David Hume nach dreihundert Jahren

Autoren wie Johann Nicolaus Tetens, Ernst Platner, Ludwig Heinrich Jakob ... Anik Waldow untersucht in ihrem Aufsatz „Verstehen durch Emotionen. Hume zum ...
1MB Größe 9 Downloads 480 Ansichten
David Hume nach dreihundert Jahren Brosow | Klemme (Hrsg.)

David Hume (1711-1776) gehört zu den zentralen Gestalten der europäischen Aufklärung. Die in seinen Schriften entwickelten Ideen und Argumente wirken noch heute. Berühmt sind seine Ausführungen zur Kausalitätstheorie, seine Theorie der Induktion, seine Kritik am Wunderglauben und an den Gottesbeweisen, sein Versuch, die Ethik nicht auf der Vernunft, sondern auf dem Gefühl zu gründen, seine kompatibilistische Auffassung von Freiheit und Notwendigkeit, seine Kritik an der substantialistischen Auffassung der menschlichen Seele, an deren Stelle er die Lehre vom Selbst als einem Bündel von Wahrnehmungen setzt, sowie sein Versuch, den wissenschaftsaffinen Empirismus mit dem Skeptizismus zu versöhnen. In ihrem Anspruch, Prinzipien der menschlichen Natur aufweisen zu können, die einerseits auf Beobachtung und Erfahrung beruhen und andererseits erklären, warum wir bestimmte Aussagen rechtfertigen können, andere dagegen nicht, beruht die zeitlose Aktualität der Hume’schen Philosophie. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine im Sommersemester 2011 am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz aus Anlass von Humes 300. Geburtstag veranstaltete Ringvorlesung zurück.

BrosowKlemme_RZ.indd 1

Frank Brosow | Heiner F. Klemme (Hrsg.)

David Hume nach dreihundert Jahren

Historische Kontexte und systematische Perspektiven

09.09.14 08:23

Brosow/Klemme (Hrsg.) · David Hume nach dreihundert Jahren

Frank Brosow, Heiner F. Klemme (Hrsg.)

David Hume nach dreihundert Jahren Historische Kontexte und systematische Perspektiven

mentis MÜNSTER

Einbandabbildung: »David Hume« (nach Allan Ramsay) von Eckhard Bremer (1992), © H. F. Klemme

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-835-0 (Print) ISBN 978-3-89785-646-2 (E-Book)

Inhalt Frank Brosow & Heiner F. Klemme Einleitung ............................................................................................................... 6 Udo Thiel Bewusstsein und der Geist als ‚Bündel‘ von Perzeptionen ..........................11 Falk Wunderlich Gibt es eine ‚Impression des Selbst‘? Humes Theorie des Geistes in der deutschen Debatte des 18. Jahrhunderts .............................................26 Günter Zöller ‚[D]as Element aller Erkenntniß und Würksamkeit‘. Friedrich Heinrich Jacobi über David Hume über den Glauben................54 Martin Bondeli Hume im anti-skeptizistischen Diskurs der frühen nachkantischen Systemphilosophie ..............................................................................................71 Jens Kulenkampff Kant antwortet Hume: Die Analytik des Schönen im Lichte von Humes Abhandlung ‚Of the Standard of Taste‘ ..........................................................93 Reinhard Brandt Hume, Freiheit und Notwendigkeit .............................................................. 116 Anik Waldow Verstehen durch Emotionen: Hume zum Problem des Fremdpsychischen............................................... 128 Herlinde Pauer-Studer Humes Moraltheorie: Von Übereinkünften und moralischen Empfindungen............................. 149 Frank Brosow Die Tugend eines gemässigten Skeptikers. Hume über ‚favourite principles‘ in der Moralphilosophie ....................... 168 Dieter Birnbacher Aufklärung kompakt: Humes ‚Of Suicide‘................................................... 203 Zu den Autoren................................................................................................ 222 Personenregister ............................................................................................... 226

