgebildete Figur als eine Allegorie auf ein Kommunikationssubjekt verstehen lässt, das Sprechen und Zuhören, Lesen und Schreiben sowie

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Kapitel 1

den Umgang mit den Neuen Medien in eigenständiger Weise beherrscht, dabei zugleich analytisch, kreativ sowie sprach- und selbstreflexiv ausgebildet ist und seine Kompetenzen im Rahmen von Ausbildung, Beruf und Alltag selbstbewusst und lustvoll einzusetzen weiß. Und weiterhin, folgte man der Inszenierung der Bild-Diagramm-Montage in diesem Sinne, würde als ‚Prüfstein‘ und ‚Beweis‘ der unterstellten Kompetenzen neben dem Umgang mit der ComputerTastatur offenbar der Umgang mit dem Genre einer sogenannten „diskontinuierlichen Darstellungsform“ bzw. „Infografik“ zu gelten haben, da eines ihrer Exemplare, gleichsam als repräsentatives Genre moderner Kommunikationsverhältnisse, Kopf und Körper des Protagonisten prägend ‚durchzieht‘. In der Tat geht die folgende Studie von der damit ausgesprochenen Prämisse aus, dass das Genre der „diskontinuierlichen Darstellungsform“ einen instruktiven Fall für die Analyse moderner Medienkommunikation1 und darin insbesondere ihres großen sprachlich- und visuell-symbolischen Anteils, das heißt ihrer „Mediensymbolik“ repräsentiert. Der Begriff der „diskontinuierlichen Darstellungsform“ wird in diesem Rahmen als Terminus verwandt, um – kurz gesagt – Phänomene der medialen Verbindung von Text- mit Bild- und Diagramm-Elementen zu bezeichnen und mit dieser begrifflichen Intension als ein Ersatz- bzw. Oberbegriff für eine Reihe anderer Termini zu fungieren, die aus der Perspektive unterschiedlicher Fachwissenschaften und Diskurse für den gleichen oder einen eng verwandten Gegenstandsbereich in Gebrauch sind. So spricht beispielsweise die angloamerikanische Forschung von „noncontinuous texts“ (Mosenthal/Kirsch), was im Rahmen der PISA-Studie und der Bildungsdiskussion in Deutschland mit „diskontinuierliche“ oder „nicht-lineare Texte“ übersetzt wurde (vgl. die PISA-Studien bzw. die Formulierung in den offiziellen Bildungsstandards und Kernlehrplänen des Schulbereichs)2. Im Bereich der deutschen Kognitionspsychologie und Medienpädagogik ist hingegen der Begriff des „abbildhaften“ bzw. „logischen Bildes“ gängig (Weidenmann, 1 2

Vgl. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 2., erweiterte Auflage Opladen 1996. Vgl. Cordula Artelt/Matthias Schlagmüller: Der Umgang mit literarischen Texten als Teilkompetenz im Lesen? Dimensionsanalysen und Ländervergleiche, in: Ulrich Schiefele/Cordula Artelt/Wolfgang Schneider/Petra Stanat (Hg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz, Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000, Wiesbaden 2004, S. 167-196, bes. S. 173-180; Ellen Schaffner/Ulrich Schiefele/ Barbara Drechsel/Cordula Artelt: Lesekompetenz, in: PISA-Konsortium Deutschland (Hg.): PISA 2003, Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs, Münster 2004, S. 93-110, bes. S. 96; Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss, herausgegeben vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, München 2004, S. 14.

Einleitung: Infografiken als Prototyp multimodaler Darstellungsformen

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Schnotz)3, während neuere Ansätze einer interdisziplinären Bildwissenschaft zum Teil den Begriff des „Diagramms“ favorisieren (vgl. Bucher 20074). Von diesen diversen Termini, die nicht nur begrifflich unterschiedlich sind, sondern jeweils ein bestimmtes Element innerhalb der gemeinten inter- bzw. multi-medialen Verbindung akzentuieren, hebt sich nun der Terminus der „Darstellungsform“ insoweit ab, als er gerade nicht ein mediales Element unter anderen bevorzugt, sondern als Oberbegriff für verschiedene mediale Formen wie „Text“, „Bild“ und „Diagramm“ dienen kann. Er besitzt mithin den Vorteil, die Gesamtheit der medialen Formen, die für das entsprechende Genre relevant sind, in den Blick zu bekommen (wenn auch zunächst noch ‚ungewichtet‘). Der Zusatz „diskontinuierlich“ soll anzeigen, dass es um die spezifische Kombination verschiedener Formen geht, nämlich eines Text-Teils mit Bild- bzw. DiagrammElementen. Insoweit damit das infrage stehende Genre von seiner verbalen bzw. textuellen Seite aus angegangen und gleichzeitig sein ‚gemischt‘ medialer bzw. modaler Charakter betont wird, wird eine Begriffswahl terminologisch favorisiert, die wohl nicht zufällig von Seiten einer linguistisch bzw. literatur- und medienwissenschaftlich orientierten Forschungsperspektive aus vorgeschlagen wird (vgl. ähnlich auch z. B. Becker-Mrotzek/Drommler5). Damit wird also im Rahmen dieser Studie der Begriff der „Darstellungsform“ so gewählt, dass er die Grundstruktur des anvisierten Genres bezeichnen soll, die sich auf medialer Ebene als Kombination von verbalen und visuellen Zeichenelementen, auf modaler Ebene als Kombination textueller (‚Text‘), anschaulich-bildlicher (‚Bild‘) sowie abstrakt-schematischer (‚Diagramm‘) Elemente zeigt. Insoweit diese, elementar-literarischen/künstlerischen bzw. elementar-pragmatischen Darstellungs-‚Bausteine‘ und ihre spezifische Kombination im Rahmen massenmedialer Präsentationsformen für einen Wissenstransfer zwischen Expertenkulturen und öffentlichem Allgemeinverständnis 3

