BND

6 Roger Engelmann und Karl Wilhelm Fricke: Der „Tag X´ und die Staatssicherheit, 17. ... 1947i1991, Köln u.a. 2002; Christian Ostermann (Hg.): Uprising in East Germany 1953. ... Juni 1953 in Berlin und der DDR, Berlin 2013; Engelmann/ Fricke, Tag X; ...... tion Gehlen, Werner Haase, im November 1953 sichergestellt.
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Studien Nr. 1

Ronny Heidenreich Die Organisation Gehlen und der Volksaufstand am 17. Juni 1953

Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 Herausgegeben von Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller

Inhalt Einleitung

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1. Die Krise in der DDR in der Berichterstattung

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der Organisation Gehlen 2. Informationsbeschaffung während

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des Volksaufstandes 3. Interpretationen und Erkenntnisse

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3.1. Interpretationen: Inszenierter Aufstand

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3.2. Erkenntnisse über den Aufstand

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4. Manöverkritik

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5. Zur Frage einer Beteiligung an den Unruhen

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Schlussbemerkung

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Einleitung Seit dem frühen Morgen des 17. Juni 1953 demonstrierten zehntausende 0HQVFKHQ LQ GHQ 6WUD‰HQ 2VWEHUOLQV %LQQHQ ZHQLJHU 6WXQGHQ HQWOXG VLFK der in den zurückliegenden Jahren aufgestaute Unmut in einem landesweiten VSRQWDQHQ9RONVDXIVWDQGJHJHQGDV6('5HJLPH=XUJOHLFKHQ=HLWIXKUGHU Agent1 GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ 9 ]X HLQHP SODQPl‰LJHQ 7UHII QDFK Westberlin, um sich als Funker ausbilden zu lassen. Gegen Mittag begleitete ihn sein Instrukteur bis an die Sektorengrenze. Im Ostteil der Stadt waren in]ZLVFKHQVRZMHWLVFKH3DQ]HUDXIJHIDKUHQZHOFKHGLH(UKHEXQJJHZDOWVDP QLHGHUVFKOXJHQ9HUZLVFKWHQRFKGLHOHW]WH%DKQQDFK2VWEHUOLQEHYRU PLW9HUKlQJXQJGHV$XVQDKPH]XVWDQGHVGLH*UHQ]HQJHVFKORVVHQZXUGHQ Als sich die beiden am U-Bahnhof Gleisdreieck trennten, waren über dem QDKH JHOHJHQHQ 3RWVGDPHU 3ODW] 5DXFKIDKQHQ ]X VHKHQ LQ GHQ 6WUD‰HQ Schüsse zu hören. Neugierig geworden, begab sich der Ausbilder für einige Stunden an den Ort des Geschehens und kehrte am frühen Abend in seine :HVWEHUOLQHU:RKQXQJ]XUFN)QI7DJHVSlWHUODJVHLQ%HULFKWLQ3XOODFK YRU 1LFKW RKQH $QHUNHQQXQJ VFKLOGHUWH HU DXVIKUOLFK GDV 9RUJHKHQ GHU VRZMHWLVFKHQ7UXSSHQXQGGHURVWGHXWVFKHQ3ROL]HLJHJHQGLHDXIJHEUDFKWH Menschenmenge.2 Die gewaltsame Niederschlagung des Aufstandes sicherte dem SED-Regime GDV hEHUOHEHQ 'LH GHVDYRXLHUWH ''5)KUXQJ EHVFKXOGLJWH QRFK DP  Juni westliche Dienste, so auch die Organisation Gehlen, die Erhebung herbeigeführt zu haben.3 Reinhard Gehlen, Leiter des nach ihm benannten *HKHLPGLHQVWHVXQGVSlWHUHUVWHU3UlVLGHQWGHV%XQGHVQDFKULFKWHQGLHQVWHV %1' ZHKUWHVLFKLQVHLQHQ0HPRLUHQJHJHQGLHVHQ9RUZXUI*OHLFK]HLWLJOLH‰

  8QWHU$JHQWHQZHUGHQLP)ROJHQGHQ4XHOOHQGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQYHUVWDQGHQGLHLQWHUQDOV90lQQHU EH]HLFKQHWZXUGHQ'DVLQGHU=HQWUDOHXQGLQGHQ$X‰HQVWHOOHQKDXSWDPWOLFKEHVFKlIWLJWH3HUVRQDOZLUGDOV Mitarbeiter bezeichnet.   (1 %H]LUNVYHUWUHWXQJ( DQ=HQWUDOH0HOGXQJ(UHLJQLVVHLQ2VWEHUOLQ6²%XQGHVDUFKLY %$UFK %%ODWW² 3 Stellvertretend: Albert Charisius und Julius Mader: Nicht länger geheim. Entwicklung, System und ArbeitsweiVHGHVLPSHULDOLVWLVFKHQGHXWVFKHQ*HKHLPGLHQVWHV%HUOLQ 2VW 6²+HLQ])HOIH,P'LHQVWHGHV Gegners, 10 Jahre Moskaus Mann im BND, Hamburg 1986, S. 164–167.

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er durchblicken, die Diffamierungskampagne sei ein indirekter Beweis für die Schlagkraft seiner Organisation.4 Andere Autoren, die sich mit der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes beschäftigten, griffen diesen Aspekt bei der Darstellung des 17. Juni auf. Die Spiegel-Journalisten Hermann Zolling und Heinz Höhne schilderten erstmals in ihrer 1971 erschienenen Artikelserie ࡐ3XOODFKLQWHUQ´ZLHGHUEHUUDVFKHQGH9RONVDXIVWDQGGHQJU|‰WHQQDFKULFKtendienstlichen Coup des BND verhinderte: Mit Hermann Kastner sollte ein Agent der Organisation Gehlen auf Betreiben des damaligen sowjetischen Hochkommissars in Ostberlin, Wladimir Semjonow, Ministerpräsident der DDR werden und die SED-Führung um Walter Ulbricht ablösen.5 Nach dem Fall der Berliner Mauer wurden solche Geschichten mit neuen Aspekten angereichert. Im Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit fanden sich einzelne Originaldokumente, die eine Beteiligung der Organisation Gehlen DEHU DXFK HLQH ]XWUHIIHQGH %HZHUWXQJ GHV 9RONVDXIVWDQGHV GXUFK GLHVH IUDJOLFK HUVFKHLQHQ OLH‰HQ (V GHXWHWH VLFK DQ GDVV PDQ LQ 3XOODFK LQ GHU sowjetischen Führung den Initiator des Aufstandes gesehen hatte.6 Eine systematische Untersuchung der Frage, welche Kenntnis über den Aufstand, dessen Ursachen, Ablauf und gegebenenfalls Anteil die 9RUOlXIHURUJDQLVDWLRQ GHV %XQGHVQDFKULFKWHQGLHQVWHV KDWWH XQG ZLH VLH diese Ereignisse interpretierte, erfolgte bislang nicht, da die Akten des Bundesnachrichtendienstes nicht zugänglich waren.7 Der vorliegende Aufsatz zeigt, wie die Organisation Gehlen die politische, geVHOOVFKDIWOLFKHXQGZLUWVFKDIWOLFKH(QWZLFNOXQJLP8PIHOGGHV9RONVDXIVWDQGHV

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Reinhard Gehlen: Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971, München 1973, S. 150–151.

