Carola Neher gefeiert auf der Bühne gestorben im Gulag

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Carola Neher

Studien und Dokumente zu Alltag, Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus Band 4

Bettina Nir-Vered, Reinhard Müller, Olga Reznikova, Irina Scherbakowa (Hg.)

Carola Neher gefeiert auf der Bühne gestorben im Gulag Kontexte eines Jahrhundertschicksals

Lukas Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Die Herausgeber und Autoren haben sich nach Kräften bemüht, die Inhaber aller Bildrechte zu ermitteln und Reproduktionsgenehmigungen einzuholen. Sollten dennoch Ansprüche glaubhaft nicht berücksichtigt worden sein, wenden Sie sich bitte zunächst an den Verlag.

© by Lukas Verlag Erstausgabe, 1. Auflage 2016 Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 D–10405 Berlin www.lukasverlag.com Layout, Umschlag, Reprographie und Satz: Lukas Verlag Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978–3–86732–243–0

Inhalt

Einführung 9 Bettina Nir-Vered

Die Schauspielerin Carola Neher (1900 – 1933) Carola Neher Klaus Völker

31

Liebe ohne Heimat. Carola Neher und Klabund Karin Wieland

84

Exil und Verfolgung in der Sowjetunion (1933 – 1942) Das Ende der Illusionen. Das sowjetische Theater und das »Antitheater« der 1920er Jahre Valeriy Zolotukhin

101

Der Große Terror und die sowjetische Intelligenz. Am Beispiel der Schicksale Sergej Tretjakows und Wsewolod Meyerholds Wladimir Koljasin

119

In Zeiten des Terrors. Deutsche Schriftsteller und Künstler im sowjetischen Exil Anne Hartmann

146

Die Unsichtbare Carola Neher am Rande des deutschen Filmexils in der Sowjetunion Christoph Hesse

181

Die letzten Aufsätze von Carola Neher – Ein besonderer Fund Peter Diezel und Bettina Nir-Vered

203

Der Prozess gegen Carola Neher Zeugin der letzten Wegstrecke Carola Nehers – Hilda Dutý Peter Diezel

229

Politische Inquisition und NKWD-Terror: Carola Neher und Zenzl Mühsam 264 Reinhard Müller

Brecht und die Moskauer Prozesse Weiterwirkende Verfolgung Carola Neher und das gesammelte Schweigen Bertolt Brechts Reinhard Müller

297

Kindheit im Zeichen politischer Verfolgung Irina Scherbakowa

319

Anhang Danksagung 331 Autorenverzeichnis 332 Bildnachweis 336 Personenregister 338

Carola Neher in Gefallene Engel, Gemälde (Mischtechnik) von Julie Wolfthorn (1864–1944), 1929

