Das Dorf: Landleben in Deutschland – gestern und heute - Buch.de

Kreises. Es gibt über 35 000 deutsche Dörfer: Keines ist dem anderen gleich. Erheblich sind die .... Dennoch lassen sich einige »rote Fäden«, epochale Brüche ...
4MB Größe 78 Downloads 109 Ansichten
Gerhard Henkel

Das Dorf Landleben in Deutschland – gestern und heute

3. Auflage

Inhalt Vorwort

9

Das alte Dorf

11

Vom Leben in der »guten alten Zeit«

12

Die Vorgeschichte des modernen Dorfes vom Mittelalter bis 1800

Auf dem Sprung in die Moderne

28

Das Dorf um 1800

Das moderne Dorf

Müller, Schneider, Schuster, Schmied

33

78

Von der Blütezeit des traditionellen Dorfhandwerks

Wirtschaft und Versorgung Einführung

Von der Schmiede zur Kfz-Werkstatt

35

83

Handwerk und Gewerbe auf dem Land

36

von 1950 bis heute

Vom Wirtschaftsriesen zum Sorgenkind?

Die neue Lebensader vieler Dörfer

37

Der ökonomische Wandel des Landes

Tourismus als Alternative zu wirtschaftlicher Verarmung

Wasser, Energie, Verkehr, Datenübertragung

von 1800 bis heute

Vom »kleinen« Bauern zum »großen« Landwirt

93

Der hohe Standard an technischer Infrastruktur

41

Turnhalle und Tennisplatz statt Postamt und Polizei

Von der Selbstversorgung zum marktorientierten

98

Verluste und Gewinne der öffentlichen Grundversorgung

Unternehmen

Von schlechtem Wetter und guten Böden

Der Kampf um den letzten Dorfladen

47

Die natürlichen Voraussetzungen der Landwirtschaft

Vollernter, Melkroboter und GPS

»Einer für alle – alle für einen!«

Die Fortschritte der Landtechnik

107

Dörfliche Genossenschaften

Der Trend zum Pendlerdorf

57

Neue Aufgaben einer multifunktionalen Landwirtschaft

Ein Forsthaus steht im Wald, ein Sägewerk im Dorf Zum Wandel der Forst- und Holzwirtschaft

Die Überwindung des »hölzernen Zeitalters«

102

Probleme der privaten Grundversorgung

51

Vom Nahrungsmittel- zum Energieproduzenten

68

Von der Übernutzung des Waldes zur nachhaltigen Forstwirtschaft

Der Wald ist für alle da!?

87

72

Die heutigen gesellschaftlichen Aufgaben des Waldes

111

Traditionelle und moderne ökonomische Dorftypen 62

Bevölkerung – Soziales – Kultur Einführung

Die Kraftquellen des Dorfes

119

159

Traditionelle und neue Vereine

120

Von Schützenfesten, Rock- und Deelenkonzerten Der fast ständige Aderlass des Dorfes

Feste und Kulturveranstaltungen auf dem Land

121

Waidmannsheil und Halali!

Ausmaß und Ursachen der Landflucht

Das Dorf als Zufluchtsort

168

Die Jagd als traditionsreicher Teil des Landlebens

126

Ist das Landleben »in«?

Zuwanderungen von Städtern, Gastarbeitern

175

Die anhaltende Beliebtheit dörflicher Lebensstile

und Aussiedlern

Zuwachs, Stagnation oder Schrumpfung?

Ein fruchtbarer Austausch

130

Die Bevölkerungsentwicklung auf dem Land

179

Die Entwicklung der Stadt-Land-Beziehungen

Dorfbewohner als Globetrotter

von 1800 bis heute

Alt- und Neudörfler, Ober- und Unterschicht

184

Das Dorf im Austausch mit der Welt

134

Zur sozialen Gliederung der ländlichen Bevölkerung

Macht das Landleben glücklich?

139

Die Kerneigenschaften »Ortsbezogenheit« und »Zufriedenheit«

Dörfliches Sozialleben – Idylle ganz ohne Tücken?

143

EXKUR S

Die Entwicklung von Dorfgemeinschaft und

Wie die Kunst das Landleben darstellt

Nachbarschaftshilfe

Das Dorf in Literatur, Malerei und Film

Kein Dorf ohne Kirche!?

147

Einst Dorfmittelpunkt, heute zunehmender Bedeutungsverlust

Immer mehr Dörfer ohne Schule!