EINLEITUNG Frank Brosow & Heiner F. Klemme David Hume (1711-1776) gehört zu den zentralen Gestalten der europäischen Aufklärung. Die in seinen Schriften entwickelten Ideen und Argumente wirken noch heute. Berühmt sind beispielsweise seine Ausführungen zur Kausalitätstheorie und Theorie der Induktion, seine Kritik am Wunderglauben und an den Gottesbeweisen, sowie sein Versuch, die Ethik nicht auf der Vernunft, sondern auf dem Gefühl zu gründen. Berühmt ist auch seine kompatibilistische Auffassung von Freiheit und Notwendigkeit und fast schon legendär seine Kritik an der substantialistischen Auffassung der menschlichen Seele, an deren Stelle er die Lehre vom Selbst als einem Bündel von Wahrnehmungen setzt. Atemberaubend ist sein Versuch, den wissenschaftsaffinen Empirismus mit dem Skeptizismus zu versöhnen, indem er einerseits zwar unsere Selbst- und Welt-Erkenntnis durch die empirische (experimentelle) Methode der Beobachtung zu begründen versucht, sich andererseits aber von den Skeptikern darüber belehren lässt, dass unsere Erfahrungen prinzipiell revisionsfähig sind. Es gibt keine irrtumsresistenten Tatsachenurteile. Unsere Urteile beruhen nicht auf unveränderlichen Prinzipen einer im weiteren Sinne so zu verstehenden Vernunft, sondern auf dem Glauben („belief“). Hume ist zugleich Empirist und Skeptiker, und er ist ein Philosoph der menschlichen Natur, der nach den Gründen fragt, die unsere Urteile rechtfertigungsfähig machen. Dieses Verlangen, Aufschluss über die letzten rechtfertigungsfähigen Ursachen unserer Überzeugungen zu finden, verweist auf das zentrale Motiv seiner Philosophie. In seinem Jugendwerk, dem dreibändigen Treatise of Human Nature (1739/40), äußert sich Hume darüber wie folgt: Ich kann nicht umhin, Verlangen danach zu haben, mit den Prinzipien des moralisch Guten und Schlechten, der Natur und der Grundlage der Regierung und den Ursachen der verschiedenen Leidenschaften und Neigungen vertraut zu sein, die mich bewegen und regieren. Ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken, ein Objekt zu billigen und ein anderes zu missbilligen, ein Ding schön und ein anderes deformiert zu nennen, über Wahrheit und Falschheit, Vernunft und Torheit zu urteilen, ohne die Prinzipien zu kennen, denen ich folge. Ich bin um den Zustand der gelehrten Welt besorgt, die unter einer so bedauernswerten Unkenntnis in allen diesen Angelegenheiten leidet. Ich fühle in mir einen Ehrgeiz entstehen, etwas zur Instruktion der Menschheit beizutragen und mir einen Namen durch meine Erfindungen und Entdeckungen zu machen. Diese Gefühle entstehen natürlicherweise in meiner gegenwärtigen Verfassung, und sollte ich mich bemühen, sie zu ver-

Einleitung

7

treiben, indem ich mich einer anderen Beschäftigung oder Zerstreuung zuwende, fühle ich, dass ich an Freude einbüßen würde. Dies ist der Ursprung meiner Philosophie.1