Einführung Bettina Nir-Vered

Die Präsentation der Carola-Neher-Ausstellung im Berliner Literaturhaus 2016 – sie entstand auf Anregung der Herausgeberin im Rahmen einer Initiative von Memorial Deutschland, um der gebürtigen Münchnerin Carola Neher in ihrer Heimatstadt zu gedenken – war Anlass, mit dem vorliegenden Sammelband den Versuch zu unternehmen, sich dem außergewöhnlichen Schicksal dieser namhaften Schauspielerin der Weimarer Zeit, zugleich einem der prominentesten Opfer beider Diktaturen des 20. Jahrhunderts, multiperspektivisch zu nähern. Ihr kurzes, tragisches Leben, in dem sie zunächst zur Stilikone ihrer Zeit, zur Inspirationsfigur tonangebender Literaten der 1920er Jahre wurde, bevor sie nach ihrer Emigration in die Sowjetunion den stalinistischen »Säuberungen« zum Opfer fiel, erscheint als ein Kristallisationsmoment der Geschichte des 20.  Jahrhunderts. Ihre Biografie eröffnet Zugänge zum »Zeitalter der Extreme«, das zutiefst geprägt war von der kommunistischen Bewegung in Europa sowie der Terrorherrschaft der nationalsozialistischen und der stalinistischen Diktaturen. Dabei wird der weitgehend von Reinhard Müller sowie ergänzend von Olga Rezni­kova konzipierte Schwerpunkt der Publikation auf Carola Nehers zweiter, bislang wenig erforschter Lebenshälfte liegen, auf dem Zeitraum, in dem die Zeugnisse ihres Wirkens in Folge der das ganze Land umfassenden Massenrepressionen spärlicher und ungreifbarer werden, bis sie zuletzt verschwinden – und nur noch Akten bleiben, die ihren »Fall«, einen von hunderttausenden, ja Millionen Repressierter, dokumentieren. Um dieses ihr »Verschwinden« jedoch beschreiben zu können, muss, zumindest in exemplarischen Ausschnitten, die Geschichte dieses Landes, beherrscht vom Räderwerk ineinandergreifender Politik- und Terrorstrukturen, erzählt werden. Carola Nehers Leidensweg wird unter diesem Gesichtspunkt ein Schicksal, das viele Emigranten teilten, die am falschen Ort Zuflucht suchten und denen, ebenso wie zahllosen russischen Opfern, jede Freiheit zur Selbstbestimmung sowie in vielen Fällen zuletzt auch das Leben genommen wurde.

Münchner Schicksalsfäden Die Zeit der Jugendjahre der im Jahr 1900 in München geborenen Carola Neher war in ganz Europa geprägt von der Erschütterung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Die nationale Begeisterung, die große Teile Deutschlands mit Beginn des Ersten Weltkriegs erfasst hatte, war im Laufe der verlustreichen Kriegsjahre in tiefe Depression umgeschlagen. Mit dem Ende des Krieges kam es in Deutschland und anderen europäischen Städten zu revolutionären Erhebungen. Schlüsseltexte der Einführung

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Expressionisten wie das Gedicht »Weltende«1 und die Gedichtsammlung Menschheitsdämmerung, in der es erschien, artikulierten den Zeitgeist. Die Menschen dürsteten nach umfassender gesellschaftlicher Erneuerung, sie empfanden den historischen Augenblick als Zeitpunkt des Aufbruchs zu einem rundum erneuerten »Menschsein«. Ihre Ziele waren ein sofortiges Kriegsende und die Errichtung einer neuen, demokratischen Staatsform. Als Gegenmodell zur Macht des Militarismus und der Adelsprivilegien, als Gesellschaft der Zukunft erschien vielen Aufständischen, die in Budapest, Wien, Hamburg und Berlin auf die Straße gingen, die siegreiche sowjetische Oktoberrevolution. Anders als in anderen deutschen Städten, wo die Aufstände früher niedergeschlagen worden waren, gelang es in München – zunächst unter Kurt Eisner, nach dessen Ermordung zuerst unter Ernst Niekisch, Gustav Landauer u.a. und bald darauf unter den KPD-Politikern Eugen Leviné und Max Levien –, für eine kurze Zeitspanne eine fortschrittlich-revolutionäre Regierung zu bilden, bis diese von Truppen der Reichswehr im April 1919 blutig niedergeschlagen wurde. Der Kommunist Erich Wollenberg, damals Kommandeur in der bayerischen »Roten Nordarmee«, wird in seiner Schrift Als Rotarmist vor München die Kämpfe um den Erhalt der revolutionären Regierung schildern. An dieser ist auch – gemeinsam mit Ernst Toller und Gustav Landauer – der Anarchist und stets unabhängig urteilende Schriftsteller Erich Mühsam beteiligt, der nicht nur die Mächte der Reaktion bekämpft, sondern als einer der ersten Anhänger der Linken zugleich den auf autoritären Prinzipien beruhenden russischen Bolschewismus kritisiert.2 Die dramatischen Ereignisse in ihrer Heimatstadt muss die junge Carola Neher bewusst oder unbewusst, mit oberflächlichem Interesse oder eher gleichgültig, registriert und miterlebt haben. Ihr Hauptinteresse gilt sicherlich nicht der Politik. Sie will Schauspielerin werden, sie ist von diesem leidenschaftlichen Wunsch allerdings nahezu besessen. Doch obwohl sie sich als junge Frau oder später nie explizit dazu geäußert hatte, erscheint es mit Blick auf ihr weiteres Leben so, als wäre »die Revolution«, die kommunistische Bewegung in ihrer Ambivalenz – als Motor gesellschaftlicher Umwälzung und kultureller Innovation zum einen, als vollstreckendes Organ totalitärer, repressiver Gewalt zum anderen – zu einem bestimmenden Thema ihres Lebens geworden. In der bedeutenden Kunststadt München war die Ära der mit den konservativen Eliten verbundenen von Kaulbach und von Lenbach bereits zu Ende gegangen. Noch vor dem Kriegsausbruch hatte sich hier die Künstler-Vereinigung des »Blauen Reiter« gebildet, deren Gründer Wassily Kandinsky und Franz Marc im Mai 1912 gemeinsam mit Alfred Kubin, August Macke und Alban Berg in dem programmatischen, gleichnamigen Almanach ihr einflussreiches, zukunftsweisendes Konzept einer Kunst 1 Von Hoddis, »Weltende«, Titel des ersten Gedichts in der von Kurt Pinthus herausgegebenen Gedicht­sammlung Menschheitsdämmerung, Berlin, 1920 2 Siehe hierzu den Aufsatz von Reinhard Müller Politische Inquisition und NKWD-Terror. Carola Neher und Zenzl Mühsam in diesem Band.

