Das Ende des Römischen Reiches! AWS

Ein Koloss auf eisernen Füßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Die Teilung des Imperiums in Ost und West und die Reichsreform . . . . . . . . . 28. »Schlimmer als Cannae« – die Niederlage von Adrianopel . . . . . . . . . . . . . 30. Völkerwanderung – was bedeutet das eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32. Der Fall Roms ...
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+++++++ Hans-Peter von Peschke +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Das Ende des Römischen Reiches! Wendepunkte der Geschichte

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Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart, unter Verwendung einer Abbildung von picture alliance (Romulus legt Kaiserinsignien nieder. Absetzung des Kaisers Romulus Augustulus durch den germanischen Heerführer Odoaker am 28. August 476; Holzstich, um 1880, nach Zeichnung von Hermann Knackfuss [1848–1915]. Berlin, Slg. Archiv f. Kunst & Geschichte). © 2012 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Thomas Theise, Regensburg Kartographie: Peter Palm, Berlin Gestaltung: Stefanie Silber, www.silbergestalten.de Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Druck und Bindung: Beltz Druckpartner, Hemsbach ISBN: 978-3-8062-2425-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-2656-0 eBook (EPUB): 978-3-8062-2657-7 Besuchen Sie uns im Internet: www.theiss.de

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Inhalt Ein Kindkaiser wird abgesetzt

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4. September 1229 ab urbe condita – 4. September 476 n. Chr. . . . . . .

8

Ein Wendepunkt, den keiner merkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Toll trieben es die alten Römer« – der Fall Roms im Film . . . . . . . . . . . . . . . 16

Die hundert Jahre vor dem Ende

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Ein Koloss auf eisernen Füßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Teilung des Imperiums in Ost und West und die Reichsreform . . . . . . . . . »Schlimmer als Cannae« – die Niederlage von Adrianopel . . . . . . . . . . . . . Völkerwanderung – was bedeutet das eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Fall Roms 410 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ewiges Rom – Visionen und Ideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzzeitige Restauration und neue Germaneneinfälle . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hunnen kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit der Wirren und ein letztes Aufbäumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Das Ende des Weströmischen Reiches

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

Der Machtzuwachs der Heermeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die römische Armee in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hofbürokratie, Senat und Großgrundbesitzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bewusstsein von der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schwierigkeiten der spätantiken Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die unterschiedliche Entwicklung Ostroms und Westroms . . . . . . . . . . Die letzten Jahre des Weströmischen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Versuche einer Neuordnung

23 28 30 32 34 36 39 42 47

51 52 54 58 59 63 65 67

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Ein germanischer König Italiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Odoaker beim hl. Severin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

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+ ++ 6 + ++ Inhalt +++ Theoderichs »Kampf um Rom« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nibelungenlied und Dietrichsage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Justinians »Kampf um Rom« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Felix Dahns Roman »Kampf um Rom« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Italien fällt an die Langobarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Osten des Imperiums überlebt – kleiner und mit viel Glück . . . . . . . . »Dunkle Zeiten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Reiche und Machtkonstellationen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77 80 83 86 88 89 95 97

Der Fall Roms in den Augen der Nachwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Rom als Projektionsfläche der jeweiligen Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . Erben des Imperiums – Rom im frühen und hohen Mittelalter . . . . . . . . . . Das Heilige Römische Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Renaissance entdeckt Rom neu – und das finstere Mittelalter . . . Die Aufklärer deuten den Fall des Imperiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfall der Barbaren – Fortschritt oder Verhängnis? . . . . . . . . . . . . Römische Was-wäre-wenn-Geschichten in Literatur und Wissenschaft . . . . . . »Der Untergang des Abendlandes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109 110 112 115 116 119 120 123

Ein vorsichtiges Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Warum das Imperium fiel ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Was wäre geschehen, wenn ...? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Bruch oder Übergang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Anhang Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzviten der wichtigsten Herrscher und Heerführer . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geografisches Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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138 142 147 147 147 150 151