Wer wie Hume nach den Ursachen und Gründen seiner Überzeugungen fragt, ist nicht mehr bereit, ungeprüft Autoritäten zu folgen. Und er (oder sie) ist zugleich bereit, anderen Personen nur solche Behauptungen mitzuteilen und solche Handlungen von ihnen zu verlangen, von denen er (oder sie) diesen Personen gegenüber Rechenschaft abgeben kann. Demnach hat das individuelle Interesse an der Erkenntnis von Ursachen und Gründen objektive Folgen für Wissenschaft und Gesellschaft. Objektiv in dem Sinne, dass wir nur solche Urteile mit dem Anspruch auf objektive Geltung erheben können, die in den Augen der Anderen rechtfertigungsfähig sind. Hume ist davon überzeugt, dass dies allein auf Aussagen zutreffen kann, die auf Beobachtung und Erfahrung beruhen. In diesem Anspruch der Hume’schen Philosophie, Prinzipien der menschlichen Natur aufweisen zu können, die einerseits auf Beobachtung und Erfahrung beruhen und andererseits erklären, warum wir bestimmte Aussagen rechtfertigen können, andere dagegen nicht, beruht ihre zeitlose Aktualität. Diese Philosophie steht für eine Variante der Aufklärung, deren nähere Kenntnisnahme auch für diejenigen lohnend erscheint, die im Gestus ihrer finalen Überwindung auftreten.2 Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine im Sommersemester 2011 am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz veranstaltete Ringvorlesung zu den historischen Kontexten und systematischen Perspektiven der Philosophie Humes zurück. In seinem Aufsatz „Bewusstsein und der Geist als ‚Bündel‘ von Perzeptionen“ untersucht Udo Thiel das Verhältnis von Humes Bewusstseinsbegriff zu seiner Bündeltheorie des Geistes. Thiel zufolge leugnet Hume die Existenz eines Ich jenseits der Perzeptionen nicht, sondern hält es für möglich, dass es ein Subjekt jenseits der Perzeptionen gibt. Thiel widerspricht einerseits der traditionellen Interpretation, nach der Humes Bündelauffassung des Geistes als ontologische These aufzufassen ist, welche die reale Essenz

_____________ 1

2

David Hume: A Treatise of Human Nature, hg. v. L. A. Selby-Bigge, Oxford 1888, 2nd Edition, w. text revised a. variant readings by P. H. Nidditch, Oxford 1978, S. 270f.; ins Deutsche übersetzt v. H. F. Klemme. Dies trifft beispielsweise auf John McDowell und Philippa Foot zu, die im Bereich der Ethik für eine Rückkehr zur aristotelischen Ethik plädieren. Siehe dazu kritisch Heiner F. Klemme: „John McDowell und die Aufklärung. Eine Kritik der neo-aristotelischen Ethik“, in: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, hg. v. H. F. Klemme, Berlin, New York, 2009, S. 369-385; englische Fassung: „John McDowell and the Enlightenment. A Critique of Neo-Aristotelian Ethics“, in: The Fate of Reason. Contemporary Understanding of Enlightenment, hg. v. H. Feger, Würzburg 2013, S. 213-221, sowie ders., „Foots Kritik des ethischen Subjektivismus. Eine Replik“, in: Natürlich gut. Aufsätze zur Philosophie Philippa Foots, hg. v. T. Hoffmann u. M. Reuter, Baden-Baden 2010, S. 105-119.

