Der Blaue Reiter

Kandinsky und Franz Marc gehören August Macke (1887-1914), Paul Klee .... Neben ihren eigenen Werken können auch Kunstwerke von Malern wie Henri.
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Anja Göbel

Der Blaue Reiter - Schönberg und Kandinsky im Wandel der Zeit Berührungspunkt zwischen Musik und Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts

disserta Verlag

Göbel, Anja: Der Blaue Reiter - Schönberg und Kandinsky im Wandel der Zeit: Berührungspunkt zwischen Musik und Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Hamburg, disserta Verlag, 2013 Buch-ISBN: 978-3-95425-172-8 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-173-5 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2013 Covermotiv: © Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

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„Das Bild ist ein äußerer Ausdruck eines inneren Eindrucks in malerischer Form.“ Wassily Kandinsky

Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 2 Der Blaue Reiter

9 13

Der Blaue Reiter - Ein Almanach entsteht

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2.2 Die „Neue Künstlervereinigung München“

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2.3 Der Weg zum Erfolg

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2.4 Ziele und Bestrebungen der Künstlergruppe

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2.5 „Beide liebten wir Blau, Marc Pferde, ich – Reiter.“

22

2.1

3 Der Maler Wassily Kandinsky

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3.1 Ein Leben zur Jahrhundertwende

25

3.2 Kandinskys Malerei – Ein Weg zur Abstraktion

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3.2.1 Impression III (Konzert)

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3.2.2 Romantische Landschaft

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3.2.3 Komposition V

39

3.3 Über das Geistige in der Kunst 4 Arnold Schönberg - Ein Komponist unter Malern

40 49

4.1 Ein Musiker zwischen Tönen und Farben

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4.2 Zweites Streichquartett op. 10

55

4.2.1 Erster Satz

63

4.2.2 Zweiter Satz

64

4.2.3 Dritter Satz

66

4.2.4 Vierter Satz

69

4.3 Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire op. 21 4.3.1 Der Mondfleck 5 Arnold Schönberg und Der Blaue Reiter 5.1 Der Maler Arnold Schönberg

76 86 91 91

5.1.1 „Die Bilder Schönbergs zerfallen in zwei Arten.“

102

5.1.2 „Sie wissen vielleicht nicht, daß ich auch male.“

107

5.3 Das Verhältnis zum Text

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5.4 Die Komposition Herzgewächse op. 20

116

5.4.1 „Das ist der Gipfelpunkt der Musik!“

123

6 Zusammenfassung

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7. Anhang

133

7.1 Abbildungen

133

7.2

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Noten

7.2.1 Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire op. 21 7.2.1.1

Mondestrunken

177 181

7.2.1.2 Der Mondfleck

187

7.2.2 Herzgewächse op. 20

193

8 Literatur- und Quellenverzeichnis

203

8.1 Bücher (schriftliche Literatur)

203

8.2 Internetquellen

205

9 Abbildungsnachweis

207

9.1 Abbildungen

207

9.2 Noten

210

10 Personenregister

211

Danke

215

1 Einleitung Arnold Schönberg und Wassily Kandinsky: Zwei einflussreiche Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts Diese Aussage ist wohl schwerlich zu widerlegen. Trotz der bereits umfassenden Literatur, die sowohl zum Leben, als auch zum künstlerischen Schaffen der beiden Künstler im Laufe des letzen Jahrhunderts erschienen ist, bleiben dennoch zahlreiche Fragen unbeantwortet. Ein präziser Blick in die Vergangenheit gibt zunächst Aufschluss darüber, dass, ausgehend vom 19. Jahrhundert, der Expressionismus kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat. Diese Tatsache äußert sich vor allem in Bezug auf die bildenden Künste1, welche sich im aufkommenden 20. Jahrhundert in neuartigen Ausprägungen zu etablieren versuchten. Es schien also nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die heranwachsenden expressionistischen Ausdrucksformen auch die Grundgedanken der Musik und der Kunst beeinflussen sollten. Doch wie kommt ein Meister der Komposition plötzlich dazu, sich sechs Jahre seines Lebens der Malerei zu widmen? Ist es letztlich der immer größer werdende Drang nach künstlerischer Expression, der Schönberg dazu veranlasst hat, eine weitere Kunstform als Ausdrucksmittel seiner Empfindungen heranzuziehen? Oder ist es gerade umgekehrt, und das Bedürfnis nach innerem Ausdruck verlangt unwillkürlich nach einer Erweiterung der künstlerischen Ausdrucksformen? „Schönbergsche Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo die musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern rein seelische. Hier beginnt die »Zukunftsmusik«.“2