152

Die Entwicklung der staatlichen Bildung auf dem Land

188

163

Gestalt der Kulturlandschaft Einführung

Vom Erfahrungsschatz Freilichtmuseum

197

Die Präsentation historischer Wohn- und Wirtschaftsformen

198

Der Beginn der Dorfauflösung? Vom Reiz der Dorflage

249

252

Zunehmender Leerstand von Gebäuden in den Dorfkernen

199

Die Einbettung der Dörfer in die Landschaft

Einzelhof, Weiler, Dorf, Kleinstadt

203

Dorfpolitik

Zur Größe und Definition ländlicher Siedlungen

Angerdorf, Haufendorf, Straßendorf

Einführung

208

257

258

Über die Vielfalt der deutschen Dorfformen

Menschen, Vieh und Ernte unter einem Dach

215

Die traditionellen Bauernhaus- und Gehöftformen

So kam die Farbe ins Dorf

Deutschland – ein Flickenteppich!

263

Die drei ländlichen Raumtypen

223

Der lange Weg zur bäuerlichen Landwirtschaft

Von der Vielfalt der Flurformen

Bodenreform und Kollektivierung

272

Agrarpolitik in Ostdeutschland von 1945 bis 1990

234

Modernisieren und »Wachsen oder Weichen«

Die neuen Wohnsiedlungen am Dorfrand

»Ein Kahlschlag geht durchs Land«

268

Agrarpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert

228

Der dörfliche Garten

Ein wertvolles Erbe, das man erhalten muss?

276

Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland

237

Zum Wandel der traditionellen Dorf- und Flurformen Die ländliche Kulturlandschaft

Wie staatliche Raumordnung die ländliche Entwicklung

Abstufungen des Ländlichen

Die herkömmlichen regionalen Baumaterialien

Ausbruch aus dem alten Kern

259

steuert

220

Von Nutzen und »paradiesisch«

»Wir geben keine Region auf!«

241

von 1945 bis heute

Wie der Staat die Landbewirtschaftung verbessert Aufgaben und Entwicklung der Flurbereinigung

281

Von der Dorf- und Landesverschönerung

Ein knappes Fazit

285

323

Die Entwicklung vom späten 18. bis zum frühen

Mehr Licht als Schatten

20. Jahrhundert

Die erste Modernisierungswelle der Dörfer

290

Dorfsanierung von 1950 bis 1980

Eine Trendwende in der Dorfmodernisierung

294

Ganzheitliche und erhaltende Dorferneuerung

Anhang

von 1980 bis heute

Vom Blumenschmuck zur Lebensqualität Vom Schultheiß zum Bürgermeister

329

298

Literaturverzeichnis

Der Wettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft«

Sachregister

335

Zur Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung

Ortsregister

339

auf dem Land

Anmerkungen

302

Freiwillig, verpflichtend oder übertragen

307

Aufgaben und Spielräume der ländlichen Kommunalpolitik

Der Kampf um dörfliche Selbstbestimmung

312

Kommunale Gebietsreformen und die Autonomie des Dorfes

Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung

317

Zwei Szenarien zur Entwicklung des ländlichen Raumes

324

Das deutsche Dorf im Jahr 2015

Bildnachweis Impressum

341 343

344

330

Vorwort

zur 1. Auflage

Das Dorf wird geliebt – von Alt und Jung, von Städtern und

er in mehrfacher Hinsicht eine Zeitenwende darstellt, die

Landbewohnern. Was fasziniert die Menschen am Dorf? Ist

allgemein als Übergang von der klassischen Agrargesell-

es die Naturnähe und das Leben mit den Jahreszeiten? Ist es

schaft zur modernen Industriegesellschaft bezeichnet wird.

die Schönheit der in Jahrhunderten gewachsenen Kultur-

Bei der historischen Betrachtung steht der von mir und vie-

landschaft? Die Überschaubarkeit, die Ruhe und das schein-

len Lesern noch erlebte Wandel des Dorfes von 1950 bis

bar einfache Leben? Ist es die Dichte der sozialen Beziehun-

heute im Mittelpunkt. Insgesamt soll die Vielfalt des Land-

gen oder das Festhalten an Traditionen und alten Werten?