8

Frank Brosow & Heiner F. Klemme

des Geistes darstellen soll, andererseits jedoch auch der These von Galen Strawson, nach der Hume ein unmittelbares Selbstbewusstsein annimmt. Nach diesen systematischen Betrachtungen setzt sich Falk Wunderlich in seinem Aufsatz „Gibt es eine ‚Impression des Selbst‘? Humes Theorie des Geistes in der deutschen Debatte des 18. Jahrhunderts“ mit dem Einfluss auseinander, den Humes Bündeltheorie des Geistes auf deutschsprachige Autoren wie Johann Nicolaus Tetens, Ernst Platner, Ludwig Heinrich Jakob und Johann Bernhard Merian hatte. Wunderlich zeigt auf, dass die Auseinandersetzungen um Kants Philosophie für Platner, Jakob und Merian, nicht jedoch für Tetens, das Motiv der Beschäftigung mit Humes Theorie des Geistes bilden. Dabei argumentiere nur Jakob von einem kantianischen Standpunkt aus, während Platner und Merian einen moderaten Skeptizismus vertreten, den sie gegen einen vermeintlich radikaleren Skeptizismus, wie sie ihn von Hume und Kant vertreten sahen, stark machten. Günter Zöller setzt die philosophiehistorische Betrachtung der Rezeptionsgeschichte der theoretischen Philosophie Humes fort. In seinem Beitrag „‚[D]as Element aller Erkenntniß und Würksamkeit‘ Friedrich Heinrich Jacobi über David Hume über den Glauben“ untersucht Zöller die Rezeption Humes durch den deutschen Literaten, Ökonomen und Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi. Zöller zeigt auf, welche Rolle Jacobi im philosophischen Kontext der deutschen Spätaufklärung zukommt, auf welche produktive Art er sich Humes Denken für seine eigenen philosophischen Zwecke angeeignet hat und welche Auswirkungen Jacobis Hume-Rezeption auf die Entwicklung der deutschen Philosophie insbesondere bei Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte hatte. Humes Einfluss auf Kant und Fichte steht auch im Zentrum des Aufsatzes „Hume im anti-skeptischen Diskurs der frühen nachkantischen Systemphilosophie“ von Martin Bondeli. Bondeli legt dar, dass das negative Bild des Hume’schen Skeptizismus, das Autoren wie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zeichnen, in der Frühzeit der nachkantischen Systemphilosophie noch nicht gegenwärtig war. Während Neo-Skeptiker wie Salomon Maimon und Gottlob Ernst Schulze versuchten, Humes Gedanken gegen Kants Philosophie zur Geltung zu bringen, stehe für Kant selbst und für Karl Leonhard Reinhold die Fortentwicklung metaphysikkritischer und erkenntnismethodischer Überlegungen Humes im Vordergrund. Dem frühen Fichte gehe es vorrangig um die Festigung der vorstellungs- und gewissheitstheoretischen Ansichten Humes. Dass Hume nicht nur in der theoretischen Philosophie sondern auch im Bereich der Ästhetik Einfluss auf Kant hatte, zeigt Jens Kulenkampff in seinem Beitrag „Kant antwortet Hume: Die Analytik des Schönen im Lichte von Humes Abhandlung ‚Of The Standard Of Taste‘“. Nach Kulenkampff hatte Kant Humes Abhandlung ‚Of the Standard of Taste‘ vor Augen, als er sich

Einleitung

9

1787 mit der ‚Kritik des Geschmacks‘ beschäftigte. Die Analytik des Schönen werde von Kant zumindest in Teilen in direkter Auseinandersetzung mit Hume formuliert. Vor dem Hintergrund dieser These stellt Kulenkampff die ästhetischen Theorien Humes und Kants in ihren systematischen Besonderheiten einander gegenüber. Reinhard Brandts Aufsatz „Hume, Freiheit und Notwendigkeit“ leitet thematisch zu Humes praktischer Philosophie über. Brandt zeigt auf, dass Humes Freiheitskonzept nur vor dem Hintergrund seines Verständnisses der (zwischen Ereignissen bestehen) Notwendigkeit zu verstehen ist. Für die Moral stelle nicht etwa die These der durchgängigen Determiniertheit der Ereignisse sondern deren Verneinung ein systematisches Problem dar. Andere systematische Probleme des Hume’schen Ansatzes können, so Brandt, jedoch nur durch Rückgriff auf das für alle Verstandestätigkeit unentbehrliche ‚Ich denke‘ der Kant’schen Urteilstheorie gelöst werden. Anik Waldow untersucht in ihrem Aufsatz „Verstehen durch Emotionen. Hume zum Problem des Fremdpsychischen“ das für Humes Affekt- und Moraltheorie zentrale Vermögen der Sympathie. Unter Hinweis auf die neurowissenschaftliche Entdeckung sogenannter Spiegelneuronen und in Auseinandersetzung mit Russell Hardins Interpretation des Hume’schen Sympathisierens als Einstufenmodell untersucht Waldow die Frage, wie das Verstehen fremder Emotionen nach Hume vonstattengeht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es der Explikation fremdpsychischen Verstehens nicht zuträglich ist, inferenzbasierte Ansätze mit erfahrungsbasierten Ansätzen zu kontrastieren, da man nicht ausschließen könne, dass die ‚Erfahrung‘ fremder Emotionen das Produkt mechanisch ausgelöster Inferenzen ist. Der Aufsatz „Humes Moraltheorie: Von Übereinkünften und moralischen Empfindungen“ von Herlinde Pauer-Studer beschäftigt sich mit Humes Moraltheorie, die im deutschen Sprachraum nur selten in ausgewogener Art und Weise wahrgenommen und deren systematische Stärken Pauer-Studer zufolge noch immer verkannt werden. Bei ihrer Untersuchung von Humes Konzeption natürlicher und künstlicher Tugenden weist Pauer-Studer nach, dass Humes Theorie eine beachtenswerte Verbindung zwischen der die Empfindungen betonenden moral sense-Philosophie mit der das Eigeninteresse akzentuierenden Hobbes’schen Tradition gelingt. Diese liefere Einsichten, welche für das Unternehmen transnationaler normativer Institutionenbildung jenseits eines interkulturell nicht konsensfähigen Moralismus fruchtbar zu machen seien. Frank Brosow folgt dem von Pauer-Studer bereiteten Weg weiter. In seinem Beitrag: „Die Tugend eines gemäßigten Skeptikers. Hume über ‚favourite principles‘ in der Moralphilosophie“ zeichnet Brosow Humes Moralphilosophie als eine multikriterielle Theorie der Moral nach, deren wesentliche Intention in der Vermeidung der einseitigen Überbetonung eines philosophischen ‚Lieblingsprinzips‘ zu suchen sei. Diese, von Hume selbst formu-