4 5

Bernd Weidenmann: Psychische Prozesse beim Verstehen von Bildern, Bern/Stuttgart/Toronto 1988; Wolfgang Schnotz: Wissenserwerb mit logischen Bildern, Tübingen 1992 (Forschungsberichte 58). Sebastian Bucher: Das Diagramm in den Bildwissenschaften, Strömungen der bildwissenschaftlichen Diagrammforschung, Saarbrücken 2008. Vgl. Michael Becker-Mrotzek/Rebecca Drommler: Texte lesen/Ausgangslage, in: Michael Becker-Mrotzek/Erhard Kusch/Bernd Wehnert (Hg.): Leseförderung in der Berufsbildung, Köln 2006, bes. S. 26f. (Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik, H. 2); der Begriff der „Darstellungsform“ setzt sich wiederum aus zwei Begriffen mit je eigener fachterminologischer Geschichte zusammen, vgl. zum Begriff der „Darstellung“: Dieter Schlenstedt: Darstellung, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 831-875; zum Begriff der „Form“: Klaus Städtke: Form, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 462-494.

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Kapitel 1

sorgen und zugleich dominant „symbolisch“ geprägt sind, soll im Folgenden auf der kategorialen Ebene der ‚Form-Elemente‘ von „Mediensymbolik“ die Rede sein. Für die Ebene medialer ‚Gattungen‘ ist zu beobachten, dass sich im allgemeinen Rahmen diskontinuierlicher Darstellungsformen mittlerweile ein spezifisches Genre herausgebildet hat, das das Kennzeichen der Text-Bild-Diagramm-Kombination mit dem Merkmal der hochfrequenten massenmedialen Präsenz regelhaft verbindet: die sogenannte „Informationsgrafik“, kurz „Infografik“ genannt (vgl. Tufte 1983/2001; Knieper 1995; Blum/Bucher 1998; Bucher 2004; Bouchon 20076). Das große strukturelle und funktionale ‚Gewicht‘ der Kennzeichen, die sowohl das Genre diskontinuierlicher Darstellungsformen im Allgemeinen als auch die „Infografik“ im Speziellen konstituieren (mediale/ modale Drei-Einheit bzw. alltagsweltliche/ massenmediale Ubiquität), lassen es zugleich als gerechtfertigt erscheinen, Letzterer einen prototypischen Stellenwert im Gesamtbereich diskontinuierlicher Darstellungsformen einzuräumen und sie als ‚exemplarischen Fall‘ in den Mittelpunkt dieser Untersuchung zu platzieren (vgl. dazu erläuternd auch die nachfolgende Formulierung unter „I.2 Fragestellungen und Hypothesenbildung“). I.1.

Forschungsstand

Eine elaborierte Forschung zum Gegenstand „Infografik“ existiert bislang nicht, ein Faktum, das ebenso für den Bereich der „diskontinuierlichen Darstellungsform“ insgesamt gilt. Das liegt, nimmt man den Begriff im angesprochenen engeren Sinn, nicht zuletzt daran, dass es sich bei dem Beispielgenre „Infografik“ um eine relativ neue Darstellungsform handelt, die erst in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA entstanden ist und von dort aus in die internationale Presse- und Medienlandschaft ausgestrahlt hat, darunter natürlich auch in den deutschsprachigen Bereich. Auf Grund der Entstehung des Genres im Print- und AV-Journalismus ist es denn auch naheliegend gewesen, dass sich – international wie auch national – zunächst die Wissenschaftsdisziplinen der Publizistik sowie der Medien- und Kommunikationswissenschaften des Gegenstands angenommen haben (Tufte 1983/2001; Knieper 1995; Blum/ Bucher 1998; Bucher 2004; Bouchon 2007). Für sie besitzt die Infografik ihre 6