1

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Der Begriff „Bildende Kunst“ bezieht sich seit dem frühen 19. Jahrhundert im Allgemeinen auf visuell gestaltete Künste und stellt somit einen Sammelbegriff mehrerer Gattungen dar. In diesem Kontext bezieht sich der Begriff jedoch vorrangig auf die Gattung der Musik und der in der Kunstgattung zu findenden Malerei. Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 1911; zit. nach Kandinsky, Wassily. Über das Geistige in der Kunst. Benteli Verlag. Bern. 1952. S. 49.

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Ausgehend von diesen Überlegungen drängt sich nun die Frage auf, ob Musik letzten Endes nur Malerei ohne Farben, und Malerei nur Musik ohne Klang ist? Inwieweit können die Künste der beiden Männer überhaupt separat voneinander betrachtet werden? Da eine Frage bekanntlich immer mehrere Fragen aufwirft, ergibt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach den Berührungspunkten der beiden Kunstformen. An welcher Stelle ist danach zu suchen? Gibt es darüber hinaus überhaupt eine bedeutungsvolle Verbindung? Nehmen wir an, die Fragen ließen sich hypothetischerweise mit einem einfachen „Ja“ beantworten; Ist die Antwort dann tatsächlich im Leben und Wirken der beiden Künstler zu finden? Sicher ist zunächst nur, dass dem im Jahre 1912 erschienen Almanach ein wesentlicher Anteil an der Verbreitung der aufkommenden expressionistischen Intentionen zu verdanken ist. Wassily Kandinsky und Franz Marc haben viel Kraft in die Fertigstellung und Herausgabe des Blauen Reiters investiert. Mit Erfolg, wie bis heute ohne Zweifel behauptet werden kann. Dass es sich bei dem Blauen Reiter um den Titel des Almanachs handelt, sollte an dieser Stelle deutlich geworden sein. Die korrekte Zuordnung des Terminus „Der Blaue Reiter“ erweist sich aufgrund seiner äquivoken Bedeutungen gelegentlich als ein schwieriges Unterfangen. Daher sind folgende Fragen durchaus berechtigt: War „Der Blaue Reiter“ nicht eine Künstlergruppe zu Beginn des 20. Jahrhunderts? Gibt es nicht auch ein Gemälde mit selbigem Namen? - Hieß nicht auch die Ausstellung einer Künstlervereinigung „Der Blaue Reiter“? Die Antwort wird jedoch immer dieselbe sein. Ob Kunstwerk, Redaktion, Ausstellung oder kunsthistorische Schrift, „Der Blaue Reiter“ hat jeden dieser Begriff nachhaltig geprägt und auf seine individuelle Weise in der Geschichte verankert. Die vorliegende Arbeit versucht, durch eine vielseitige Betrachtung dem Begriff des „Blauen Reiters“ in all seinen Erscheinungsformen gerecht zu werden.

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Die Begegnung von Arnold Schönberg und Wassily Kandinsky gleicht in ihrem innersten Wesen einer Zusammenkunft auf höchst geistiger Ebene. Diesbezüglich scheint die Beziehung zwischen Musik und Malerei im Leben der beiden Künstler die vollkommenste Form der Kunst überhaupt darzustellen. „Sie sind ein so voller Mensch, daß Sie die geringste Erschütterung immer zum Überfließen veranlaßt … Ich bin sehr stolz, Ihre Achtung gefunden zu haben und freue mich riesig über Ihre Freundschaft.“3

3

Arnold Schönberg: Brief an Wassily Kandinsky, 08.03.1912; zit. nach Hahl-Koch, Jalena (Hrsg.). Arnold Schönberg, Wassily Kandinsky: Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begegnung. Deutscher Taschenbuch Verlag. München. 1983. S. 6.