  +HUPDQQ=ROOLQJXQG+HLQ]+|KQH3XOODFKLQWHUQ*HQHUDO*HKOHQXQGGLH*HVFKLFKWHGHV%XQGHVQDFKULFKtendienstes, Hamburg 1971, S. 133–135. Diese Erzählung wurde von Heinz Höhne in seinem 1983 erschienen %XFKࡐ.ULHJLP'XQNHOQ´DXVJHZHLWHWXQG]XOHW]WYRQ3HWHU)0OOHUXQG0LFKDHO0XHOOHULQLKUHPhEHUEOLFNVZHUN zur Geschichte des Bundesnachrichtendienstes übernommen. Heinz Höhne: Der Krieg im Dunkeln. Macht und (LQÁXVVGHUGHXWVFKHQXQGUXVVLVFKHQ*HKHLPGLHQVWH0QFKHQ6²3HWHU)0OOHUXQG0LFKDHO 0XHOOHU*HJHQ)UHXQGXQG)HLQG'HU%1'*HKHLPH3ROLWLNXQGVFKPXW]LJH*HVFKlIWH+DPEXUJ6 ²+HUPDQQ.DVWQHUVWDQGELV]XU9RUEHUHLWXQJVHLQHU)OXFKWLQGHQ:HVWHQQLFKWPLWGHU2UJDQLVDWLRQ Gehlen bzw. dem BND in Kontakt.   5RJHU(QJHOPDQQXQG.DUO:LOKHOP)ULFNH'HUࡐ7DJ;´XQGGLH6WDDWVVLFKHUKHLW-XQL5HDNWLRQHQ und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bremen 2003, S. 75–78. 7 Lediglich unter dem Blickwinkel der Militärspionage wurde auf Grundlage der im Bundesarchiv zugänglichen 7HLOEHUOLHIHUXQJGHV%1'HLQHHUVWH%HVWDQGVDXIQDKPHYRQ$UPLQ:DJQHUXQG0DWWKLDV8KOYRUJHQRPPHQ Armin Wagner und Matthias Uhl: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR, Berlin 2007, 6²VRZLH0DWWKLDV8KOࡐ$PIXKUHQVRZM3DQ]HUDXIGLHGDV)HXHUHU|IIQHWHQ´'LHPLOLWlULVFKHQ ,QIRUPDWLRQHQGHUࡐ2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ´EHUGHQ-XQLZZZMXQLGHFKURQLN8+/%1'SGI letzter Zugriff 11.02.2013.

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einschätzte, auf welcher Grundlage diese Bewertungen beruhten und ZDV VLH EHU GHQ  -XQL EHULFKWHWH 'LH (UNHQQWQLVVH GHU YRQ 3XOODFK aus betriebenen DDR-Spionage wurden der CIA als Dienstherr und dem %XQGHVNDQ]OHUDPW LQ %RQQ ]XU 9HUIJXQJ JHVWHOOW (V ZLUG JH]HLJW ZHOFKH Bedeutung den Berichten von beiden Institutionen beigemessen wurde und welche Rückwirkungen dies auf die Organisation Gehlen hatte, deren Ziel es von Anfang an gewesen war, Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland zu werden. In diesem Zusammenhang sind die internen Einschätzungen und Konsequenzen zu sehen, die aus den Erfahrungen des 9RONVDXIVWDQGHV JH]RJHQ ZXUGHQ 2E HLQH %HWHLOLJXQJ GHU 2UJDQLVDWLRQ Gehlen an den Unruhen in der DDR nachweisbar ist, wird ebenfalls überprüft. Auch wenn über Aufgabe und Arbeitsweise der Organisation Gehlen keine fundierte Forschung existiert, so kann für die Geschichte des 17. Juni auf eine breite Literatur zurückgegriffen werden. 8 'HU 9RONVDXIVWDQG LVW LQ seinen Ursachen, Abläufen und Folgen für das SED-Regime, für die DDRBevölkerung und für den sowjetischen Herrschaftsbereich inzwischen umfassend erforscht.9 hEHU GLH :DKUQHKPXQJ GHV $XIVWDQGHV LP :HVWHQ auch unter nachrichtendienstlichen Gesichtspunkten, liegen gleichfalls erste Arbeiten vor.10 In diesem Zusammenhang sind im Hinblick auf die von den 9HUHLQLJWHQ6WDDWHQILQDQ]LHUWHXQGNRQWUROOLHUWH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQYRUDO  'LHDXIDPHULNDQLVFKHQ*HKHLPGLHQVWTXHOOHQJHVWW]WHQMQJHUHQ0RQRJUDÀHQEHUGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ beschäftigten sich vorrangig mit deren Beziehungen zu US-Diensten sowie der politischen Führung der BundesUHSXEOLNXQG3HUVRQDOSUREOHPHQJHEHQDEHUEHUGLHHLJHQWOLFKHRSHUDWLYH7lWLJNHLWGHV'LHQVWHVNDXP$XVNXQIW Auf den 17. Juni gehen sie nicht ein. Mary Ellen Reese: Organisation Gehlen. Der Kalte Krieg und der Aufbau GHV'HXWVFKHQ*HKHLPGLHQVWHV%HUOLQ-DPHV+&ULWFKÀHOG$XIWUDJ3XOODFK'LH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ 1948–1956, München 1998.   .DUO:LOKHOP)ULFNHXQG,OVH6SLWWPDQQ +J -XQL$UEHLWHUDXIVWDQGLQGHU''5.|OQò,ONR 6DVFKD.RZDOF]XN-XQL8UVDFKHQ$EOlXIH)ROJHQ%UHPHQ-HQV6FK|QH9RONVDXIVWDQG'HU -XQLLQ%HUOLQXQGGHU''5%HUOLQ(QJHOPDQQ)ULFNH7DJ;5RJHU(QJHOPDQQ,ONR6DVFKD.RZDOF]XN 9RONVHUKHEXQJJHJHQGHQ6('6WDDW(LQH%HVWDQGVDXIQDKPH]XP-XQL*|WWLQJHQ%HUQG(LVHQIHOG ,ONR6DVFKD.RZDOF]XNXQG(UKDUGW1HXEHUW'LHYHUGUlQJWH5HYROXWLRQ'HU3ODW]GHV-XQLLQGHUGHXWVFKHQ *HVFKLFKWH%UHPHQ=XUVRZMHWLVFKHQ'HXWVFKODQGSROLWLN*HUKDUG:HWWLJ6RZMHWLVFKH'HXWVFKODQG3ROLWLN ².RUUHNWXUHQDQ6WDOLQV(UEH&KUXVWVFKRZV$XIVWLHJXQGGHU:HJ]XP%HUOLQ8OWLPDWXP*|WWLQJHQ (ONH6FKHUVWDQRM'LHVRZMHWLVFKH'HXWVFKODQGSROLWLNQDFK6WDOLQV7RG1HXH'RNXPHQWHDXVGHP$UFKLYGHV0RVNDXHU$X‰HQPLQLVWHULXPVLQ9LHUWHOMDKUHVKHIWHIU=HLWJHVFKLFKWH  6²$QGUiV%+HJHGVXQG 0DQIUHG:LONH +J 6DWHOOLWHQQDFK6WDOLQV7RG'HUࡐ1HXH.XUV´-XQLLQGHU''58QJDULVFKH5HYROXWLRQ %HUOLQ*HUKDUG:HWWLJ +J 'LHVRZMHWLVFKH'HXWVFKODQGSROLWLNLQGHUbUD$GHQDXHU%RQQ:LOIULHG Loth: Die Sowjetunion und die deutsche Frage. Studien zur sowjetischen Deutschlandpolitik von Stalin bis &KUXVFKWVFKRZ*|WWLQJHQ$OHNVHM0)LOLWRY*HUPDQLMDYVRYHWVNRPYQHåQHSROLWLĀHVNRPSODQLURYDQLL ²0RVNDX-DQ)RLW]LN6RZMHWLVFKH,QWHUHVVHQSROLWLNLQ'HXWVFKODQG²0QFKHQ 10 Eigenständige Monographien über die westliche Wahrnehmung des 17. Juni liegen noch nicht vor, dafür aber GLYHUVH$XIVlW]HLQGHQ6DPPHOElQGHQ&KULVWRSK.OH‰PDQQXQG%HUQG6W|YHU +J .ULVHQMDKUGHV.DOWHQ .ULHJHVLQ(XURSD.|OQ-DQ)RLW]LN +J (QWVWDOLQLVLHUXQJVNULVHLQ2VWPLWWHOHXURSD²9RP-XQL ELV]XPXQJDULVFKHQ9RONVDXIVWDQG3ROLWLVFKHPLOLWlULVFKHVR]LDOHXQGQDWLRQDOH'LPHQVLRQHQ3DGHUERUQ