10

Frank Brosow & Heiner F. Klemme

lierte Intention, verdanke sich seinem Selbstverständnis als gemäßigtem Skeptiker, weshalb seine Moraltheorie nicht, wie David Fate Norton meint, als Zugeständnis an den Common Sense, sondern als Fortsetzung des Hume’schen Skeptizismus mit anderen, dem Bereich der Moralphilosophie angemessenen Mitteln zu deuten sei. Dieter Birnbacher vollzieht in seinem Aufsatz „Aufklärung kompakt: Humes ‚Of Suicide‘“ den Brückenschlag zwischen Humes Moraltheorie und seiner Religionsphilosophie. In Opposition zur Kritik von Gerhard Streminger und übereinstimmend mit Arthur Schopenhauer und Peter Singer weist Birnbacher auf das historische Verdienst Humes hin, in seinem Essay ‚Of Suicide‘ die moralische Anstößigkeit des Suizids als eine kulturelle Pathologie entlarvt zu haben, vor der es den Suizidenten zu schützen gelte. Die Mitte der 1950er Jahre durch die Moralphilosophie Kants und die christliche Tradition beeinflusste Erneuerung des moralischen Suizidverbots durch die bundesdeutsche Justiz sei demgegenüber ein Rückschritt auf dem Weg zu einer aufgeklärten, kosmopolitischen und souveränen Haltung gegenüber dem Suizid gewesen. Die Herausgeber danken allen Autoren, die zu diesem Band beigetragen haben. Bei den Referentinnen und Referenten sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Ringvorlesung ‚David Hume (1711-1776) nach 300 Jahren. Historische Kontexte und systematische Perspektiven‘ bedanken wir uns darüber hinaus für fruchtbare Vorträge und Diskussionen. Die Durchführung der Ringvorlesung und die Drucklegung des vorliegenden Bandes wurden durch Mittel der Kant-Forschungsstelle und des Philosophischen Seminars der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ermöglicht. Mainz, im August 2014

Frank Brosow & Heiner F. Klemme

Udo Thiel

BEWUSSTSEIN UND DER GEIST ALS ‚BÜNDEL‘ VON PERZEPTIONEN

David Hume gehört zu den Denkern des 18. Jahrhunderts, die in den gegenwärtigen Debatten zur Philosophie des Geistes präsent sind und wohl auch in zukünftigen Diskussionen zu diesem Thema präsent bleiben werden. Humes Auffassung vom menschlichen Geist als bloßem „Bündel“ von Perzeptionen ist berühmt und berüchtigt. Der menschliche Geist, sagt Hume, ist nothing but a bundle or collection of different perceptions, which succeed each other with an inconceivable rapidity, and are in a perpetual flux and movement (THN S. 252) 1.