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2 Der Blaue Reiter 2.1

Der Blaue Reiter - Ein Almanach entsteht

In dem ersten Kapitel der Arbeit möchte ich den Lesern und Leserinnen zunächst einen detaillierten Einblick in die Geschichte des „Blauen Reiters“ ermöglichen. Diesbezüglich wird sowohl die Entstehung als auch die Wirkung der wichtigsten programmatischen Schrift sowie der damit in Verbindung stehenden Vereinigung talentierter Maler, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt der anfänglichen Betrachtungen stehen. „Der Blaue Reiter“ ist eine Gemeinschaft von expressionistischen, später auch abstrakten Malern und Künstlern, welche sich 1911 in München um Wassily Kandinsky zusammengeschlossen haben. Der damaligen Zeit entsprechend unterliegt die Formierung des „Blauen Reiters“ überwiegend expressionistischen Grundgedanken und Zielsetzungen. Zahlreiche Konzeptionen und Entwürfe zur Umsetzung der angestrebten Leitgedanken4 entstehen bereits in den ersten Monaten nach der Gründung des „Blauen Reiters“. Eine wesentliche Verbindung der Künstler stellt zunächst die gemeinsame Sympathie für mittelalterliche Kunst und den Primitivismus dar. Weiterhin zeigen alle Künstler gesteigertes Interesse an zeitgenössischer französischer Kunst, welche maßgeblich durch den Fauvismus5 und den Kubismus bestimmt war. Kandinsky kann unter einer Vielzahl von deutschen und russischen Malern auch Franz Marc (1880-1916) für seine Künstlergruppe gewinnen. Im Laufe der Entwicklung zeigt sich jedoch immer deutlicher, dass „Der Blaue Reiter“ nicht nur den Namen der Künstlergruppe selbst repräsentieren soll. Wassily Kandinsky und Franz Marc beschließen daher zeitnah die Herausgabe eines gleichnamigen Almanachs6, welcher eines der bedeutendsten Künstlermanifeste der modernen Kunst darstellen sollte. Die Herausgabe der Schrift planen die beiden Künstler zu Beginn des Jahres 1912. In dem Almanach sollen Texte, wissenschaftliche Abhandlungen sowie Bildbeiträge über Malerei, Musik und Theater der Künstler des „Blauen Reiters“ vorgestellt und abgedruckt werden. Die Künstlergemeinschaft setzt sich in den Jahren ihres Bestehens aus einer Vielzahl

4

5 6

Auf die Grundgedanken, Zielsetzungen, Konzeptionen und Entwürfe wird im Kapitel 2.4 näher eingegangen. Stilrichtung der französischen Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Periodische, meist einmal im Jahr erscheinende Schrift zu einem thematisch abgegrenzten Fachbereich (Nachschlagewerk).