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+ + + Die Kaiserproklamation im Spiegelsaal zu Versailles + + + 7 + + +

++ + Ein Kindkaiser wird abgesetzt + + + Für die Menschen des Imperiums ist es eigentlich ein ganz normaler Tag. In Rom diskutiert man über das Wagenrennen und die steigenden Getreidepreise. In Konstantinopel ist man froh über das Ende des Bürgerkriegs und sieht den nächsten Intrigen am Kaiserhof gelassen entgegen. Und in Ravenna, der Hauptstadt des Westens, erwartet man die Absetzung des alten und die Ausrufung eines neuen Kaisers. Auch das ist nichts Ungewöhnliches am 4. September im Jahre 1229 nach der Gründung Roms.

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+ ++ 8 + ++ Ein Kindkaiser wird abgesetzt + + +

4. September 1229 ab urbe condita – 4. September 476 nach Christus Ravenna, 8 Uhr Ein Kind hat Angst. Sein Vater ist tot, und jetzt hat auch sein Onkel die letzte Schlacht und sein Leben verloren. Verloren und einsam fühlt er sich in dem riesigen Palast in Ravenna, wo an diesem Morgen selbst die Sklaven versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Obwohl er doch zumindest dem Namen nach ihr Herr ist, der Herrscher über die fünfzig Millionen Menschen des größten, wenn auch bröckelnden Reiches der Welt, des Imperium Romanum. Romulus haben ihn seine Eltern genannt nach einem der legendären Gründer des ewigen Rom und ihm zur Erinnerung an den ersten großen Kaiser den Namen Augustus gegeben. Oft genug haben ihn die Hofbeamten hinter seinem Rücken Augustulus, Kaiserlein, genannt – die Männer seiner germanischen Leibwache rufen ihn in gutmütigem Spott ganz offen so. Aber das kümmert ihn im Moment nicht, er hat jetzt nur noch Angst. Ist er, obgleich Marionette in den Händen seiner Familie und Kind, einer der römischen Kaiser, die mit dem Schwert entthront werden wie so viele in diesem Jahrhundert?

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Konstantinopel, 8 Uhr An diesem Morgen betet Zeno, Kaiser des Ostens, in der Hagia Eirene, der dem Heiligen Frieden gewidmeten mächtigen Basilika. Er bittet vor allem um inneren Frieden, den er so sehr vermisst hat. Ist er doch gerade aus einem zwanzigmonatigen Exil in Syrien nach Konstantinopel heimgekehrt. Er konnte die Stadt ohne Gegenwehr einnehmen – praktisch alle dem Usurpator Basiliskos verbliebenen Militärs und Beamten waren zu ihm übergelaufen. Dieser elende Versager, denkt er, durch ihn hat er die größte Niederlage seiner Herrschaft erlitten. Mit einem großen Heer hatte er Basiliskos nach Afrika geschickt, aber wegen seiner Überheblichkeit hat dieser den Feldzug gegen die Vandalen verloren. Wie wichtig wäre die Rückeroberung der afrikanischen Provinzen gewesen, denn ohne die Steuern und das Getreide aus Afrika ist Rom verloren, zumindest Westrom. Als er aufsteht, sieht er in seinem Gefolge den Goten Theoderich, Anführer der Amaler. Zeno kennt ihn schon lange, war er doch jahrelang als Geisel am Hof in Konstantinopel. Ohne ihn und seine Kämpfer, das weiß der Kaiser, hätte er den Thron so schnell nicht zurückgewonnen. Ganz offiziell hat er ihn zu seinem »Waffensohn« ernannt. Auch wenn ihm die Abhängigkeit von dem jungen Gotenfürsten zu schaffen macht, er braucht ihn noch, zunächst einmal gegen dessen eigenes Volk. Wenn er gegen den Namensvetter Theoderich

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+ + + Ein Kindkaiser wird abgesetzt + + + 9 + + + Strabo zieht, ebenfalls einen Goten, der den aufständischen Basiliskos unterstützt hat, will er »seinen« Theoderich sogar zum obersten Heermeister ernennen. Aber dann sollte man ihn loswerden, vielleicht nach Westen ablenken ...