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lem Strategien und Einschätzungen der US-Geheimdienste von Bedeutung, die insbesondere bei der Untersuchung einer möglichen Beteiligung zu berücksichtigen sind.11 Was die DDR-Spionage der Organisation Gehlen angeht, so lassen sich zum MHW]LJHQ =HLWSXQNW NHLQH DEVFKOLH‰HQGHQ $XVVDJHQ WUHIIHQ 'LHVH )UDJHQ werden gegenwärtig von der Unabhängigen Historikerkommission unterVXFKW*HVLFKHUWHUVFKHLQWGDVVGHU&,$6WDELQ3XOODFKIUGLH)HVWOHJXQJ der Aufklärungsschwerpunkte verantwortlich war und sie der Führung der Organisation Gehlen übermittelte. Bis 1949 betrieb die Organisation Gehlen unter Ägide der US-Army vorrangig militärische Aufklärung. Mit GHU hEHUQDKPH GHV 'LHQVWHV GXUFK GLH &,$ ZXUGH VHLW  GHU $XVEDX anderer Aufklärungszweige forciert, um die Organisation Gehlen zu einem funktionstüchtigen deutschen Auslandsnachrichtendienst zu entwickeln. (QWVSUHFKHQG ZXUGHQ VHLW  YRQ 3XOODFK Z|FKHQWOLFK VR JHQDQQWH ࡐhEHUVLFKWHQ´ KHUDXVJHJHEHQ GLH IU (PSIlQJHU LQ GHQ SROLWLVFKHQ Entscheidungsinstanzen der Bundesrepublik, vornehmlich dem Kanzleramt, bestimmt waren.12 Die Wochenberichte wurden in der Auswertungsabteilung verfasst, dem Stab Gehlen zugeleitet, redigiert und dann verteilt. Für die Informationsbeschaffung verfügte die Organisation Gehlen 1953 über zwei getrennte, aber miteinander verwobene Apparate. Die militärische und wirtschaftliche Aufklärung gegen die DDR wurde von der Dienststelle 50 D koordiniert, welche die politische Spionage der Dienststelle 40 organisatorisch unterstützte. Beide Apparate griffen auf ein Agentennetz zurück, GDVYRQHWZDHLQHP'XW]HQG$X‰HQVWHOOHQXQWHUKDOWHQZXUGH'RUWZXUGHQ GLH *HZlKUVOHXWH UHNUXWLHUW XQG PLW GHQ LQ 3XOODFK IHVWJHOHJWHQ $XIWUlJHQ versehen. Hauptsächlich mit DDR-Spionage befasst waren im Frühjahr 1953 die so genannten Generalvertretungen B mit Sitz in Bremen, G in )UDQNIXUW0DLQ XQG + LQ 'DUPVWDGW VRZLH GLH NOHLQHUH LQ $XJVEXUJ DQVlVsige Bezirksvertretung E. Sie verfügten zusammen über schätzungsweise

  %HUQG6W|YHU'LH%HIUHLXQJYRP.RPPXQLVPXV$PHULNDQLVFKH/LEHUDWLRQ3ROLF\YRP.DOWHQ.ULHJV ².|OQXD&KULVWLDQ2VWHUPDQQ +J 8SULVLQJLQ(DVW*HUPDQ\7KH&ROG:DUWKH*HUPDQ 4XHVWLRQDQGWKHÀUVWPDMRUXSKHDYDOEHKLQGWKH,URQ&XUWDLQ%XGDSHVW1HZ0LWWH-XOL@%$UFK%%ODWW²'HU$XWRUGHV$EVFKOXVVEHULFKWHVLVWQLFKWEHNDQQW*UXQGVlW]OLFK ZDUGLH$XVZHUWXQJVDEWHLOXQJIUGLH%HULFKWVDEIDVVXQJ]XVWlQGLJ,QGHU6DPPHODNWH]XP-XQLEHÀQGHQVLFK jedoch handschriftliche Aufzeichnungen, die vermutlich auf Eberhard Blum zurückgehen und möglicherweise als 9RUODJHJHGLHQWKDEHQ$QRQ\P>(EHUKDUG%OXP"@1RWL]HQXQGDWLHUW>-XQL-XOL@6²%1'$UFKLY Blatt 241–248.

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  2UJDQLVDWLRQ*HKOHQDQ%XQGHVNDQ]OHUDPW0HOGXQJ1Uࡐ=XU5HYROWHLQ%HUOLQ´ 965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW%DQG%ODWW   'LH0HOGXQJHQZXUGHQYHUÀOPWXQGYHUPXWOLFKLP%1'$UFKLYQHXYHU]HLFKQHW*HJHQZlUWLJVLQG VLHYHUVFKROOHQ)UGLH:HLWHUOHLWXQJGHU0HOGXQJHQZDUGDV9HUELQGXQJVEURGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQLQ%RQQ ]XVWlQGLJ,QGHVVHQhEHUOLHIHUXQJHQVLQGLP8PIHOGGHV9RONVDXIVWDQGHVNHLQHZHLWHUJHJHEHQHQ0HOGXQJHQ nachweisbar.   $QRQ\P .XUW:HL‰ ࡐ'HU-XQL(UVWHJUR‰H%HZlKUXQJVSUREHIUGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ´ %$UFK%   .XUW:HL‰ '1:LQWHUVWHLQ:HLW] ²ELV2IÀ]LHUGHU:HKUPDFKW(LQWULWWLQGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQDOV0LWDUEHLWHUGHUSROLWLVFKHQ$XINOlUXQJ²/HLWHUGHU$X‰HQSROLWLVFKHQ$XINOlUXQJ ²/HLWHUGHU1DFKULFKWHQEHVFKDIIXQJGHV%1'²/HLWHUGHU6FKXOHGHV%1'3HQVLRQLHUXQJ 1984–1990 Wiederanstellung im BND-Archiv.   (EHUKDUG%OXP '1+DUWZLJ ²ELV%HUXIVRIÀ]LHU(LQWULWWLQGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ 1948–1950 Abteilungsleiter in der Auswertung, 1950–1953 Referent im Auslandsverbindungsdienst, Juni 1953– SHUV|QOLFKHU0LWDUEHLWHU*HKOHQV²8QWHUDEWHLOXQJVOHLWHU3HUVRQDOZHVHQ²5HVLGHQW GHV%1'LQ/RQGRQ²/HLWHUGHU$EWHLOXQJ9HUZDOWXQJLQ3XOODFK²5HVLGHQWGHV%1'LQ :DVKLQJWRQ²3UlVLGHQWGHV%XQGHVQDFKULFKWHQGLHQVWHV

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suchten.29 Diese Berichte geben in erster Linie Auskunft über die interne Selbstwahrnehmung des BND in den 1980er Jahren und sind aufgrund ihrer selektiven Darstellung sehr kritisch zu beurteilen. Da die Ausarbeitung von :HL‰EHUGHQ-XQLNHLQHDQGHUHQDOVGLHIUGLH$EIDVVXQJGHVYRUOLH genden Aufsatzes herangezogenen Quellen verwendet, wurde sie nicht weiter berücksichtigt. Mit Erscheinen dieser Studie wird eine Dokumentenedition vorgelegt, die alle zentralen Quellen dieses Aufsatzes im Faksimile wiedergibt und über den BND bezogen werden kann.30 Allen Mitarbeitern der Historikerkommission, LQVEHVRQGHUH 3URI .ODXV'LHWPDU +HQNH *HUKDUG 6lOWHU $QGUHDV +LOJHU XQG7KRPDV:ROIELQLFKVHKU]X'DQNYHUSIOLFKWHW1LFKWQXUXQWHUGHQEHVRQGHUHQ%HGLQJXQJHQGLHVHV3URMHNWHVZDUHQLKUH%HUHLWVFKDIW]XNULWLVFKHU Lektüre und Diskussion für das Gelingen der Arbeit unverzichtbar.