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bedeutender Mitglieder verschiedenster Kunstströmungen zusammen. Neben Wassily Kandinsky und Franz Marc gehören August Macke (1887-1914), Paul Klee (18771962), der Komponist Arnold Schönberg (1874-1951), Heinrich Campendonk (18891957), Alfred Kubin (1877-1959), Alexej von Jawlensky (1864-1941), Gabriele Münter (1877-1962), Marianne von Werefkin (1860-1938) sowie David (1882-1967) und Wladimir (1886-1917) Burliuk dem „Blauen Reiter“ an. In Bezug auf die Herausgabe des Almanachs im kommenden Jahr schreibt Franz Marc am 08.09.1911 vertraulich an August Macke die folgenden Zeilen: „Mein letzter Brief über die Vereinigung war nur ein kleines Präludium zu weit größeren Plänen, die Kandinsky und ich momentan aushecken: {ich brauche Dich wohl nicht extra zu bitten, gegen jedermann davon vorerst zu schweigen?}. Wir wollen einen „Almanach“ gründen, der das Organ aller neuen echten Ideen unserer Tage werden soll. Malerei, Musik, Bühne etc. […] an Musikern haben wir Schönberg und einige Moskauer, […]. Es soll vor allem durch vergleichendes Material viel erklärt werden […]“7 Der Briefausschnitt von Marc verdeutlicht sein gesteigertes Interesse an dem geplanten Almanach. Er bezeichnet ihn darüber hinaus als „Organ aller neuen echten Ideen unserer Tage“. Das Verlangen in Bezug auf Veränderungen und Neuerungen in den Bereichen „Malerei, Musik, Bühne etc.“ ist diesbezüglich sehr deutlich zu erkennen. Der Drang etwas „Neues“, noch nie da Gewesenes zu erschaffen, schien unaufhaltsam in den Gedanken der Künstler voranzuschreiten. Der Komponist Arnold Schönberg, auf den Marc in seinem Brief ebenfalls Bezug nimmt, stellt hinsichtlich der Entstehung des Almanachs und der damit in Verbindung stehenden Weiterentwicklung der Kunstgeschichte den wohl geeignetsten Zusammenhang zwischen Malerei und Musik dar. Schönberg spiegelt als hervorragender Komponist und „laienhaft“ interessierter Maler beide Künste ausdrucksvoll in einer Person wider. Dementsprechend verkörpert er, neben den Malern der Künstlergemeinschaft, ein bedeutungsvolles Mitglied des „Blauen Reiters“. In diesem Zusammenhang beschreibt Wassily Kandinsky am 16.11.1911 in einem Brief an Arnold Schönberg seine bisherigen Vorstellungen wie folgt: 7

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Franz Marc: Brief an August Macke, 8.9.1911; zit. nach Hüneke, Andreas (Hrsg.). Der Blaue Reiter. Dokumente einer geistigen Bewegung. Reclam-Verlag. Leipzig. 1989. S. 78.

„Nun der Blaue Reiter! Der erscheint ja erst Mitte Januar, vielleicht sogar Ende. Und deshalb haben sie noch einen sehr guten Monat für ihren Artikel. Erste No. ohne Schönberg! Nein, das will ich nicht. Wir werden eben 3-4 musik. Artikel haben – Frankreich, Russland. Der eine ist groß, heißt ‚Musikwissenschaft‘, stammt von Moskau u. stellt vieles auf den Kopf. Geben Sie uns 10-15 Seiten! Wie gesagt – ohne Schönberg darf es nicht sein.“8 Kandinskys Formulierung „[…] ohne Schönberg darf es nicht sein.“, gibt eindeutig zu verstehen, dass die Mitwirkung Schönbergs am Almanach für ihn von außerordentlicher Bedeutung ist. Schönbergs Mitarbeit am Blauen Reiter impliziert in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung eines „Schönberg-Artikels“. Durch den Beitrag des Komponisten bestand demzufolge die Möglichkeit, der geplanten Schrift eine weitere kunstbezogene Nuance zu verleihen. „Der Blaue Reiter“ setzt mit seinen neuen Ideen, Vorstellungen und Innovationen ein beträchtliches Zeichen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die damit in Verbindung stehende „Erneuerung“ der vorherrschenden Kunstgeschichte rückt infolgedessen immer näher. Allerdings ist „Der Blaue Reiter“ nicht die erste Künstlergemeinschaft, die ein gesteigertes Interesse an der Verbreitung und Veränderung zeitgenössischer Kunst aufweist. Aus diesem Grund widmet sich der folgende Abschnitt der Arbeit der Zeit vor der Gründung des „Blauen Reiters“.

2.2 Die „Neue Künstlervereinigung München“ Bevor Wassily Kandinsky und Franz Marc sich für die Gründung des „Blauen Reiters“ entschieden, sind beide Künstler aktive Mitglieder in der „Neuen Künstlervereinigung München“. Bereits zwei Jahre vor der Entstehung des „Blauen Reiters“, im Jahre 1909, vereinigt sich eine Gruppe mit vornehmlich russischen Künstlern zu der „Neuen Künstlervereinigung München“. Neben Wladimir von Bechtejeff (1878-1971), Adolf Erbslöh (1881-1947), Gustav Freytag (1816-1895), Thomas von Hartmann (18851956), Alexander Kanoldt (1881-1939), Charles Johann Palmié (1863-1911), Alfred Kubin und Gabriele Münter, zählen Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky zu den Gründungsmitgliedern der „Neuen Künstlervereinigung München“. Diese gilt bis 8

Wassily Kandinsky: Brief an Arnold Schönberg, 16.11.1911; zit. nach Hüneke. 1989. S. 89.