lebens dargestellt werden: seine Wirtschaft und Bevölke-

Offenbar ist das Dorf für viele ein Gegenprogramm zur

rung, seine kulturellen, sozialen und ökologischen Werte –

immer schneller ablaufenden Modernisierung, Virtualisie-

und nicht zuletzt geht es um die politische Behandlung des

rung und Globalisierung in Wirtschaft, Wissenschaft und

Dorfes durch die große und kleine Politik. Als Einleitung

Kultur. Ein Lebensraum, der verstanden wird und der Si-

zu verstehen ist die stark geraffte Übersicht über das Dorf

cherheit gibt. Ein Traditionsspeicher für Kultur, Religion,

vom Frühen Mittelalter bis zur Zeitenwende um 1800, so-

Werte und »normales Leben«. Ein Rückzugsraum, der die

zusagen der »geschichtliche Vorlauf« des modernen Dorfes.

gewachsenen Strukturen wie Familie, Nachbarschaft, so-

Wer über das Dorf schreibt, versucht die Quadratur des

ziales Engagement und Gartenkultur bewahrt und an die

Kreises. Es gibt über 35 000 deutsche Dörfer: Keines ist

nächste Generation weitergibt.

dem anderen gleich. Erheblich sind die Unterschiede nach

Ist das Dorf also ein Garten Eden, das Paradies vor dem

Größe, topographischer und regionaler Lage, historischer

Sündenfall? Keineswegs! Das Dorf hatte und hat seine Stär-

Entwicklung, Wirtschaftsschwerpunkten, Urbanisierungs-

ken und seine Schwächen. Manches, was gut war, ist heute

grad oder aktuellen Dynamiken und Sorgen. Dennoch ha-

nicht mehr da. Manche Nachteile aus früheren Zeiten sind

ben die unterschiedlichen Dorf-Individuen viele Gemein-

verschwunden. Viele Neuerungen haben Fortschritte ge-

samkeiten. Diese typischen Eigenschaften des Dorfes stehen

bracht, manche jedoch gleichzeitig auch Nebenwirkungen.

hier im Vordergrund. Damit jedoch nicht nur das typische,

Dieses Buch will das Dorf nicht verklären, sondern zeigen,

sondern auch das individuelle Dorf zur Geltung kommt,

wie vielfältig das Landleben und die ländliche Kulturland-

sind mehrere Hundert konkrete Dorfbeispiele aus allen

schaft war und ist.

Teilen des Landes angeführt und beschrieben. In über hun-

Für viele Menschen – gerade in den großen Städten – ist

dert Originalzitaten kommen darüber hinaus Bauern, Bür-

das Dorf zunehmend ein unbekanntes Wesen. Im öffentli-

germeister, Vereinsvorsitzende, Minister, Schriftsteller,

chen Bewusstsein spielt der ländliche Raum generell eine

Dorfplaner, Wissenschaftler und zahlreiche Dorfbewohner

geringere Rolle, als ihm eigentlich zusteht. Politik, Wirt-

zu Wort. So entsteht ein Gesamtbild aus typischen und in-

schaft, Kultur und Medien haben ihre Zentralen in den

dividuellen Merkmalen des deutschen Dorfes.

großen Städten und dominieren die Meinungsbildung von

Angesichts seiner inhaltlichen Breite kann dieses Buch

dort aus. Somit ist die Perspektive auf das Dorf in der Regel

nicht alle Themen erschöpfend behandeln, es muss sich

eine Fernsicht, die politische, wissenschaftliche und medi-

stets auf wichtige Merkmale und Prozesse beschränken. So

ale Behandlung des Landes oft eine Fremdsteuerung.

war es während des Schreibens immer wieder schmerzhaft,

Dieses Buch beschreibt und erklärt das heutige Dorf. Um

Sätze wegzulassen, die noch genauer erklären oder andere

die Gegenwart besser zu verstehen, werden darüber hinaus

Facetten aufzeigen. Daher wird es Leser geben, denen die

in knapper Form die gravierenden Veränderungen seit etwa

Texte zu wenig ausführlich sind (tatsächlich könnte über

1800 skizziert. Der Zeitpunkt um 1800 wurde gewählt, weil

jedes der 60 Kapitel ein dickes Buch geschrieben werden).