Rom, 9 Uhr Die Ewige Stadt erwacht wie immer in diesen Monaten in brütender Hitze. Die meisten vornehmen Familien sind trotzdem von ihren Landgütern in die Sicherheit ihrer Stadtvillen zurückgekehrt – eine Vorsichtsmaßnahme, denn wieder einmal scheinen Unruhen nicht ausgeschlossen. Marodierende Soldaten, die seit Monaten ihren Sold nicht erhalten haben, haben einige Güter an der Ostküste geplündert. Heermeister Orestes und sein Bruder Paulus – beide aus guten römischen Familien – sind von den meuternden Legionären unter dem Barbaren Odoaker erschlagen worden. Und Romulus Augustulus, das Kind auf dem Kaiserthron, wird den Tag nicht überleben, davon ist man in den Palästen und Mietskasernen Roms überzeugt. Und dann wird das altbekannte Spiel beginnen um die Kaisernachfolge, an dem sich Ostrom, die Senatoren des Westens, die Chefbeamten und die Armeespitze beteiligen …

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Ravenna, 9 Uhr Die ganze Nacht hat Odoaker, von den germanischen Truppen zum »König Italiens« ausgerufen, mit seinen Ratgebern verbracht. Die meisten raten ihm, den Kindkaiser zu töten und sich selbst zum Imperator ausrufen zu lassen. Doch dagegen spricht alle Tradition: Es scheint undenkbar, dass sich der Sohn eines Thüringers und einer ostgermanischen Skirin auf den weströmischen Thron setzt, er ist ja nicht einmal Provinzialrömer! Und wenn er irgendeine Marionette aus dem Senatorenstand oder der Hofbürokratie zum Herrscher des Westens ausrufen lässt? Auch diese Lösung schmeckt Odoaker nicht. Wie schnell kann einer dieser intrigengewohnten Römer höchst eigene Pläne verfolgen! Und dann ist da noch der Kaiser in Ostrom. Ihn gilt es für eine Lösung zu gewinnen, bei der sich Odoaker Zeno zwar unterstellt, aber als »rex Italiae« dennoch ungestört schalten und walten kann ...

Ravenna, 10 Uhr Kindkaiser altern schnell! Sie kennen sich bald so gut aus in den Intrigen wie die Erwachsenen und wissen um alle Gerüchte, die am Hof umgehen. Natürlich hat Romulus Augustulus schnell vom Tod seines Vaters Orestes in der Schlacht von Piacenza erfahren, obwohl ihm das sein Onkel Paulus vorenthalten wollte. Und gestern ist auch dieser mit

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+ ++ 10 +++ Ein Kindkaiser wird abgesetzt + + + dem letzten Aufgebot der Getreuen gefallen. Jetzt hat er niemanden mehr – all die Speichellecker um ihn sind verschwunden. Geblieben ist der Mönch Eugippius, sein Beichtvater. Romulus Augustus sieht sich vorsichtig nach allen Seiten um, hastet zur kleinen Basilika San Giovanni Evangelista, der dem Evangelisten Johannes geweihten Hofkirche. Ein Mann in einer Kutte winkt aus dem kleinen Raum seitlich des Altars. Nach schnellem Kniefall eilt der Junge zu Eugippius, der beruhigend auf ihn einredet. Odoaker sei zwar vom Teufel zu seinem Aufruhr angestiftet worden, aber um sein Leben müsse Romulus nicht fürchten, sagt der Mönch. Der Barbar wolle es sich nicht mit den mächtigen Großgrundbesitzern und Senatoren verderben – es würde sich schlecht machen, wenn er seinen Machtantritt mit dem Blut eines Knaben befleckt. Romulus und seine Mutter könnten mit ihm, Eugippius, nach Sizilien kommen, in das »castellum Lucullanum«, ein hochherrschaftliches Haus, er erhalte dazu 6000 Solidi jährliche Apanage. Davon könne er gut leben …