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heute als unmittelbarer Vorläufer des „Blauen Reiters“. Kandinsky zeigt sich bereits zu dieser Zeit sehr engagiert vor allem in Bezug auf die Verbindung verschiedenster künstlerischer Bereiche. Als Vorsitzender der Künstlervereinigung schenkt er der Gruppe seine größte Aufmerksamkeit. Ein nennenswertes Merkmal der Vereinigung ist das zielgerichtete Streben nach fundamentalen Leitgedanken hinsichtlich zeitgenössischer Kunst. Beispielsweise bildet das Prinzip der inneren Wahrnehmung für die Künstlergruppe die Basis ihres künstlerischen Daseins. Dementsprechend stützt sich Kandinsky insbesondere auf romantische Traditionen und Grundsätze des Jugendstils. Kandinskys Grundgedanken bezüglich seiner künstlerischen Ausprägung stoßen jedoch bei einem Großteil der Gruppe auf wenig Verständnis. Die zunehmend abstrakter werdenden Kunstwerke Kandinskys verursachen letztendlich einen kaum mehr vermeidbaren Streit zwischen den Mitgliedern der Künstlervereinigung. Nach nur zwei Ausstellungen der „Neuen Künstlervereinigung München“ wird das Verhältnis zwischen den Künstlern immer angespannter und gereizter. Angesichts der ansteigenden Unstimmigkeiten in der Gruppe spielen Kandinsky und Marc daher seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, die Künstlervereinigung zu verlassen. Eine sogenannte „Vierquadratmeter-Klausel“ solle die zwei Maler bei ihrem Vorhaben erfolgreich unterstützen. Kandinsky veranlasst aus diesem Grund bereits nach kurzer Zeit eine Änderung der Satzung dahin gehend, dass kein Gemälde größer als vier Quadratmeter sein darf. Wie gewünscht, wird die Aberration noch vor Beginn der dritten Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung München“ ordnungsgemäß in die Satzung übernommen. Da Kandinsky Marc bereits für sein zukünftiges Vorhaben, die Gründung einer neuen Künstlergruppe9, gewonnen hat, konnte er ihn diesbezüglich auch über seine Pläne zur Herausgabe eines Almanachs in Kenntnis setzten. Kandinskys Gemälde Komposition V (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 1) löst im Jahre 1911 einen endgültigen „Bruch“ innerhalb der Vereinigung aus. Auf Konfrontation ausgerichtet, malt Kandinsky ein über vier Quadratmeter großes10 abstraktes Gemälde und meldet dieses selbstbewussterweise für die dritte Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung München“ an. Wie zu erwarten, musste das Werk von der Kommission hinsichtlich seiner „Übergröße“ satzungsgemäß abgelehnt werden.

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Hierbei handelt es sich bereits um die Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“. Die Komposition V ist ein Ölgemälde auf Leinwand mit einer Größe von 190 x 275 cm.

Noch im selben Jahr verlassen Franz Marc und Wassily Kandinsky die „Neue Künstlervereinigung München“. Bereits 12 Monate später, im Jahre 1912, folgen ihnen weitere Mitglieder der Künstlergruppe. Der Zerfall der „Neuen Künstlervereinigung München“ war infolgedessen kaum mehr aufzuhalten. Das Gemälde Komposition V wird demzufolge seinem Untertitel Das Jüngste Gericht, wie es Kandinsky selbst bezeichnet hat, in jeglicher Hinsicht gerecht. Die angestrebte Eigenständigkeit, die erreichte Unabhängigkeit und die künstlerische Freiheit, welche Kandinsky mit dem Verlassen der „Neuen Künstlervereinigung München“ erlangt, soll infolgedessen durch die Gründung des „Blauen Reiters“ noch nachhaltiger zum Ausdruck gebracht werden.