Das Dorf

9

Andere hingegen werden sich über die knappen Ausfüh-

der »subjektiven« des Dorfbewohners mischt. Bei wichtigen

rungen freuen, die verkürzen und das Wesentliche darzu-

Fragen der ökonomischen, politischen und gesellschaft-

stellen versuchen. Mein großes Anliegen ist es, dem Leser

lichen Dorfentwicklung habe ich mich deshalb nicht ge-

das Dorf auch optisch gut zu präsentieren. Über 300 aus-

scheut, Stellung zu beziehen.

sagekräftige Fotos, Grafiken und Karten veranschaulichen

Abschließend möchte ich allen danken, die zum Gelin-

den jeweiligen Text. Das Buch kann somit auch über diese

gen dieses Buches beigetragen haben. Dem Theiss Verlag

Abbildungen »gelesen« werden. Die hier versuchte Annä-

und seinen Mitarbeitern für die Annahme meines Konzep-

herung an das Dorf wird in 60 überschaubare »Kurzge-

tes und die gute Betreuung und Gestaltung. Meiner gan-

schichten« gefasst.

zen Familie für ihr Interesse und die ständige Unterstüt-

Mit dem Motiv, ein für jedermann verständliches und

zung während der dreijährigen Arbeit am Manuskript.

doch wissenschaftlich fundiertes Dorfbuch zu schrei-

Danken möchte ich auch allen Fachleuten und Engagier-

ben, verbindet sich ein zweites Anliegen dieses Buches. Es

ten des ländlichen Raumes, deren Kenntnisse und Erfah-

möchte die große und unterschätzte Bedeutung der Wirt-

rungen mir durch zahllose Briefe und Gespräche zugute-

schafts- und Lebensform Dorf für den Staat und die Gesell-

kamen. Nicht zuletzt danke ich den zahllosen Dorfbewoh-

schaft herausstellen und um Respekt und Anerkennung da-

nern aus allen Teilen Deutschlands, die mir begegnet sind,

für werben. Nicht nur die Stadt, auch das Dorf ist ein Er-

für unzählige Informationen und Antworten auf meine

folgsmodell der europäischen Kulturgeschichte.

Fragen. Viele dieser Gespräche haben ihren unmittelbaren

Grundlage dieses Buches ist die jahrzehntelange Be-

Niederschlag in diesem Buch gefunden.

schäftigung mit dem ländlichen Raum in Mitteleuropa

Ich hoffe, mit diesem Buch möglichst viele Leser zu er-

und einigen Nachbarländern. Forschungs- und Informati-

reichen und auch zu erfreuen. Naturgemäß sind in einem

onsreisen haben mich in alle Regionen Deutschlands und

thematisch so weit gefassten Buch wie diesem Unzuläng-

sicherlich mehrere Tausend Dörfer geführt. Eine Haupt-

lichkeiten kaum zu vermeiden. Wenn dem aufmerksamen

quelle meiner Kenntnisse ist jedoch mein eigenes Leben auf

Leser Mängel auffallen sollten, bin ich ihm für eine Mittei-

dem Land, das mir von Geburt an bis heute täglich neue Er-

lung sehr dankbar.

fahrungen bringt. So liegt es auf der Hand, dass sich in die-

Gerhard Henkel,

sem Buch die »objektive« Sichtweise der Wissenschaft mit

Fürstenberg/Westfalen im Sommer 2011

Vorwort zur 3. Auflage Nach dem Start zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 2011

sind aufgegriffen worden. So wurden einige Darstellungen

und einer verbesserten Neuauflage bereits im Januar 2012

zum Themenbereich Landwirtschaft und Agrarpolitik prä-

kann dieses Buch jetzt schon in die 3. Auflage gehen. Die brei-

zisiert oder hinzugefügt. Auch das für die Landkultur wich-

te und nahezu ausschließlich positive Resonanz von Lesern

tige Thema der Mundarten und Dialekte fand in einem

und Medien haben den Autor sehr gefreut. In zahlreichen

neuen Abschnitt seinen gebührenden Platz. Um einen noch

der weit mehr als 200 Besprechungen namhafter Zeitun-

größeren Interessentenkreis- und Leserkreis zu erreichen,

gen, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehanstalten wurde

erscheint das Buch nun in der kosten- und preisgünstigeren

bereits von einem wichtigen und notwendigen Standard-

broschierten Form, wobei ansonsten keinerlei Abstriche an

werk gesprochen. Viele Leser wie zum Beispiel Dorfbürger-

der technischen Ausstattung vorgenommen wurden.

meister, Fachkollegen oder die Bestsellerautorin Ulla Lachauer schrieben mir begeisterte Briefe ihrer Anerkennung.