  8$/>"@DQ3UlVLGHQWGHV%1'$XVDUEHLWXQJHQGXUFK+HUUQ:HLW](>"@DQ8$/>"@ Informationsgewinnung des BND in Krisenfällen, 15.02.1985, beide in BND-Archiv 42507. Die Signatur BND-Archiv 42507 unterliegt einer archivischen Schutzfrist und wurde nur für die UHK freigegeben.   %RGR+HFKHOKDPPHU +J 'RNXPHQWHGHUࡐ2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ´]XP9RONVDXIVWDQGDP-XQLEHDUEHLWHWYRQ5RQQ\+HLGHQUHLFK 0LWWHLOXQJHQGHU)RUVFKXQJVXQG$UEHLWVJUXSSHࡐ*HVFKLFKWHGHV%1'´1U %HUOLQ

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1 Die Krise der DDR in der Berichterstattung der Organisation Gehlen 0LW GHP LP 6RPPHU  YRQ GHU 6(')KUXQJ YHUNQGHWHQ ࡐ$XIEDX GHV 6R]LDOLVPXV´ EHJDQQ LQ GHU ''5 HLQ WLHIJUHLIHQGHU SROLWLVFKHU ZLUWVFKDIW OLFKHUXQGJHVHOOVFKDIWOLFKHU7UDQVIRUPDWLRQVSUR]HVVGHVVHQ$XVZLUNXQJHQ HLQ -DKU VSlWHU GHQ $XVEUXFK GHV 9RONVDXIVWDQGHV KHUYRUULHIHQ 'LH +HUUVFKDIW GHV 6('5HJLPHV VROOWH GXUFK =HQWUDOLVLHUXQJ XQG 3ROLWLVLHUXQJ YRQ 9HUZDOWXQJ -XVWL] XQG %LOGXQJVV\VWHP HLQHUVHLWV VRZLH GXUFK JH]LHOWH Repressionen gegen die bürgerliche Mittelschicht und die Kirchen andererseits ausgebaut werden. Im wirtschaftlichen Bereich gingen der forcierte Aufbau der Schwerindustrie, umfangreiche Wirtschaftsleistungen für die Sowjetunion und nicht zuletzt der beabsichtigte Aufbau von Streitkräften zu Lasten der Konsumgüterindustrie, was zusammen mit der intensivierten Kollektivierung EHUHLWV(QGH]XHLQHUGHXWOLFKHQ9HUVFKOHFKWHUXQJGHU9HUVRUJXQJVODJH IKUWH%HLGHU'XUFKVHW]XQJDOOGLHVHU0D‰QDKPHQEHGLHQWHVLFKGLH6(' )KUXQJ ]XP7HLO RIIHQHQ7HUURUV 6WlQGLJ VWHLJHQGH )OFKWOLQJV]DKOHQ GLH LP HUVWHQ +DOEMDKU  HLQ ELVODQJ QLFKW JHNDQQWHV $XVPD‰ HUUHLFKWHQ waren ein deutliches Zeichen für die wachsende Unzufriedenheit, die im Frühsommer 1953 den Bestand der DDR zu gefährden drohte. Den Wochenberichten der Organisation Gehlen ist zu entnehmen, dass diese Entwicklungen erkannt wurden. Gleichwohl spielte die Berichterstattung über die Lage in der DDR nur eine nachgeordnete Rolle. Schwerpunkt der QDFK%RQQEHUPLWWHOWHQ/DJHDQDO\VHQZDUHQ(LQVFKlW]XQJHQEHUDX‰HQSROLWLVFKH.RQ]HSWHXQG6WUDWHJLHQGHUVRZMHWLVFKHQ6WDDWVXQG3DUWHLIKUXQJ sowie Erhebungen über Stärke und Dislozierung der sowjetischen Streitkräfte |VWOLFK GHV (LVHUQHQ 9RUKDQJV31 Den Berichten nach zu urteilen, war es   'LH%HULFKWHJOLHGHUQVLFKLQHLQHQSROLWLVFKHQZLUWVFKDIWOLFKHQXQGPLOLWlULVFKHQ7HLOZREHLGLHMHZHLOLJHQ Entwicklungen in der Sowjetunion an erster Stelle behandelt wurden. Danach kamen die Erkenntnisse aus den HLQ]HOQHQ6WDDWHQGHV2VWEORFNVXQGHUVWDQOHW]WHU6WHOOHZLUGGLHࡐ6RZMHW]RQH´EHKDQGHOW

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DXV GHU 3HUVSHNWLYH GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ LQ HUVWHU /LQLH ZLFKWLJ ]X HU kennen, welche Konzepte die Moskauer Führung in den einzelnen Staaten des sowjetischen Herrschaftsbereiches und insbesondere im Hinblick auf die DDR verfolgte. Die im ersten Halbjahr 1953 von der SED-Führung verstärkten innenpolitischen Repressionen wurden in den Berichten der Organisation Gehlen immer wieder erwähnt. Sie galten als Beleg für die sowjetische Absicht, mit GHU6WlUNXQJGHU6WDDWVSDUWHLGLH''5DOVHLQHQࡐHLQGHXWLJHQ2VWVDWHOOLWHQ´ in ihren Herrschaftsbereich einzubinden.326RKHL‰WHVXQWHUDQGHUHPLQGHU Wochenübersicht vom 7. Mai 1953: Die Zuspitzung des Kampfes gegen die Evangelisch

schen und strukturellen

Angleichung der Sowjetzone an die SU.33

Dieser Analyse folgend, ging die Organisation Gehlen bis zum Ausbruch des $XIVWDQGHV GDYRQ DXV GDVV GHU HLQJHVFKODJHQH .XUV GHQ 9RUJDEHQ GHU sowjetischen Führung entsprach und auf eine Festigung des SED-Regimes unter Walter Ulbricht hinauslaufen werde.34 Da nicht über bevorstehende 0D‰QDKPHQ XQG 3ODQXQJHQ GHU ''5)KUXQJ EHULFKWHW ZXUGH VRQGHUQ nur eine nachträgliche Feststellung und Einordnung erfolgte, waren augenVFKHLQOLFKNHLQH,QIRUPDWLRQHQDXVGHP3DUWHLXQG6WDDWVDSSDUDWYHUZHQGHW worden. Die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR verfolgte die Organisation Gehlen YRUDOOHPKLQVLFKWOLFKUVWXQJVZLUWVFKDIWOLFKHU9RUJlQJH'LH%HULFKWHHQWKDOWHQ PLWXQWHU GHWDLOOLHUWH $QJDEHQ EHU 7UHLEVWRIISURGXNWLRQ GLH 3ODQHUIOOXQJ in der Schwerindustrie, beabsichtigte Bauvorhaben an Eisenbahn- und %UFNHQDQODJHQIUPLOLWlULVFKH7UDQVSRUWHRGHU$QDO\VHQEHUGDV3RWHQWLDO der DDR-Wirtschaft, den Aufbau einer Rüstungsindustrie voranzutreiben.35

  hEHUVLFKW6%$UFK%%ODWW   hEHUVLFKW6%$UFK%%ODWWbKQOLFKH(LQVFKlW]XQJHQVLQGDXFKLQGHQ hEHUVLFKWHQYRPXQG0DLVRZLHDP-XQL]XÀQGHQ   'D]XDXFKGLH(LQVFKlW]XQJHQLQGHQhEHUVLFKWHQYRPXQG0LWGHU5FNNHKUGHVVRZMHWLVFKHQ+RFKNRPPLVVDUV6HPMRQRZQDFK%HUOLQZXUGHLQ(UZlJXQJJH]RJHQGDVVVLFKGLHVHU6FKULWWDOVࡐ.ULWLN´DP ELVKHULJHQSROLWLVFKHQ.XUVGHXWHQODVVHDEHUHVࡐLVWDQ]XQHKPHQGDVVVLH6RZMHWLVLHUXQJVSROLWLN>«@GXUFK*HVWHQDX‰HQSROLWLVFKHQ(QWJHJHQNRPPHQVHUJlQ]WZLUG´hEHUVLFKW6%$UFK%%ODWW (EHQVR]XUFNKDOWHQGGLH%HZHUWXQJLQGHUGDUDXIIROJHQGHQhEHUVLFKW6%$UFK%%ODWW   hEHUVLFKWHQYRPXQG%$UFK%