Edward R. Tufte: The Visual Display of Quantitative Information, 2. Auflage, Cheshire/ Connecticut 2001 (zuerst 1983); Thomas Knieper: Infographiken, Das visuelle Informationspotential der Tageszeitung, München 1995; Joachim Blum/Hans-Jürgen Bucher: Die Zeitung: Ein Multimedium, Textdesign – ein Gestaltungskonzept für Text, Bild und Grafik, Konstanz 1998; Hans-Jürgen Bucher: Text und Bild in Printmedien oder: Warum Formulieren und Visualisieren zusammen gehören, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 51 (2004) 1, S. 24-38; Catherine Bouchon: Infografiken, Einsatz, Gestaltung und Informationsvermittlung, Boizenburg 2007.

Einleitung: Infografiken als Prototyp multimodaler Darstellungsformen

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Hauptfunktion darin, Informationen, die in ihrem Zentrum logik- bzw. zahlenbasiert sind, darzubieten, und zwar in möglichst ‚übersichtlicher‘ Form. Entsprechend dieser dominanten Darstellungsfunktion werden bestimmte Kennzeichen als grundlegende Prinzipien der Infografikstruktur hervorgehoben, die zugleich eine Art Fazit der systematisch ausgerichteten Perspektive dieser Forschungsrichtung abgeben (vgl. z. B. Tufte 1983/2001; Knieper 1995; Blum/ Bucher 1998; Bucher 2004; Bouchon 20077): • Kürze (Umfang von in der Regel max. 1 Druckseite), • Anschaulichkeit (= ‚Visualität‘ von Bild- bzw. Diagramm-Bereich), • Klarheit, Präzision und Integration der Darstellungsbereiche (Text, Bild bzw. Diagramm), • Ökonomie/Effizienz (Maximum an Information bei Minimum an Darstellungsraum), • Inhaltliche Angemessenheit/Richtigkeit/Wahrhaftigkeit der Faktenaufbereitung (nach den anerkannten Grundsätzen der Medien-, Bildungs- und Wissenschaftsarbeit). An dieser Stelle sind diese strukturellen Merkmale durch zwei funktionale Kennzeichen zu ergänzen, da es sich bei den Infografiken, wie bei anderen massenmedialen Darstellungsformen auch, nicht bloß um sachlich-objektive Darstellungen handelt: • eine – positiv, negative oder auch ambivalente – Bewertung des Dargestellten, ggf. verbunden mit Formen der individuellen Subjektivierung (= ‚Identifikation‘ bzw. ‚Gegen-Identifikation‘), • ein mit dem Dargestellten implizit oder explizit verbundener Handlungsappell (= Modus der ,pragmatischen Subjekt-Applikation‘). Denkt man die genannten Kennzeichen (Prägnanz, symbolische Anschaulichkeit/ Bildlichkeit, inhaltlich-formale Ökonomie/,Stimmigkeit‘ sowie bewertende Subjektivierung) unter gattungstheoretischer Perspektive weiter, so könnte man im Vergleich der pragmatischen (= faktenorientierten) Infografik mit explizit künstlerisch-literarischen (= fiktionalen) Darstellungsformen geneigt sein, diesem Genre gewissermaßen die Position der ‚Lyrik‘ unter den Sachtextformaten zuzusprechen (im Unterschied zu „Bericht“ und „Kommentar“ als gleichsam ‚kleiner Prosa‘ oder dem „Sachbuch“ als pragmatextuellem ‚Epos‘). Über diese Art strukturell-systematischer Bestimmungen hinaus hat sich die bisherige Forschung aber auch darum bemüht, eine historische bzw. kulturwissenschaftliche Einordnung des Gegenstandsbereichs vorzunehmen. Die 7

Tufte 1983/2001; Knieper 1995; Blum/Bucher 1998; Bucher 2004; Bouchon 2007.

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Forschungsanstrengungen in diesem Bereich sind als noch nicht abgeschlossen zu betrachten und das Forschungsfeld bildet mithin ein wichtiges Desiderat auch zukünftiger Bemühungen, in deren Rahmen noch weitere Entdeckungen zu machen sein werden. Immerhin liegen erste Hypothesen und Ergebnisse hinsichtlich der Gesamtentwicklung sowie einzelner Epochen und Autoren vor. Im Rahmen dieser Studie, die sich auf die gegenwärtige Synchronie diskontinuierlicher Darstellungsformen im deutschsprachigen Raum konzentriert, empfiehlt es sich zum Zwecke einer grundlegenden Orientierung und Spezifizierung des Gegenstandsbereichs, die aktuelle Form der Genre-Konkretisierung von historischen Vorläufern und Einflüssen abzugrenzen und infolgedessen von einer groben Dreiteilung der historischen Entwicklung auszugehen. Unter dieser Prämisse lassen sich diachron folgende drei Großetappen grob unterscheiden (wobei die Skizzierung der ersten beiden Etappen im Wesentlichen ein Referat und ggf. ‚Weiterdenken‘ der bisherigen Forschung darstellt, während das zur aktuellen Entwicklung Gesagte eher eigene Hypothesen und Annahmen darstellen, die in Analogiebildung zur Entwicklung in verwandten Medienbereichen entstanden sind): (1) Historische Vorläufer diskontinuierlicher Darstellungsformate in der Vormoderne