Ich wünsche allen Interessierten weiterhin viel Muße und Freude beim Lesen und Betrachten dieses Buches.

Der bisherige Erfolg hat den Autor wie den Theiss Verlag

10

angespornt, dieses Dorfbuch weiter zu verbessern. Mehrere

Gerhard Henkel

Anregungen aus Besprechungen und aus der Leserschaft

Fürstenberg/Westfalen im Sommer 2015

Vorwort

Das alte Dorf

Der Kupferstich von Johann Friedrich Henning präsentiert das Dorf Rixdorf bei Berlin um 1800. Dorf und Landleben erscheinen hier als eine Idylle. Das Bild des schönen alten Dorfes prägt bis heute unsere Vorstellungen.

Vom Leben in der »guten alten Zeit« Die Vorgeschichte des modernen Dorfes vom Mittelalter bis 1800

Die Entwicklung des deutschen Dorfes vom Frühen

Jäger, Sammler und Fischer meist nur von kurzer Dauer.

Mittelalter bis zum Beginn des Industriezeitalters im

Dies änderte sich aber an der Wende zur Jüngeren Steinzeit

frühen 19. Jahrhundert ist äußerst vielschichtig und

vor etwa 7000 Jahren: Die Menschen rodeten Wald und bau-

von starken regionalen und lokalen Unterschieden

ten Getreide an. Als Ackerbauern und Viehzüchter wurden

geprägt. Dennoch lassen sich einige »rote Fäden«,

sie nun sesshaft und legten dauerhafte Siedlungen an. Da-

epochale Brüche und langfristige Veränderungen

mit schlug in gewisser Weise eine zweite Geburtsstunde des

ausmachen. Diese werden hier in knapper Form darge-

Dorfes – in der Wissenschaft spricht man von der »Neoli-

stellt: Wie verlief die Siedlungsgeschichte mit ihren

thischen (d. h. jungsteinzeitlichen) Revolution«. Vor etwa

unterschiedlichen Landnahme-, Ausbau- und Wüstungs-

2000 Jahren, während der Römischen Kaiserzeit, gab es

phasen? Wie die Entwicklung von Landwirtschaft und

im heutigen Deutschland bereits mehrere Tausend kleine

dörflichem Handwerk? Hierbei wechselten ökonomi-

und mittelgroße Dörfer. Deren Bevölkerung hatte sich vor-

sche Konjunktur- und Krisenphasen einander ab. Gene-

wiegend in den fruchtbaren Börden- und Tallandschaften

rell war das Leben für die Masse der Dorfbewohner

angesiedelt und betrieb neben Ackerbau und Viehhaltung

von der Sorge um das tägliche Brot geprägt, die

auch bereits Handwerk und Handel.

soziale Schichtung blieb über Jahrhunderte fest. Von

Im Folgenden wird die knappe Darstellung der Dorfent-

der »guten alten Zeit« kann in weiten Phasen der Dorf-

wicklung von 500 bis 1800 n. Chr. in fünf Epochen geglie-

geschichte also nicht die Rede sein. Die Befreiung der

dert. Diese ergeben sich durch den fast regelmäßigen Wech-

Bauern aus der mehrfachen Abhängigkeit von der

sel von verschiedenartigen Ausbau- und Rückgangsphasen.

Grundherrschaft konnte trotz mancher Aufstände und

Inhaltlich geht es dabei vor allem jeweils um die Entwick-

Bauernkriege letztlich erst im 19. Jahrhundert erreicht

lung der Grundherrschaft, der Dorfgemeinde, der Gestalt

werden.

der Dörfer und nicht zuletzt der ökonomischen und sozialen Verhältnisse.

Natürlich beginnt die Geschichte des Dorfes nicht erst im Mittelalter – sie reicht bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte vor etwa 500 000 Jahren zurück. Zwar waren in der Älteren und Mittleren Steinzeit die Siedlungsplätze der

12

Das alte Dorf

Siedlungsbefestigungen spielten im Mittelalter eine wichtige Rolle. Vellberg im Hohenloher Land ist heute noch so ummauert, dass es abgeschlossen werden kann wie im 15. Jahrhundert.