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Die Erhebung derartiger interner Informationen zeigt, dass die Organisation *HKOHQ ]XPLQGHVW LQ 7HLOEHUHLFKH GHU ''5:LUWVFKDIW JXWH (LQEOLFNH KDWWH Entsprechend finden sich auch Hinweise auf Schwierigkeiten bei der 3ODQHUIOOXQJ XQG 3URGXNWLRQVHQJSlVVH36 Obwohl man solche Symptome einer krisenhaften Entwicklung erkannt hatte, konstatierte die Organisation Gehlen erst im Wochenbericht vom 17. Juni – als die Fehlentwicklungen von der SED-Führung bereits öffentlich eingestanden worden waren – eine Wirtschaftskrise in der DDR. Nach dem Aufstand behauptete die Organisation *HKOHQ JHJHQEHU GHU &,$ GDVV PLW GHU 4XHOOH 9 HLQ *HZlKUVPDQQ LQGHU6WDDWOLFKHQ3ODQNRPPLVVLRQYRUKDQGHQJHZHVHQVHLGHUEHUHLWV JHPHOGHW KDEH GDVV GHU :LUWVFKDIWVSODQ ]X ࡐDOOHUJU|‰WHQ 6FKZLHULJNHLWHQ IKUHQ ZUGH XQG XQGXUFKIKUEDU VHL´37 Aus den Berichten ist allerdings nicht erkennbar, dass solche grundsätzlichen Zweifel bei der Lageanalyse LP 9RUIHOG GHV$XIVWDQGHV EHUFNVLFKWLJW ZXUGHQ *UDEHU UlXPWH LQ VHLQHQ Erinnerungen ein, dass diese Darstellung deutlich übertrieben war: Außer einer Quelle, die in Ostberlin innerhalb der Planungskommission für die Org. arbeitete und die ganz vage Andeutungen und Vermutungen über mögliche Auswirkungen der Beschlüsse des ZK zum Thema Leicht- und Schwerindustrie machte, waren keine verwertbaren Informationen eingetroffen.38

Weniger eingehend beschäftigten sich die Berichte mit den Folgen der Wirtschaftspolitik für die Bevölkerung. Zwar finden sich in den ersten EHLGHQ 0RQDWHQ DOOJHPHLQH $XVVDJHQ EHU HLQH 9HUVFKOHFKWHUXQJ GHU 9HUVRUJXQJVODJH LQ GHU ''5 HLQH DXVIKUOLFKH 8QWHUVXFKXQJ GLHVHV 3UREOHPVHUIROJWHDEHUHUVWLQGHU:RFKHQEHUVLFKWYRP0DL6RVHLHQ GLHࡐMangelerscheinungen auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen und der LQGXVWULHOOHQ9HUVRUJXQJVJWHU´HLQH)ROJHGHUHLQVHLWLJHQ:LUWVFKDIWVSROLWLN und der fortgesetzten Kollektivierung. Die Organisation Gehlen ging davon DXV GDVV PLW ࡐHLQHU ZHLWHUHQ 9HUVFKlUIXQJ GHU /HEHQVPLWWHONULVH´ LQ GHU DDR zu rechnen sei.39 7URW] GHU ]XWUHIIHQGHQ $QDO\VH ZXUGH GDV $XVPD‰

der Krise unterschätzt. Eine Woche später widmete sich der Wochenbericht GHU 9HUVRUJXQJVODJH LP JHVDPWHQ 2VWEORFN XQG NDP ]X GHP 6FKOXVV GDVV GLH VRZMHWLVFKH )KUXQJ GDV 3UREOHP HUNDQQW KDEH XQG GHVKDOE GLH .ROOHNWLYLHUXQJQXUVRZHLWYRUDQWUHLEHQZUGHGDVVࡐUHJLRQDOH.DWDVWURSKHQ YHUPLHGHQZHUGHQ´40$OV5HDNWLRQDXIGLHGUDPDWLVFKH9HUVRUJXQJVODJHLQ GHU ''5 YHUZLHV GLH 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ DXI ILVNDOLVFKH 0D‰QDKPHQ GLH den entstandenen Kaufkraftüberhang auffangen sollten.41 Eine Zusammenschau der ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die möglicherweise Anhaltspunkte für eine innere Destabilisierung des SED-Regimes hätten liefern können, ist in den Berichten ELV]XP$XVEUXFKGHV$XIVWDQGHVQLFKW]XÀQGHQ'HULP)UKVRPPHU anschwellende Flüchtlingsstrom als unübersehbarer Indikator für die sich verschlechternde Stimmung wird nicht thematisiert. Dies deutet darauf hin, dass der DDR-Bevölkerung als politischen Akteur in den Analysen keine Bedeutung beigemessen und damit die Brisanz der Lage verkannt wurde.42 Aus Sicht der 2UJDQLVDWLRQ*HKOHQZDUHLQHVROFKH3HUVSHNWLYHQHUZHLWHUXQJDXFKQLFKWQRWZHQGLJ3ROLWLVFKH8QWHUGUFNXQJXQG|NRQRPLVFKH0LVVVWlQGHZLHVLHLQGHU ersten Jahreshälfte 1953 festgestellt wurden, galten als normale Erscheinungen im sowjetischen Herrschaftsbereich, welche die Machtverhältnisse aber nicht gefährden konnten. Ende Dezember 1952 konstatierte der Wochenbericht mit %OLFNDXIGLHVLFKDE]HLFKQHQGH9HUVRUJXQJVNULVH Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass die Bedeutung solcher und ähnlicher Krisenerscheinungen in den Satellitenländern (einschl. Ostzone) in ihrer Auswirkung auf die gesamtpolitische Lage keinesfalls überschätzt werden darf. Derartige Krisen bleiben so gut wie ohne Einfluss auf das politische Geschehen.43

'LH LP 9RUIHOG GHV 9RONVDXIVWDQGHV $QIDQJ -XQL  LQ GHU ''5 HLQJHleitete innenpolitische und wirtschaftliche Liberalisierung erfolgte in der Wahrnehmung der Organisation Gehlen nur in zweiter Linie wegen der SUHNlUHQLQQHUHQ9HUKlOWQLVVHVRQGHUQZDUYRUDOOHPDXIHLQHbQGHUXQJGHU

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42 Die steigende Zahl von Flüchtlingen wird den Wochenberichten nur am 15. Januar und 12. Februar 1953 HUZlKQW6LHKHhEHUVLFKWHQ%$UFK%   hEHUVLFKW6%$UFK%%ODWW