2.3 Der Weg zum Erfolg Nachdem Wassily Kandinsky der skurrile Ausstieg aus der „Neuen Künstlervereinigung München“ mit Bravour gelungen ist, erfolgt die Gründung des „Blauen Reiters“ ohne unnötige Verzögerungen. Da Kandinsky und Marc schon während ihrer Zeit in der „Neuen Künstlervereinigung München“ mit der Planung der neuen Künstlergruppe begonnen hatten, ließ auch die erste Ausstellung nicht lange auf sich warten. Bereits am 18. Dezember 1911 findet die erste öffentliche Präsentation der Redaktion „Der Blaue Reiter“ in der „Modernen Galerie Heinrich Thannhauser“ in München statt (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 2). Die beiden Initiatoren Kandinsky und Marc sind nunmehr äußerst bestrebt, die Ausstellung erfolgreich zu bestreiten. Insgesamt werden den Besuchern 49 Exponate präsentiert. Neben ihren eigenen Werken können auch Kunstwerke von Malern wie Henri Rousseau (1844-1910) oder Robert Delaunay (1885-1941) in der Ausstellung bestaunt werden. Während der gesamten Ausstellung erfüllen Klänge zeitgenössischer Musik den Raum. Mit ihrem fortschrittlichen Charme versetzten sie die Besucher förmlich in eine zukunftsweisende Atmosphäre. Veröffentlichungen von Alban Berg (1885-1935), Arnold Schönberg und Anton von Webern (1883-1945) sind derzeit von besonderem gesteigertem Interesse. Herzgewächse11, eine Komposition von Arnold Schönberg, sorgt unter 11

Herzgewächse op. 20 ist eine Komposition von Arnold Schönberg aus dem Jahr 1911.

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anderem für die musikalische Umrahmung der Ausstellung. Eine genauere Betrachtung dieses Themenschwerpunktes erfolgt in Kapitel 5 der Arbeit unter Berücksichtigung des Notentextes. Dessen ungeachtet soll bereits an dieser Stelle daraufhin gewiesen werden, dass die Partitur der Komposition vollständig im Almanach veröffentlicht worden ist. Schönbergs atonal gearbeiteten Kompositionen spiegeln sich jedoch nicht nur in den abstrakten Klängen seiner Musik wider, sondern ebenso in seinen verstärkt expressionistisch wirkenden Bildern, welche ebenfalls in der Galerie vertreten waren. Auf Schönbergs Leidenschaft zur Malerei wird in Kapitel 4 gesondert eingegangen, womit an dieser Stelle auf nähere Ausführungen verzichtet werden kann. Unter Berücksichtigung der damaligen Umstände wird deutlich, dass die erste Ausstellung des „Blauen Reiters“ nicht nur unter künstlerischem Aspekt zu stehen schien, sondern gleichermaßen eine Gegendemonstration der zeitgleich stattfindenden Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung München“ darstellen sollte12. Die zweite Ausstellung der Künstlergemeinschaft „Der Blaue Reiter“, zwischen Februar und März 1912, präsentiert bereits 350 Werke von 30 verschiedenen Künstlern. Nach den zu verzeichnenden Erfolgen schließen sich in den kommenden Jahren Ausstellungen in ganz Deutschland an. „Der Blaue Reiter“ bildet somit neben der „Brücke“13 die bedeutsamste Künstlergruppe in der frühen Phase des deutschen Expressionismus.

2.4 Ziele und Bestrebungen der Künstlergruppe Die außergewöhnliche Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksformen wird im folgenden Zitat von Franz Marc aus dem Jahre 1912 besonders hervorgehoben: "Das […] Buch [...] umfaßt die neueste malerische Bewegung in Frankreich, Deutschland und Rußland und zeigt ihre feinen Verbindungsfäden mit der Gotik und den Primitiven, mit Afrika und dem großen Orient, mit der so ausdrucksstarken ursprünglichen Volkskunst und Kinderkunst, besonders

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Die Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung München“ fand ebenfalls am 18. Dezember 1911 bis zum 1. Januar 1912 in der Galerie Thannhauser in München statt. Künstlervereinigung von 1905 bis 1913.