500–1100 Frühmittelalterliche Landnahme und Entfaltung der Grundherrschaft

Westdeutschlands als auch nördlich der Mittelgebirge statt. Während sich im südlichen und westlichen Deutschland vor allem die Franken und Alemannen niederließen, wurden die norddeutschen Regionen vornehmlich von Sachsen

Das Frühe Mittelalter begann nach dem Zusammenbruch

und Friesen in Besitz genommen.1 Die Siedlungsgründun-

des Römischen Reiches im späten 5. Jahrhundert mit einer

gen dieser frühen Zeit lassen sich bis heute vielfach an ih-

politischen, ökonomischen und wohl auch klimatischen

ren Ortsnamenendungen ablesen und damit auch datieren.

Krisenphase. Es war eine Zeit der Völkerwanderungen: Grö-

So werden die süddeutschen »-ingen«-Orte der alemanni-

ßere Bevölkerungsgruppen wanderten aus Mitteleuropa ab,

schen Landnahmezeit und die norddeutschen »-hausen«-

zahlreiche ländliche Siedlungen wurden aufgegeben und

Orte der sächsischen Landnahmezeit zugeordnet. Bei der

ehemalige Ackerflächen wieder vom Wald eingenommen.

Siedlungsgröße des Frühmittelalters um 750 können wir

Doch die Phase der Siedlungsleere und Wiederbewal-

überwiegend von locker bebauten Weilern ausgehen.

dung dauerte nicht allzu lange. Bereits ab dem 7. Jahrhun-

In der Karolingerzeit des 8. und 9. Jahrhunderts wurden

dert kam es nach und nach zu einer Wiederbesiedlung, die

vor allem die bestehenden Siedlungen ausgebaut: Durch ei-

man als »frühmittelalterliche Landnahme« bezeichnet. Der

nen Anstieg der Bevölkerung kam es zu einer allmählichen

Neuanfang fand sowohl im »römischen« Teil Süd- und

Verdichtung bzw. »Verdorfung« der ursprünglich aufgelo-

Nicht nur Burgen und Kirchen, sondern auch Bauernhöfe und Dörfer waren im Mittelalter befestigt. Man wählte hierzu Steinmauern, Erdwälle, Holzpalisaden oder Wassergräben. Hier die Modellzeichnung eines Dorfes um 1000 n. Chr.

Das alte Dorf

13

lungen massive Steinbauten, die kleinen Festungen glichen und häufig durch ihre Lage auf einer Anhöhe besonders exponiert waren. In Notzeiten hatten die Kirchen zugleich Wehr- und Schutzaufgaben zu erfüllen. Nach Beendigung des karolingischen Siedlungsausbaus im 11. Jahrhundert dürften bereits drei Viertel aller mittelalterlichen Siedlungen in Deutschland bestanden haben. Ein Hauptkennzeichen des ökonomischen und sozialen Lebens auf dem Land im Mittelalter war die mehrfache Abhängigkeit der Bewohner von der Grundherrschaft. Basis hierfür war das Eigentumsrecht des Grundherren am Boden, den er in eigenen Gütern selbst bewirtschaftete oder an Bauern zu Lehen gab, d. h. zur Nutzung verlieh. Oberster Grundherr war der König, dem das Obereigentum an alKlöster waren Pioniere bei der Verbreitung der Glaubens-, Buch- und Agrarkultur auf dem Lande seit dem Frühen Mittelalter, hier das Kloster Eberbach im Rheingau.

lem Land zustand. Vom König gelangte das Land bereits im Frühmittelalter als Lehen in die Hände des Adels und der Kirche. Von der »Hohen Leihe« der Herzöge, Grafen, Bischöfe und Reichsäbte ging das Land nach und nach an die »Untere Leihe« der Ritter, Dienstmannen und Äbte. So bildete sich allmählich eine Lehenskette von oben nach unten heraus2 – für die Bauern blieb in der Regel nur das Nutzungsrecht am Boden. Zur Grundherrschaft über den Boden kam häufig die sog. »Leibherrschaft« hinzu. Die Bauern waren damit auch persönlich unfrei oder »hörig« bis hin zur »Leibeigenschaft«, hier gab es allerdings viele Abstufungen und große regionale Unterschiede. Zur weitesten Form der Leibeigenschaft gehörte es, dass der Bauer die Grundherrschaft nicht ohne die Erlaubnis des Grundherren verlassen durfte. Neben der Boden- und Leibherrschaft gab es in der Regel als Drittes die Gerichtsherrschaft. Der Grundherr hatte den Richter zu bestellen und zu unterhal-