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deutschlandpolitischen Konzepte der sowjetischen Führung zurückzuführen. 1DFKGHP7RG6WDOLQVDP0lU]ZDUIUZHVWOLFKH%HREDFKWHUXQNODU ZHOFKH DX‰HQSROLWLVFKH /LQLH GLH QHXH .UHPO)KUXQJ HLQVFKODJHQ ZUGH Noch im März 1953 signalisierte die Moskauer Führung Gesprächsbereitschaft mit dem Westen, was auch die Behandlung der deutschen Frage einschloss. Ob eine Wiedervereinigung auf neutraler und demokratischer Grundlage in Moskau ernstlich zur Debatte stand, ist wenig wahrscheinlich, doch lässt sich GDV ELV KHXWH DXV GHQ 4XHOOHQ KHUDXV DXFK QLFKW HQGJOWLJ YHUZHUIHQ GLH internen Machtkämpfe in der sowjetischen Führung hätten die Ausarbeitung und Umsetzung einer einheitlichen Strategie jedenfalls erschwert. Zu einer eigenen Deutschlandinitiative Moskaus ist es in den Wochen vor dem 9RONVDXIVWDQG QLFKW JHNRPPHQ 6SlWHVWHQV DE 0LWWH 0DL  JDOWHQ DOOH Bemühungen der sowjetischen Führung dem Ziel, die prekäre Lage in der DDR zu stabilisieren. Die öffentliche Initiative in der Deutschlandfrage lag im Frühjahr 1953 auf der westlichen Seite. Während sich die amerikanische Regierung zurückhalWHQGlX‰HUWHVFKOXJGHUEULWLVFKH3UHPLHUPLQLVWHU:LQVWRQ&KXUFKLOODP 0DL YRU LP 5DKPHQ HLQHU .RQIHUHQ] GHU *UR‰PlFKWH EHU GLH +HUVWHOOXQJ der deutschen Einheit auf neutraler und demokratischer Grundlage zu beUDWHQ 'LH 9RUEHGLQJXQJHQ IU VROFKH 9HUKDQGOXQJHQ ZXUGHQ DEHU YRQ sowjetischer Seite abgelehnt.44 Zeitgleich trieb die Bundesregierung unter Konrad Adenauer die Westbindung der Bundesrepublik voran. 45 In Reaktion DXI GLHVH 6FKULWWH YHUVWlUNWH GLH 6RZMHWXQLRQ QDFK 5DWLIL]LHUXQJ GHV (9* 9HUWUDJHV LP %XQGHVWDJ DP  0DL LQ GHQ :RFKHQ YRU GHP  -XQL LKUH $QJULIIH DXI GLH %XQGHVUHJLHUXQJ 'HQ 9HUODXWEDUXQJHQ DXI GHU LQWHUQDtionalen Bühne folgend, gewann auch in den Berichten der Organisation *HKOHQ GLH )UDJH P|JOLFKHU VRZMHWLVFKHU 3OlQH IU HLQ QHXWUDOLVLHUWHV *HVDPWGHXWVFKODQGDE0DLDQ%HGHXWXQJ8QWHUEHVWlQGLJHP9HUZHLV auf die anhaltende politische und wirtschaftliche Sowjetisierung der DDR wurde betont, dass eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht ernsthaft beabsichtigt sein könne. Alle diesbezüglichen Signale würden

GDV =LHO YHUIROJHQ GLH ࡐ9HUWHLGLJXQJVSROLWLN GHV ZHVWOLFKHQ %ORFNV DXI]XORFNHUQ´46$QJHEOLFKHbX‰HUXQJHQࡐVRZMHWLVFKHU'LSORPDWHQ´LQ:LHQGHXWHWHQ LQ GHU hEHUVLFKW YRP  0DL HUVWPDOV DQ GDVV HLQH 3UHLVJDEH GHV Sozialismus in der DDR doch möglich sein könne. In Botschaftskreisen sei YHUODXWHW GDVV ࡐGDV ZHVHQWOLFKH +LQGHUQLV IU HLQH /|VXQJ GHU GHXWVFKHQ )UDJH >@ GLH 6WDUUKHLW GHU ZHVWGHXWVFKHQ 3ROLWLN GLH YLHO XQYHUV|KQOLFKHU VHL DOV GLH (QJODQGV XQG )UDQNUHLFKV´47 Eine Woche später wurde unter 9HUZHLV DXI GLHVHV =LWDW EHNUlIWLJW GLH ZHLWHUH (QWZLFNOXQJ KlWWH JH]HLJW GDVVGLHࡐIHVWHDX‰HQSROLWLVFKH+DOWXQJGHU%XQGHVUHSXEOLN>@HLQHQWVFKHLGHQGHV+LQGHUQLVIUGLH'XUFKVHW]XQJGHU3OlQH´VHL48 Am 3. Juni berichtete die Organisation Gehlen unter dem Eindruck der Ernennung von Wladimir Semjonow49 zum Sowjetischen Hochkommissar in Ostberlin, dass nunmehr GDVࡐDOWH6WDOLQ·VFKH=LHO´HLQHVࡐQHXWUDOLVLHUWHQXQGHQWPLOLWDULVLHUWHQ´ZLHGHUYHUHLQLJWHQ 'HXWVFKODQGV LQ 0RVNDX DXI GHU7DJHVRUGQXQJ VWQGH (UVWH Anhaltspunkte, die im Bericht vom 10. Juni 1953 auf eine innenpolitische 9HUlQGHUXQJ LQ GHU ''5 KLQGHXWHWHQ N|QQWHQ DXI GLH$EVLFKW 6HPMRQRZV ]XUFN]XIKUHQ VHLQ GXUFK ࡐJHVDPWGHXWVFKH 7HQGHQ]HQ >@ GLH %RQQHU ,QWHJUDWLRQVSROLWLN >@ ]X VW|UHQ´50 'DVV GLH HUZlKQWHࡐ9HUVWlQGLJXQJPLW GHU 3IDUUHUVFKDIW´51 und die Zurückstellung der vormilitärischen Ausbildung IU 6('0LWJOLHGHU EHUHLWV %HVWDQGWHLOH GHV DP 9RUWDJ LQ GHU 3DUWHLIKUXQJ beschlossenen grundlegenden Kurswechsels in der DDR gewesen sind, war LQ3XOODFKQLFKWEHNDQQW52   hEHUVLFKW6%$UFK%%ODWW   *UXQGODJHGLHVHUbX‰HUXQJHQZDUHLQH0HOGXQJGHV90DQQHVGHULQ.RQWDNWPLWHLQHPVRZMHWLVFKHQ Korrespondenten stand. Dieser hatte, ohne zu wissen mit wem er sich unterhielt, von Gesprächen mit Angehörigen der sowjetischen Botschaft in Wien berichtet. Obwohl intern von einer in ihrer Zuverlässigkeit nicht zu beurteilenden Quelle stammend und als nur möglicherweise zutreffend bewertet (F-3), wurde diese Meldung in der Wochenübersicht ausführOLFK]LWLHUW0HOGXQJ6WLPPXQJVlX‰HUXQJHQYRQ:LHQHU5XVVHQ%1'$UFKLY%ODWW²   hEHUVLFKW6%$UFK%%ODWW 49 Wladimir Semjonow, 1911–1992, sowjetischer Diplomat, 1945–1953 politischer Berater der Sowjetischen MiliWlUDGPLQLVWUDWLRQE]Z.RQWUROONRPPLVVLRQLQGHU''5(UZXUGHLP$SULOLQGDV$X‰HQPLQLVWHULXPGHU8G665 ]XUFNEHRUGHUW1DFK$XÁ|VXQJGHU0LOLWlUYHUZDOWXQJNHKUWH6HPMRQRZDP0DLDOV&KHIGHU6RZMHWLschen Hohen Kommission in die DDR zurück und wurde später sowjetischer Botschafter in Ostberlin.   hEHUVLFKW%$UFK%%ODWW