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der Moderne entwarfen. Der Berliner Galerist Herwarth Walden3 machte die Gruppe in späteren Ausstellungen in ganz Mitteleuropa bekannt. Die Stadt München war in diesen Jah­ren zudem der Wohnsitz einiger be­reits etablierter wie angehender Schrift­steller. Thomas Mann hatte hier noch im Geburtsjahr Carola Nehers die Buddenbrooks vollendet, er wohnte hier bis 1933, zuletzt in einem Haus am Herzogpark, ebenso wie sein bis 1928 immer wieder in München lebender Bruder Heinrich, der sich, anders als der Bruder, in seinem Essay Zola schon 1915 »für das Programm von Geist und Tat«4 – zu einer politisch engagierten Literatur also – bekannte. Oskar Maria Graf, der Bäckersohn vom nahegelegenen Starnberger See, unterstützte die bayerische Räterevolution ebenso wie Ernst Toller, der am Tag der Ermordung Kurt Eisners auf der Theresienwiese Gedichte verlas. Der aus dem nahegelegenen Augsburg stammende Bertolt Brecht ließ sich in München von Wedekinds scharfzüngigen Bänkelliedern inspirieren. Ebenso wie der aus Ungarn stammende Ödön von Horváth hatte er sich im theaterwissen­ schaftlichen Seminar von Arthur Kut­ scher immatrikuliert. Noch schaute Horváth den Kleinbürgern nur »aufs Maul«, seine gesellschaftskritischen Dra­men, in denen er die gefährliche Doppel­bödigkeit der Gesellschaft und die verdeckte Aggression des Kleinbürgertums, dieser maßgeblich am Aufstieg des Nationalsozialismus beteiligten Schicht, bloßstellen würde, sollte er erst im Laufe der 1920er und frühen 1930erJahre verfassen. Auch den todkranken angehenden Dichter und AllroundLiteraten Alfred Henschke, den es vom fernen Crossen an der Oder zunächst nach Berlin verschlagen hatte, zog es in die Isarmetropole. Buchtitel Geschichten aus dem Wie­nerwald, mit Viele der obengenannten Persönlich- eigen­händiger Widmung von Ödön von Horváth, keiten werden mit Carola Neher im November 1931 3 Walden ging 1932 ins sowjetische Exil. Er wurde dort 1941 inhaftiert und starb am 31.10.1941 im Gefängnis in Saratow. 4 Heisserer 2008, S. 115.