Rom, 11 Uhr In den Gassen der Ewigen Stadt ist die Lage des Imperiums kein Thema. Dass es irgendwo brennt, ist Alltag. Natürlich hat sich in Rom schnell herumgesprochen, dass Heermeister Orestes im Kampf gegen aufständische Barbaren-

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legionäre gefallen ist. Wer nach der Beseitigung des Augustulus – dass er in den nächsten Tagen ermordet wird, bezweifelt niemand – Kaiser wird, kümmert höchstens einige Senatoren. Den Mann auf der Straße interessiert viel mehr das Wagenrennen, das am späten Nachmittag im Kolosseum stattfinden wird. Gladiatorenkämpfe gibt es dort nicht mehr – vor genau 150 Jahren hat Kaiser Konstantin sie verbieten lassen. Todeswürdige Verbrecher werden nicht mehr ad bestias verurteilt, sondern ad metalla, zur Zwangsarbeit in den Minen. Immerhin freut sich ganz Rom auf das Schauspiel nach dem Wagenrennen. Wegen anhaltenden Erfolgs wird noch einmal der »Tod des Herkules« aufgeführt, ein überführter Mörder wird am Schluss des Dramas als todwunder Held zum Gaudium des Publikums auf loderndem Scheiterhaufen sterben …

Ravenna, 12 Uhr Diese Stadt ist tiefste Provinz, denkt der für Finanzen zuständige Senator. Sieht man von den miserablen Reiterspielen im Hippodrom und den spärlichen Dichterlesungen in den Thermen einmal ab, was gibt es da schon an Kultur? Seit dem Tod Kaiser Valentinians – und das ist zwei Dutzend Jahre her – hat sich kein bedeutender Poet oder Dramenschreiber mehr hierher verirrt – in dieser Stadt gibt es nur Militär und Verwaltung. Eigentlich müsste er noch drei

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+ + + Ein Kindkaiser wird abgesetzt + + + 11 + + + Jahre hier ausharren, bis er seine Ämterlaufbahn abgeschlossen hat und nach Rom zurückkehren kann. Aber vielleicht ändert sich schon heute alles. Wer wohl nach dem lächerlichen Kindkaiser auf den Thron kommt? Eigentlich strebt keiner der hier anwesenden Senatoren dieses Amt an, er selbst hat eine vorsichtige Anfrage eines Vertrauten von Odoaker rundweg abgelehnt. Wer den Purpur nimmt, verliert bald den Kopf, lautet ein geflügeltes Wort unter den Hofbeamten. Da spielt er lieber hinter den Kulissen der Macht mit, wo die wirklichen Entscheidungen getroffen werden. Vielleicht braucht es überhaupt keinen eigenen Kaiser mehr

Ostroms, obwohl er das als Diplomat so offen nicht sagen würde. Sicher, Ravenna war und ist ein großer Hafen und seit dreihundert Jahren Sitz der Reichsflotte und der Admiralität. Aber nicht deshalb wurde es zur Hauptstadt des Westens, sondern weil der Kaiser und sein Hofstaat vor den Westgoten fliehen mussten und die von Sümpfen umgebene Stadt praktisch nicht einzunehmen war. Allerdings stinkt es deshalb in der flirrenden Sommerhitze hier nach Fisch und fauligem Sumpf! Und trotzdem ist Ravenna vom Provisorium zur ständigen Hauptstadt geworden. Aber die Thermen, die wenigen Kirchen und auch der Palast – immerhin hat Galla