  =XUEULWLVFKHQ'HXWVFKODQGSROLWLNLP9RUIHOGGHV-XQL.ODXV/DUUHV3ROLWLNGHU,OOXVLRQHQ&KXUFKLOO (LVHQKRZHUXQGGLHGHXWVFKH)UDJH²*|WWLQJHQVRZLHGHUV*UR‰EULWDQQLHQXQGGHU-XQL 'LHGHXWVFKH)UDJHXQGGDV6FKHLWHUQYRQ&KXUFKLOOV(QWVSDQQXQJVSROLWLNQDFK6WDOLQV7RG ,Q.OH‰PDQQ6W|YHU +J 6²   0LFKDHO/HPNH.RQUDG$GHQDXHUXQGGDV-DKU'HXWVFKODQGSROLWLNXQG-XQLLQ.OH‰PDQQ6W|YHU +J 6²+DQV3HWHU6FKZDU]$GHQDXHU'HU6WDDWVPDQQ²6WXWWJDUW6²

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51 Otto Dibelius, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, hatte sich am 5. Juni 1953 in einem Brief an den DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl gewandt und um Gespräche über die Lage seiner Kirche gebeten. Entsprechend dem Kurswechsel reagierte die DDR-Führung schnell auf diese Bitte und beraumte für den -XQL%HVSUHFKXQJHQDQDXIZHOFKHUGLHVWDDWOLFKHQ5HSUHVVDOLHQ]XUFNJHQRPPHQZXUGHQ:LONH+HJHGV 6DWHOOLWHQQDFK6WDOLQV7RG6²   ,QGHP%HULFKWÀQGHWVLFK]ZDUGHUDOOJHPHLQH+LQZHLVDXIP|JOLFKHࡐJU|‰HUHbQGHUXQJHQGHV6WDDWVXQG

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Bereits in den letzten Maitagen war in Moskau die Entscheidung gefallen, die tiefe gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise in der DDR durch eine grundOHJHQGHbQGHUXQJGHUELVKHULJHQ3ROLWLN]XEHKHEHQ'LHVH$QRUGQXQJZXUGH in den ersten Junitagen der SED-Führung in Moskau übermittelt, die daraufKLQGLH(LQIKUXQJGHVࡐ1HXHQ.XUVHV´YRUEHUHLWHWH9RQGLHVHU(QWZLFNOXQJ erfuhr die Leitung der Organisation Gehlen am 11. Juni aus der SED-Zeitung ࡐ1HXHV 'HXWVFKODQG´53 'LH 9HUlQGHUXQJ OLH‰ VLFK LQ 3XOODFK LQ GLH ELVKHULJHQ3URJQRVHQHLQIJHQ=LHOGHUQHXHQ3ROLWLNVHLHVPLW+LQEOLFNDXIGLH 'HXWVFKODQGSROLWLN GLH ࡐ.RQ]HVVLRQVEHUHLWVFKDIW GHU 6RZMHWXQLRQ JODXEKDIW ]X PDFKHQ´ XP GLH ࡐ$XIVSDOWXQJ GHU ZHVWOLFKHQ )URQW´ YRUDQ]XWUHLEHQ XQG nicht zuletzt die im September 1953 bevorstehenden Bundestagswahlen zu beeinflussen. Es wird zwar ausführlich und zutreffend dargelegt, dass ZLUWVFKDIWOLFKH XQG LQQHQSROLWLVFKH 3UREOHPH EHL GHU .XUVlQGHUXQJ LQ GHU ''5HLQH5ROOHJHVSLHOWKlWWHQDEVFKOLH‰HQGDEHUEHWRQW Die Wirtschaftskrise trifft zeitlich mit der politischen Absicht der Sowjetunion zusammen, das Deutschlandproblem mit den Westmächten zu diskutieren. Die neuen Maßnahmen lassen sich gleichsam als Nachgeben auf westliche Forderungen darstellen.54

1RFK GHXWOLFKHU ZXUGH GHU YHUPXWHWH =ZHFN GHV ࡐ1HXHQ .XUVHV´ LQQHUKDOE der Organisation Gehlen kommuniziert: Es handele sich zwar um eine LQQHQSROLWLVFKH 0D‰QDKPH ]XU ࡐ%HKHEXQJ WDWVlFKOLFKHU 1RWVWlQGH LQ GHU 6%='´GHUHQ=LHOVHLDEHUGLHࡐWLHI]LHOHQGH6W|UXQJGHUZHVWOLFKHQ3ROLWLN´55 (LQH VROFKH ,QWHUSUHWDWLRQ GHV ࡐ1HXHQ .XUVHV´ ZDU ]X GLHVHP =HLWSXQNW

3DUWHLZHVHQVVRZLHGHU6SLW]HQEHVHW]XQJ´(VLVWXQZDKUVFKHLQOLFKGDVVGLHVH6SHNXODWLRQDXI.HQQWQLVGHU EHYRUVWHKHQGHQ.XUVlQGHUXQJEHUXKWH]XPDOSHUVRQHOOH9HUlQGHUXQJHQLQGHU6(')KUXQJQLFKW7HLOGHV 3URJUDPPVZDUHQ:LONH+HJHGV6DWHOOLWHQ6²(QWVFKHLGHQGLVWGDVVGHU%HULFKWNHLQHUOHL+LQZHLVHDXI HLQHbQGHUXQJGHU''5:LUWVFKDIWVSROLWLNHQWKlOWhEHUVLFKW6%$UFK%%ODWW² 9RQGHU5FNVWHOOXQJGHUYRUPLOLWlULVFKHQ$XVELOGXQJHUIXKUGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQQDFK$NWHQODJHDXVGHU 3UHVVH'HU5XQGEULHIGHV,QIRUPDWLRQVEURV:HVW ,:( KDWWHDP-XQLHLQHHQWVSUHFKHQGH0HOGXQJ verbreitet. Meldung IWE Berlin, 06.06.1953, BND-Archiv 120629, Blatt 2020. 53 Zwar hatten zwei Gewährsleute der Organisation Gehlen vor dem 10. Juni Anhaltspunkte für eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik aufgefangen. Diese Informationen erreichten die Zentrale aber wegen organisatorischer 6FKZLHULJNHLWHQQLFKWUHFKW]HLWLJXQGZXUGHQLQLKUHU%HGHXWXQJHUVWQDFKWUlJOLFKHUNDQQW: :LUWVFKDIWVDXINOlUXQJ  'LHZLUWVFKDIWOLFKH$XINOlUXQJ6%1'$UFKLYVRZLH(LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW   hEHUVLFKW6%$UFK%%ODWW+HUYRUKHEXQJLP2ULJLQDO    /HLWXQJ ' 6LHJIULHG*UDEHU DQDOOH'LHQVWVWHOOHQ$QZHLVXQJ-HW]LJH0D‰QDKPHQGHU2VW]RQHQ 0DFKWKDEHU6%$UFK%%ODWW

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QLFKW YROONRPPHQ DEZHJLJ$XV GHQ 9HUODXWEDUXQJHQ GHU ''53UHVVH OLH‰ sich ablesen, dass der Kurswechsel eine Doppelstrategie verfolgen könnte: Einerseits ging es um dringend notwendige innenpolitische Korrekturen, mit GHQHQDQGHUHUVHLWV9RUDXVVHW]XQJHQIUHLQH:LHGHUYHUHLQLJXQJJHVFKDIIHQ würden.56 Welchen Stellenwert mittelfristige deutschlandpolitische Absichten GHU 0RVNDXHU )KUXQJ EHL GHU$QRUGQXQJ GHV ࡐ1HXHQ .XUVHV´ WDWVlFKOLFK hatten, ist in der Forschung umstritten. Unumstritten ist jedoch, dass die 0D‰QDKPHQDXIHLQHNXU]IULVWLJH6WDELOLVLHUXQJGHU''5DE]LHOWHQRKQHGLH GLH6RZMHWXQLRQLKUH9HUKDQGOXQJVPDVVHYHUORUHQKlWWH57 Dieser zweite und für den Aufstand ausschlaggebende Aspekt wird in den $QDO\VHQGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQXQWHUEHZHUWHW:LHVHKUGDV$XVPD‰XQG die Notwendigkeit zur Behebung der inneren Krise unterschätzt wurden, zeigt sich im Wochenbericht vom 17. Juni, der die Ereignisse seit dem Erlass des ࡐ1HXHQ.XUVHV´]XVDPPHQIDVVWH+LHULQZXUGHQGLH(PSIlQJHUJHZDUQWDXI GLH5HIRUPHQLQGHU''5]XYHUWUDXHQ'LHVHVHLHQDX‰HQSROLWLVFKEHJUQGHWHࡐWDNWLVFKH0D‰QDKPHQ´XQGEHGHXWHWHQࡐQXUHLQ6WLOOKDOWHQ>@NHLQHV ZHJV HLQ$XIJHEHQ GHU HUUHLFKWHQ 3RVLWLRQHQ´ 2E HLQH ZLUNOLFKH bQGHUXQJ GHU :LUWVFKDIWV XQG ,QQHQSROLWLN HUIROJH ZHUGH VLFK HUVW LP 9HUODXIH GHU kommenden Monate zeigen.58 Eine solche Warnung erschien aus Sicht der Organisation Gehlen wohl notwendig, um die Bundesregierung in ihrem innenpolitisch umstrittenen Kurs der Westintegration zu bestätigen, der durch