Einführung

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Saar-Manifest, in »Die Volksstimme« zur Saar-Abstimmung vom 21. 9. 1934, unterzeichnet von Carola Neher, Leonhard Frank, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Ernst Toller, Klaus Mann, Erwin Piscator u. a.

Artikel »Die gedämpfte Saarkämpfer Melone« in »Der Angriff« vom 28. 9. 1934

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»Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger« vom 3. 11. 1934, Bekanntmachung der Ausbürgerung u.a. von Carola Neher

Einführung

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Lauf ihres späteren Lebens eng oder locker verbunden sein, manche nur kurz ihren Lebensweg auf Glück bringende oder fatale Weise kreuzen: Ödön von Horváth, in dessen gefeierter Inszenierung seiner Geschichten aus dem Wienerwald Carola Neher in der Rolle der Marianne einen ihrer letzten großen Triumphe in der Weimarer Zeit feierte, schenkt ihr im November 1931 ein Buchexemplar seines bitterbösen Dramas mit der Widmung »Liebe Karoline, nimm es hin, nämlich dieses Stück da, zur freundlichen Erinnerung an Deinen Ödön [Horváth]«. Bertolt Brecht war sie schon um 1922 in München begegnet, er wird zu ihrem Wegbegleiter, der ihre größten künstlerischen Erfolge ermöglicht. Bereits im Exil wird ihre gemeinsam mit Heinrich Mann und anderen Schriftstellern geleistete Unterschrift unter einen KPD-Aufruf gegen die Übernahme des Saargebiets durch NS-Deutschland ihre Ausbürgerung durch die nationalsozialistischen Machthaber zur Folge haben, sodass ihr fortan der Rückweg nach Deutschland verschlossen sein wird. Eine eher zufällige Begegnung im selben Jahr in Prag mit dem einstmals überzeugten Bolschewisten Erich Wollenberg, der mittlerweile mit dem Stalinismus gebrochen hat und aus der Sowjetunion geflohen ist, wird zum Anlass ihrer Verhaftung in Moskau im Jahr 1936 werden. Erich Mühsam, der scharfsinnige und unabhängige Zeitkritiker und Dichter, wird schon im Juli 1934 von nationalsozialistischen Folterknechten barbarisch ermordet. Seine Frau Zenzl aber, die, um das Werk und Vermächtnis ihres Mannes zu retten, einer Einladung in die Sowjetunion folgte, »womit sie sich auch gegen die Warnung Mühsams stellte, niemals in die Sowjetunion zu gehen, solange Stalin dort herrsche«5, wird in Moskau, ebenso wie Carola Neher, unter absurden Beschuldigungen verhaftet und eine ihrer letzten Zellengefährtinnen im Moskauer Butyrka-Gefängnis sein. Im Gegensatz zu Carola Neher wird sie, allerdings nach schwerer jahrzehntelanger Verfolgung6, die Jahre des Exils in der Sowjetunion überleben und nach Deutschland, genauer: in die DDR, zurückkehren. In ihren letzten Lebensjahren durfte sie weder über ihre erlittenen Repressionen berichten noch konnte sie ihre bayerische Heimat wiedersehen.

Carola Neher als literarische Inspirationsfigur – Revolution als Thema ihrer Schauspielkunst Die »Marusja« in Klabunds Drama Brennende Erde Seinen »jungen Zigeuner«7 nannte Alfred Kerr den Dichter Alfred Henschke, der sich Klabund nannte und sich mit diesem lautmalerischen Namen, quasi der Visitenkarte des Außenseiters und existenziell Heimatlosen, in der Gesellschaft der Literaten einführte. Verband er doch in dieser Wortschöpfung den Begriff »Klabautermann« – also den Namen des geheimnisvollen Schutzgeistes der Schiffer und Seefahrer, 5 Otten 1996, S. 14. 6 S. Müller 2001. 7 Kerr 2009, S. 242.

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