für den Westen? Immerhin ist mit Odoaker jetzt ein Barbar Heermeister, der als ehemaliger Chef der kaiserlichen Wache die Verhältnisse gut kennt und weiß, was er verlangen kann und was nicht. Sicher, man wird die Anliegen seiner Germanensöldner irgendwie befriedigen müssen. In diesen sauren Apfel kann man beißen, sagt sich der Finanzsenator. Und wenn Odoaker dafür seine Beziehungen zu den Stämmen in Gallien spielen lässt und dann dort die Plünderungen aufhören, das Wirtschaftsleben wieder in Gang kommt und damit auch Steuern fließen …

Placidia, natürlich eine Prinzessin aus Ostrom, einen einigermaßen ansehnlichen errichten lassen –, all das lässt sich weder mit Konstantinopel noch erst recht mit Rom vergleichen. Zunächst einmal hatte man alles Geld in den Bau und die Restaurierung starker Mauern gesteckt an den Stellen, wo die Stadt nicht durch Wasser und Sümpfe geschützt war. Nein, denkt der Botschafter, dieses Ravenna ist keine Hauptstadt, nicht für einen römischen Kaiser. In seinen Straßen dominieren die Barbaren, jetzt, wo sie einen der ihren zum rex Italiae ausgerufen haben, erst recht. Soll er doch diesen Titel behalten – der Titel des Imperators, des einzigen und ewigen Herrschers soll dorthin zurückkehren, wo er hingehört, nach Nova Roma, nach Konstantinopel,

Ravenna, 13 Uhr Ravenna, das ist schlichtweg Provinz – so empfindet es auch der Botschafter

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+ ++ 12 +++ Ein Kindkaiser wird abgesetzt + + + wo künftig das ungeteilte Herz des Imperiums schlagen soll …

rückkehren wird – und den jeweils starken Mann im Westen schwächen, wer auch immer das ist …

Konstantinopel, 13 Uhr Kaiser Zeno hat die Delegation aus Italien lange warten lassen und sie dann über Terrassen mit sprudelnden Brunnen zur kleinen Audienzhalle führen lassen. Wie es das höfische Zeremoniell vorsieht, sitzt er starren Blicks im Prunkgewand auf seinem Thron, hinter ihm goldglitzernde Fresken, die »armen Brüder« aus dem römischen Westen sollen nur merken, dass der Große Palast das irdische Abbild des himmlischen Paradieses verkörpert. Eine Delegation von Senatoren aus Rom ist gekommen, händeringend erklärt ihr Wortführer, dass Heermeister Orestes und der Senat von Rom den Usurpator Basiliskos unterstützt hätten, sei die Folge eines Missverständnisses und man habe doch nicht … Der Kämmerer des Kaisers schneidet dem Diplomaten das Wort ab. Nur mit einem Ohr hört Zeno zu: Nicht der Heermeister Orestes sei für Konstantinopel maßgebend und erst recht nicht dessen Söhnchen Romulus, sagt der Kämmerer schneidend, der einzig wahre weströmische Kaiser sei der aus Italien nach Dalmatien vertriebene Julius Nepos! Der oströmische Herrscher lächelt in sich hinein: Diesen vertriebenen Kaiser kann er im Spiel um die Macht gut nutzen – auch wenn dieser niemals auf den Thron von Ravenna zu-