Diese Auffassung hat vom 18. Jahrhundert bis heute sowohl harsche Kritik provoziert als auch positive Anknüpfungen und Modifikationen inspiriert. Darüber hinaus stellen sich immer wieder Fragen danach, wie Humes Bündeltheorie überhaupt zu verstehen ist, also Fragen der Interpretation, die auch zum Zwecke der kritischen Würdigung beantwortet werden müssen. Wie argumentiert Hume für seine Position, wie genau ist sie aufzufassen? In diesem Beitrag geht es insbesondere um die bislang vernachlässigte Frage nach dem Verhältnis von Humes Bewusstseinsbegriff zu seiner Bündeltheorie des Geistes. Denn der Bewusstseinsbegriff spielt nicht nur in den gegenwärtigen Diskussionen, sondern auch bei Hume eine zentrale Rolle, und der Status seiner Bündeltheorie des Geistes hängt, das wird zu zeigen sein, mit seinem Verständnis von ‚Bewusstsein‘ zusammen.2 Es kann in einem gewissen Sinne gar nicht überraschen, dass Humes Bewusstseinsbegriff bisher kaum detailliert untersucht worden ist. Denn Hume arbeitet zwar in verschiedenen Kontexten mit dem Bewusstseinsbegriff, aber bei oberflächlicher Betrachtung wird nicht klar, dass dieser für seine

_____________ 1

2

Es wurde auch die kritische Edition des Treatise von David F. Norton und Mary J. Norton benutzt. Die Seitenzahlen beziehen sich aber auf die Ausgabe von Selby-Bigge/Nidditch, da diese auch bei Norton & Norton angegeben sind. Dieser Beitrag entwickelt Gedanken weiter, die in Thiel, Subject, S. 403-406, 418-422 formuliert wurden. Außer in Mainz habe ich unterschiedliche Fassungen dieses Beitrags in Prag, Kopenhagen, Singapur und Salzburg vorgetragen. Ich danke den Teilnehmern dieser Veranstaltungen für die fruchtbaren Diskussionen meiner Überlegungen zu diesem Thema.

12

Udo Thiel

Analysen von zentraler Bedeutung ist; unklar scheint sogar zu sein, was genau Hume unter ‚Bewusstsein‘ versteht. Es gibt bei ihm kein Kapitel, keinen Abschnitt, ja überhaupt keine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Bewusstseinsbegriff. Wenn in der Literatur gelegentlich von Humes ‚Theorie des Bewusstseins‘ die Rede ist, bezieht man sich damit meist auf seine Philosophie des Geistes im Ganzen. Es wird offensichtlich angenommen, dass „consciousness“ bei Hume nichts anderes als die mind oder das Denken im Allgemeinen bedeute.3 Und es gibt sogar Stellen, an denen Hume „consciousness“ in diesem Sinne zu verwenden scheint. Beispielsweise spricht er auf der ersten Seite des Treatise of Human Nature von „our thought or consciousness“; in der Enquiry Concerning Human Understanding heisst es, der Mensch sei ein Wesen „endowed with thought and consciousness“, und in „On the Immortality of the Soul“ gebraucht Hume „consciousness“ synonym mit „system of thought“.4 Dennoch wird deutlich werden, dass Hume hier nicht das Verständnis von ‚Bewusstsein‘ zum Ausdruck bringt, das für seine Theorie des menschlichen Geistes von hauptsächlicher Bedeutung ist. Es gilt zu versuchen, dieses Verständnis zu bestimmen und herauszuarbeiten, welche Implikationen Humes Bewusstseinskonzeption für seinen Begriff vom Ich als Bündel von Perzeptionen hat. Auf Grundlage einer angemessenen Interpretation von Humes Bewusstseinsbegriff lässt sich u.a. zeigen, dass einige der üblichen Einwände gegen seine Bündeltheorie ihr Ziel verfehlen.