Ein Teil der historischen Darstellungen lässt die Entstehung des Gegenstandsbereichs „Infografik“ zeitgleich mit der Emergenz der ersten Hochkulturen der Menschheit beginnen und parallelisiert in diesem Sinne den Gebrauch von ersten Formen diskontinuierlicher Darstellungen mit anderen bekannten Kennzeichen der Entstehung von Hochzivilisationen (wie z. B. die Merkmale ‚ökonomische Überschussproduktion‘, ‚ausdifferenzierte Arbeits- und Wissensteilung‘, ‚technische Erfindungen‘, ‚soziale Hierarchisierung der Gesellschaft‘, ‚Gründung von Städten‘, ‚Entstehung von Staatswesen mit Recht und Verwaltung‘, ‚Entwicklung von Schrift- und Zahlenwesen, insbesondere Mathematik und Geometrie‘). In diesem Sinne wird eine historische Linie von den frühen Hochkulturen des Orients (Mittlerer Osten, Ägypten) über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis heute gezogen (z. B. Knieper 1995). Als prototypisch für die historischen Frühformen gelten der Gebrauch von Listen, Tabellen und Karten; darüber hinaus werden erste Fälle von Linien- und Kurvendiagrammen angeführt (z. B. bei Nicole d’Oresme im 14. Jh.). Kritisch besehen handelt es sich bei diesen medialen Formen sicherlich um Vor- und Frühformen heutiger diskontinuierlicher Darstellungsformate; soweit die Forschung den speziellen Begriff der „Infografik“ auf diese historischen Objekte anwendet (Knieper 1995), erscheint mir dies als ein tendenzieller Anachronismus, der

Einleitung: Infografiken als Prototyp multimodaler Darstellungsformen

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die typisch modernen Implikationen des heutigen Genres vernachlässigt (siehe unten).

  Abb. 2: Stadtplan von Nippur, Tontafel, Fund von Nuzi, 3500 v.Chr.

 

Abb. 3: Plan einer Goldmine, Papyros, Ägypten, ca. 1320 v.Chr.

 

Abb. 4: Zeitreihendarstellung, 10. Jh. n.Chr.

Abb. aus: Knieper 1995, S. 11-13. (2) Genese des modernen Typs diskontinuierlicher Darstellungsformen um 1800 Ein Großteil der historischen Forschung stimmt in der Einschätzung überein, dass als der eigentliche Anfang diskontinuierlicher Darstellungsformen im modernen Sinne die Zeit um 1800 in Westeuropa gelten muss. In diesem Zusammenhang wird in der Regel auf den Schotten William Playfair als dem ‚Erfinder‘ und gewissermaßen „Diskursivitätsbegründer“ des neuen Darstellungsformats verwiesen (Tufte; Knieper; Liebig8). Denn in der Tat war es Playfair, der in seinen Schriften „The Commercial and Political Atlas“ (1786) und „The Statistical Breviary“ (1801)9 als erster Block-, Kurven- und Kreisdiagramme entwickelt, angewandt und theoretisch begründet hat, und zwar anhand thematischer Felder, die auch heute noch zu den bevorzugten Inhaltsbereichen des Genres gehören (Wirtschaft, Finanzen, Demografie; vgl. Abb. unten).10 Zur gängigen Argumentationsfigur gehört es weiterhin, systematisch-historische ‚Vorläufer‘, ‚Voraussetzungen‘ und ‚Folgen‘ der Erfindung Playfairs zu markieren. Auf Seiten der geschichtlichen Vorläufer wird (neben den entsprechenden Schrift-, Bild- und Drucktechniken) insbesondere auf theoretische und mediale Vorformen verwiesen, die das historisch erst relativ spät entwickelte Format des 8 9

Tufte 1983/2001; Knieper 1995; Martin Liebig: Die Infografik, Konstanz 1999. William Playfair: The Commercial and Political Atlas, London 1786; ders.: The Statistical Breviary, Shewing, on a Principle Entirely New, the Recources of Every State and Kingdom in Europe, London 1801. 10 Vgl. Joachim Krausse: Informationen auf einen Blick – Zur Geschichte der Diagramme, in: Form + Zweck 16 (1999), S. 5-23.