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Ravenna, 14 Uhr Die veränderte Atmosphäre ist schon zu spüren, als Romulus Augustulus fast widerstrebend die große Audienzhalle in Ravenna betritt. Nicht zeremonielles Schweigen, sondern lautes Gemurmel empfängt ihn. Einer seiner Leibwächter, den er nun weniger als Schutz denn als Bedrohung empfindet, begleitet ihn bis zur Stirnseite des Saals. Auf den Stufen vor dem Thron steht – über der Rüstung eine prunkvolle Toga tragend – der neue Heermeister Odoaker. Der nickt ihm zu, und Romulus stelzt in feierlich zeremoniellen Schritten, wie man ihn gelehrt hat, die Marmortritte hinauf. Ein hoher Beamter in Senatorentoga – ist es Roms ehemaliger Stadtpräfekt Quadratianus? – verliest feierlich eine Erklärung, der zufolge er, Romulus Augustus, als Herrscher des Hesperium Imperium, wie das Weströmische Reich genannt wird, für immer und ewig auf den Thron verzichtet. Romulus nickt wortlos, steht auf und überlegt, ob er den Saal verlassen soll. Aber dann bleibt er vor der Tür stehen und dreht sich um. Odoaker steht noch immer, und keiner der ehrwürdigen Männer in ihren feierlichen Togen bewegt sich Richtung Thron. Gibt es keinen neuen Kaiser? Oder will Odoaker gar selbst? Undenk-

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+ + + Ein Kindkaiser wird abgesetzt + + + 13 + + + bar! Einer seiner Unterführer ruft: Salve, Odoacer, rex Italiae! Laut stimmen die Bewaffneten in ihren Prunkrüstungen ein, die Hofbeamten und Senatoren gedämpfter. Odoaker breitet die Hände aus, verspricht seinen Leuten und ihren Familien fruchtbares Land und den Italikern die Wiederherstellung von Recht und Ordnung, die pax Romana. Die Königsinsignien freilich will er nach Konstantinopel schicken, dort seien sie bes-

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ser aufgehoben. Der Westen des Reiches, so sagt er, brauche keinen eigenen Kaiser mehr, er werde ihm als magister utriusque militiae et patricius, als Heermeister und Vertrauter des oströmischen Kaisers, nach bestem Wissen und Gewissen dienen … Später wird man sagen, an diesem 4. September 476 sei das Weströmische Reich untergegangen.

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+ ++ 14 +++ Ein Meer aus Trümmern und Leichen + + +

++ + Ein Wendepunkt, den keiner merkt + + + Es gibt keinen Kaiser mehr! Eigentlich hätte eine Welle der Erschütterung durch das Weströmische Reich gehen müssen. Aber es gab ja noch einen Kaiser in Ostrom! Und Heermeister wie Odoaker hatten die eigentliche Macht schon zuvor ausgeübt! Erstaunlich nur, dass der abgesetzte Kaiser noch am Leben war! Im Übrigen hatte man ganz andere Sorgen. Erst Jahrzehnte später begannen einige Historiker zu begreifen, dass der 4. September 476 eine Zäsur darstellte.

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+ ++ Ein Wendepunkt, den keiner merkt + + + 15 + + + Imperien sterben langsam. Wenn sie von Feinden überrannt werden und stürzen, müssen die Säulen, auf denen sie jahrhundertelang standen, brüchig geworden sein. Wer die Gründe für das Ende eines großen Reiches erkennen will, muss das komplexe Zusammenspiel innerer und äußerer Ursachen analysieren und darf auch den Zufall – den für Historiker unbeliebtesten, da unberechenbarsten Faktor – nicht außer Acht lassen. Und manchmal ist es ausgerechnet ein eher marginales Ereignis, das die Wendemarke einer Epoche oder das historische Datum für den Untergang eines Reiches setzt. Die Absetzung des Romulus Augustulus ist ein solches Datum, ein Wendepunkt. Die Institution, das Amt, mit dem das mächtigste Reich der Welt untrennbar verbunden schien, existiert nicht mehr. Es gibt keinen Kaiser von Westrom mehr, und damit hat auch Westrom zu existieren aufgehört. Für die Zeitgenossen war es vielleicht ein eher nebensächliches Ereignis in einer als bedrückend und bedrohlich empfundenen Entwicklung. Je weiter zurück das Geschehen jenes 4. September 476 aber lag, umso mehr empfand es die Nachwelt als Markstein im lang andauernden Prozess des Niedergangs eines glorreichen Imperiums, und es erhielt so einen überhöhten symbolischen Wert. Vermutlich als erster hat 511 der sizilianische Abt Eugippius in seiner Lebensbeschreibung des hl. Severin in einem Nebensatz die Absetzung des Romulus Augustulus – der als gut dotierter Pensionär in einer benachbarten Villa lebte – als eine Zeitenwende charakterisiert. In diesem Sinne notiert der Historiker Marcellinus Comes gut vierzig Jahre später in seinem »Chronicon« für das Jahr 476: Odoaker machte den Orestes sofort nieder; den Sohn des Orestes, Augustulus, verurteilte er zum Exil auf dem Landgut Lucullanum in Kampanien. Das Westreich des römischen Volkes, das im Jahr 709 nach Gründung Roms Augustus Octavian als erster beherrschte, ging mit diesem Augustulus unter – nach 522 Jahren aufeinanderfolgender Herrscher. Von da an machten sich die Könige der Goten Rom zu eigen. Freilich waren solche Aussagen durchaus tendenziös – zumindest zu Zeiten Kaiser Justinians waren solche Meinungen in Ostrom höchst willkommen, stützten sie doch dessen Ansicht, dass