1. WAS IST BEWUSSTSEIN? Im Appendix zum dritten Buch des Treatise reflektiert Hume kritisch auf seine eigene Analyse der personalen Identität im ersten Buch seiner Abhandlung. In diesem Zusammenhang heißt es: „Consciousness is nothing but a reflected thought or perception.“ (THN S. 635.) Dies scheint Humes einzige explizite Aussage über die Natur des Bewusstseins zu sein. Die Tatsache, dass er sich dabei des Reflexionsbegriffes bedient, deutet auf den selbstbezüglichen Charakter hin, den er dem Bewusstsein zuschreibt. Mit Bewusstsein ist demnach nicht der Geist oder das Denken überhaupt gemeint, sondern eine noch genauer zu bestimmende Weise des Bezugnehmens auf die eigenen Gedanken und Perzeptionen. Nun sagt Hume in diesem Zusammenhang über die personale Identität: „The thought alone finds personal identity, when reflecting on the train of past perceptions.“ (THN S. 635; Hervorhebung U.T.) Dies stimmt sogar mit

_____________ 3 4

Vgl. beispielsweise Grau, Entwicklung, S. 113; Waxman, Consciousness. Vgl. THN S. 1; Enquiry 1 S. 98, und Essays S. 598.

Bewusstsein und der Geist als ‚Bündel‘ von Perzeptionen

13

seiner Darstellung im ersten Buch überein, wo Hume sagt, dass die Identität eine Eigenschaft sei, die wir unterschiedlichen Perzeptionen zuschreiben „because of the union of their ideas in the imagination, when we reflect upon them“ (THN S. 260; Hervorhebung U.T.). Da Hume den Reflexionsbegriff mit dem des Bewusstseins verbindet, könnte man versucht sein, diese Ausführungen zur personalen Identität und zur Reflexion so zu verstehen, als sagte Hume, es gehe bei der Analyse der personalen Identität um die consciousness oder das Bewusstsein, das wir vom „train of past perceptions“ hätten. Nun kann man einwenden, dass die Stelle, an der Hume vom Bewusstsein als „reflected thought“ spricht, in einem Kontext erscheint, in dem er das beschreibt, was „most philosophers seem to be inclined to think“ (THN S. 635), nämlich das, was Hume für die Auffassung Lockes und seiner Anhänger hält. Und so ließe sich sagen, es sei wenigstens nicht offensichtlich, dass er mit der Aussage über das Bewusstsein als „reflected thought“ seine eigene Auffassung wiedergebe.5 Allerdings bezieht Hume hier seine eigene Position zur personalen Identität durchaus positiv auf die der „most philosophers“ und sagt, erstere „has so far a promising aspect“ (THN S. 635). Dies weist darauf hin, dass Hume hier in der Tat davon spricht, was nicht nur andere, sondern auch er selbst unter ‚Bewusstsein‘ verstehen. Darüber hinaus gibt es weitere Stellen, an denen Hume vom Bewusstsein als einer Art von Reflexion spricht. Beispielsweise sagt Hume einmal, dass Ideen „make their passage into the mind“ durch die „common channels of sensation or reflection“, um dann wenig später von „consciousness and sensation“ zu sprechen, womit er offensichtlich ‚consciousness‘ und ‚reflection‘ synonym verwendet. (Vgl. THN S. 157f.; Hervorhebungen U.T.) Obwohl Humes Bestimmung von Bewusstsein als „reflected thought or perception“ nicht genau dem entsprechen mag, was der synonyme Gebrauch von ‚consciousness‘ und ‚reflection‘ nahelegt, scheinen diese Stellen doch dafür zu sprechen, dass der Bewusstseinsbegriff für Hume durch den Begriff der Reflexion zu bestimmen ist. Wenn Hume Bewusstsein in diesem Sinne versteht, dann ist, wie angedeutet, offensichtlich, dass er Bewusstsein in einem selbstbezüglichen Sinne auffasst. Aber bedeutet dies, dass Bewusstsein für ihn dasselbe wie Reflexion ist? Und was genau versteht Hume unter Reflexion? Wie für andere Denker seiner Zeit ist für Hume der Reflexion wesentlich, dass sie ein explizites sich Zuwenden auf das eigene Ich oder die eigenen Perzeptionen involviert. Beispielsweise schlägt Hume in unterschiedlichsten Zusammenhängen vor, wir sollten unsere Aufmerksamkeit auf das richten, was wir fühlen oder beobachten, „when we reflect on any of those sensations or