Mit der Christianisierung im Frühen Mittelalter bekamen die meisten Dörfer eine Kirche. Meist waren es prächtige Bauten aus Stein, wie hier in Einhausen in Thüringen.

ten, wobei dieser häufig zugleich als Amtmann oder Schreiber der Grundherrschaft tätig war (woraus sich durchaus Interessenkonflikte ergeben konnten). Aufgrund ihrer Ab-

14

ckert bebauten Kleinsiedlungen. Die wichtigste Aufgabe

hängigkeit vom Lehen oder Lehnsgut bezeichnet man diese

der karolingischen Politik lag somit weniger in Siedlungs-

Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch als Feudalis-

neugründungen als vielmehr in der »inneren Organisation«

mus (abgeleitet vom lateinischen Wort feudum = Lehnsgut),

und Eingliederung der bestehenden Siedlungslandschaft

sie dominierte das Landleben über 1000 Jahre vom Frühen

in das Frankenreich. Das bedeutete vor allem den Bau von

Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Über Deutschland ver-

Kirchen und die Einrichtung von Pfarreien. Wichtige Pi-

teilt, entwickelten sich mindestens neun unterschiedliche

onierarbeit leisteten hierbei die Bischofssitze und Klöster,

Typen von Grundherrschaften.3

die nun in allen Regionen errichtet wurden. Die Dorfkir-

Die allmähliche Entfaltung des feudalen Agrarsystems

chen bekamen sofort einen hohen Stellenwert: Sie waren

im Frühen Mittelalter hatte verschiedene Gründe. Basis war

meist als einzige Gebäude der frühmittelalterlichen Sied-

die Einführung des fränkischen Rechts mit der Unterschei-

Das alte Dorf

Der auf einem Podium am Pult sitzende Grundherr empfängt eine Gruppe von abhängigen Bauern, um seine Ankündigungen mitzuteilen. Die Bauern haben ihr Arbeitsgerät dabei und heben als Zeichen der Ehrenbezeugung die rechte Hand (15. Jh.).

dung zwischen Obereigentum und Nutzungsrecht am Bo-

Simon Bening malte um 1540 dieses Monatsbild Juli: Es zeigt Bauern bei der Heuernte vor einem ansehnlichen Gehöft in einer harmonischen Landschaft.

Tatsächlich war das komplexe Dienst-Lehen-Verhältnis

den durch den Aufbau der Lehenskette. Durch die begin-

zwischen Grundherren und Bauern eine wechselseitige Be-

nende Intensivierung der Landwirtschaft kam es zu ei-

ziehung des Gebens und Nehmens. Die Bauern leisteten für

ner allmählichen Trennung der wichtigsten Aufgaben

ihr Nutzungsrecht am Boden Dienste und Abgaben, wäh-

der Landbewohner, die ursprünglich zugleich Bauern und

rend der Grundherr seinen hörigen Bauern zu »Schutz

Krieger waren. Auf der einen Seite entstand nun die berit-

und Schirm« verpflichtet war, z. B. in Kriegs- und Notzei-

tene Berufskriegerschicht, die bald zum Adel aufrückte,

ten. So heißt es im Schwabenspiegel, dem wichtigsten süd-

und auf der anderen Seite der Ackermann, der sich jetzt

deutschen Rechtsbuch des 13. Jahrhunderts: »Wir sullen den

ganz seiner Hofstelle widmen konnte. Ein weiterer Grund

herrn darumbe dienen, daz sie uns beschirmen. Beschir-

für die Bildung der unterschiedlichen Stände waren die po-

men si uns nit, so sind wir inen nicht dienstes schuldig nach

litischen Wirren des Frühen Mittelalters – die weltlichen

rechte.«5 Allerdings sollte man das Verhältnis zwischen

und geistlichen Grundherren hatten die wichtigsten mili-

Grundherren und Bauern nicht idealisieren – es war ein

tärischen und politischen Aufgaben an sich gezogen, sodass

Machtverhältnis und keine freiwillige Arbeitsteilung. »Die

viele Bauern sich ihrer Autorität fügten und freiwillig ih-

zahlreichen Konflikte, die immer wieder zwischen Grund-

ren Schutz suchten.4

herren und Bauern über Abgaben und Dienste ausbrechen,

Das alte Dorf

15