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+ ++ 16 +++ Ein Wendepunkt, den keiner merkt + + +

»Toll trieben es die alten Römer« – der Fall Roms im Film  Das römische Imperium war und ist ein

sem komödiantischen Filmmusical der

beliebtes Filmthema, weil sich hier vor

Irrungen und Wirrungen laviert sich ein

prächtiger Kulisse große Geschichte und

arbeitsscheuer Sklave durch das Luxus-

blutige Schlachten, Machtkämpfe und

leben und kämpft gegen vertrottelte

verwickelte Intrigen, aber auch Liebes-

Politiker und dummdreiste Legionäre

dramen darstellen lassen. Die ersten

um Liebe, Leben und Freiheit.

großen Monumentalfilme wie »Quo va-

Ebenso tiefschürfend wie witzig sind

dis« (1951) , »Ben Hur« (1959), oder

zwei weitere Filme. In der dreizehntei-

»Cleopatra« (1963) spielen zu Beginn

ligen Fernsehserie »Ich Claudius, Kaiser

der Kaiserzeit; die unzähligen als

und Gott« (1976, Regie: Herbert Wise)

»Sandalenfilme« bezeichneten B-Pro-

werden Augustus und seine Familie so ge-

duktionen greifen bis in die sagenhafte

zeigt, als würden mit ihnen Dekadenz und

Gründung Roms zurück. Meist spielen

Niedergang des Imperiums schon begin-

muskelbepackte Helden, oft Gladiatoren,

nen. 1965 verfilmte Helmut Käutner Dür-

die Hauptrolle.

renmatts Stück »Romulus der Große«,

Nebenthemen sind gelegentlich Völ-

eine eher unhistorische Parabel über die

lerei und Dekadenz als wichtige Kenn-

letzten Tage des Weströmischen Reiches:

zeichen des Imperiums, in Streifen wie

Der letzte Kaiser züchtet Hühner, trinkt

»Caligula« (1979) oder »Messalina«

Spargelwein und sehnt den Einmarsch

(1977) geht es um ausschweifenden Sex

der Germanen herbei!

bis zum Exzess. Ein cineastisches High-

Sehr viel ernsthafter nimmt sich der

light, das Sandalen- und Monumental-

1964 vom Regisseur Anthony Mann ge-

filme auf die Schippe nimmt und kein

drehte Monumentalfilm »Der Untergang

Klischee über das alte Rom auslässt, ist

des Römischen Reiches« des Themas

Richard Lesters Filmmusical »Toll trie-

an. Etwas unhistorisch beginnt der Un-

ben es die alten Römer« (1966). In die-

tergang um 180 n. Chr., wenn der von

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