_____________ 5

Don Garrett hat bei einer Diskussion einer früheren Fassung dieses Beitrags diesen Einwand vorgebracht.

14

Udo Thiel

movements“ (Enquiry 1 S. 18). Auch in seiner Diskussion der personalen Identität beruft sich Hume mehrmals auf das, was wir über das Ich durch Reflexion entdecken, das heißt, durch das Beobachten unserer eigenen mentalen Operationen und Zustände. „When I turn my reflection on myself“, sagt Hume, dann entdecke ich dies: „I never can perceive this self without some one or more perceptions, nor can I ever perceive any thing but the perceptions.“ (THN S. 634.) In der Reflexion werden demnach unsere eigenen Perzeptionen zum Gegenstand von Aufmerksamkeit und Beobachtung gemacht. Die Reflexion ist mithin eine besondere Art von Perzeption, eine Perzeption, die andere Perzeptionen zum Gegenstand hat. Darüber hinaus nimmt Hume an, dass die Reflexion sich auf vergangene Perzeptionen beziehen kann. Denn, wie bereits erwähnt, konstruiert die Einbildungskraft personale Identität, „when reflecting on the train of past perceptions“ (THN S. 635). Die Frage ist jedoch, ob Hume Bewusstsein mit Reflexion einfach identifiziert. Die Tatsache, dass er die Terminologie von „reflecting“ bei der Bestimmung von Bewusstsein gebraucht, muss nicht bedeuten, dass er Bewusstsein und Reflexion als identisch denkt. Denn diese Terminologie könnte nur den Zweck haben, den erwähnten selbstbezüglichen Charakter des Bewusstseins hervorzuheben. Reflexion und Bewusstsein könnten demnach unterschiedliche Arten des selbstbezüglichen Bewusstseins sein. Und in der Tat legen mehrere Textstellen nahe, dass Hume eine Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Reflexion impliziert. Wie angedeutet charakterisiert Hume Reflexion als einen Akt, in dem der Geist seine Aufmerksamkeit explizit den eigenen Perzeptionen zuwendet. Im Gegensatz dazu beschreibt er das Bewusstsein oft als eine unmittelbare Selbstbezüglichkeit, beispielsweise wenn er sagt, Perzeptionen seien „immediately present to us by consciousness“ (THN S. 212). Durch Bewusstsein und nicht durch Reflexion sind demnach mentale Operationen „most intimately present to us“ (Enquiry 1 S. 13). Hume macht weiterhin deutlich, dass gilt: „all actions and sensations of the mind are known to us by consciousness“ (THN S. 190).6 Hiernach meint ‚Bewusstsein‘ oder ‚consciousness‘ eine unmittelbare und konstante Selbstpräsenz des Geistes. In der Tat verknüpft Hume die Terminologie der Unmittelbarkeit an vielen Stellen mit dem Begriff des Bewusstseins (aber nicht mit dem Reflexionsbegriff).7 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Hume sich auf „that succession of related ideas and impressions“ bezieht,

_____________ 6

7

Dies impliziert auch folgende Aussage: „When my perceptions are removed for any time by sound sleep; so long am I insensible of myself, and may truly be said not to exist“ (THN S. 252; Hervorhebung U. T). Es scheint eine Ausnahme zu geben: Hume spricht einmal von „whatever we feel internally by reflection“ (THN S. 240).