  6RZRKOLQGHU6('3DUWHL]HLWXQJࡐ1HXHV'HXWVFKODQG´ZLHDXFKLP2UJDQGHUVRZMHWLVFKHQ%HVDW]XQJVPDFKW LQGHU''5ࡐ7lJOLFKH5XQGVFKDX´ZXUGHEHWRQWGDVVGLH0D‰QDKPHQࡐDXIGDVJUR‰H=LHOGHU:LHGHUYHUHLQLJXQJ GHVGHXWVFKHQ9RONHV´DXVJHULFKWHWVHLHQ:LFKWLJH%HVFKOVVH7lJOLFKH5XQGVFKDX6VRZLH Neues Deutschland, 11.06.1953, S. 1.   'HUQLFKWDXIJHO|VWH=LHONRQÁLNW]ZLVFKHQࡐ%HVLW]VWDQGVZDKUXQJ´XQG:LHGHUYHUHLQLJXQJVDEVLFKWHQZLUGLQ der Forschung diskutiert und mehrheitlich in Richtung einer primären Stabilisierung der DDR interpretiert. Wettig, 6RZMHWLVFKH'HXWVFKODQGSROLWLN6²6FKHUVWDQRM6RZMHWLVFKH'HXWVFKODQGSROLWLN6:LONH+HJGV Satelliten, S. 61 und 120, Foitzik, Sowjetische Interessenpolitik, S. 112. Eine stärkere Betonung der WiedervereiniJXQJVDEVLFKWHQÀQGHWVLFKXQWHUDQGHUHPEHL/RWK6RZMHWXQLRQXQGGHXWVFKH)UDJH   hEHUVLFKW6²%$UFK%%ODWW²

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die Kursänderung in der DDR weiterhin gefährdet erschien. 59 Entsprechend ZXUGH GHU $XIWUDJ IU GLH *HZlKUVOHXWH LP 2VWHQ JHVWDOWHW 'D ࡐDQ HLQHQ HFKWHQ *HVLQQXQJVZDQGHO QLFKW JHJODXEW ZLUG´ VROOWHQ 1DFKULFKWHQ EHL JHEUDFKW ZHUGHQ GLH GHQ ࡐ1HXHQ .XUV´ ZLGHUOHJHQ XQG HLQ )HVWKDOWHQ DQGHUࡐEROVFKHZLVWLVFKHQ*UXQGOLQLH´EHZHLVHQVROOWHQ60 :DVGLH$QDO\VHQGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQLP9RUIHOGGHV9RONVDXIVWDQGHV trübte, war die Grundüberzeugung ihrer Leitung, die Absichten der sowjetiVFKHQ )KUXQJ RKQHKLQ ]X GXUFKVFKDXHQ 9RUDXVVHW]XQJ HLQHU VROFKHQ 6LFKHUKHLWZDUHLQIHVWHV:HOWELOGGDVVLFK]XPLQGHVWLQ7HLOHQGHU)KUXQJ auf alte Gewissheiten und neue Ressentiments gründete. Ein Beispiel hierfür VLQGGLHSUlJQDQWHQ(LQODVVXQJHQGHV9HUWUHWHUVGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQLQ Berlin, Helmut Kleikamp 61, der am 12. Juni seine Lageeinschätzung an die Zentrale übermittelte:

auf unserem deutschen Rücken. Churchill hat schon einmal West-Europa an den Russen verkauft und verraten, dem kommt es auch nicht auf das zweite Mal an.62

$P9RUDEHQGGHV-XQLJLQJGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQDOVRGDYRQDXVGDVV GHU .XUVZHFKVHO LQ GHU ''5 LQ HUVWHU /LQLH HLQ DX‰HQSROLWLVFKHV 0DQ|YHU der sowjetischen Führung sei, um die Westintegration der Bundesrepublik zu hintertreiben. Dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise des jungen 6WDDWHV DXVVFKODJJHEHQG IU GLHVH YHUlQGHUWH 3ROLWLN ZDU XQG GHU ࡐ1HXH .XUV´ GDV =LHO YHUIROJWH GLH ''5 ]X VWDELOLVLHUHQ ZXUGH LQ GHQ $QDO\VHQ YHUNDQQW 'LH )RNXVVLHUXQJ DXI GLH DX‰HQSROLWLVFKHQ 9RUJlQJH OHQNWH GHQ Blick von den inneren Entwicklungen ab.

Man darf nicht vergessen, daß alles, was jetzt drüben geschieht, nur Propagandamache ist, um auf die Bermuda-Konferenz und die Bundestagswahlen entsprechend einzuwirken. Es besteht kein Zweifel, dass der Osten Erfolge mit diesen Maßnahmen haben wird, vor allem bei den ewig Gestrigen, die aus ihren Mauslöchern herauskommen, und bei der SPD, die dem Adenauer die Butter auf dem Brot nicht gönnt und daher lieber zur Selbstentmannung schreitet. Wenn man die ganzen Maßnahmen des Ostens betrachtet, so könnte man auf die Idee kommen, daß eine gewisse Molotowklique im Kreml Stalin tatsächlich umgebracht hat, um den starren Kurs Stalins, der den westlichen Leichnam wieder zum Leben erweckt, durch Katzenpfötchenmaßnahmen abzulösen und zur Einschläferung des Westens. Wenn wir nicht sehr aufpassen und rechtzeitig furchtbar schreien, dann einigen sich diese smarten Brüder in Ost und West

59 Der Kurswechsel in der DDR sorgte in der Bundesrepublik für innenpolitische Auseinandersetzungen, indem GLH/LEHUDOLVLHUXQJYRQ7HLOHQGHU2SSRVLWLRQDOV=HLFKHQHLQHVVRZMHWLVFKHQ(QWJHJHQNRPPHQVLQWHUSUHWLHUW ZXUGHZHOFKHGDV=LHOGHU:HVWELQGXQJGHU5HJLHUXQJ$GHQDXHUJHIlKUGHWH6FKZDU]$GHQDXHU6²2WWR /HQ],P=HQWUXPGHU0DFKW'DV7DJHEXFKYRQ6WDDWVVHNUHWlU/HQ]²EHDUEHLWHWYRQ.ODXV*RWWR Düsseldorf 1989, S. 639–646.    /HLWXQJ ' 6LHJIULHG*UDEHU DQ'LHQVWHLQKHLWHQXQG$X‰HQVWHOOHQ$QZHLVXQJ-HW]LJH0D‰QDKPHQ GHU2VW]RQHQ0DFKWKDEHU6²%$UFK%%ODWW² 61 Helmut Kleikamp (DN Kleiber), 1901–1985, Generalmajor der Wehrmacht, 1950 Eintritt in die Organisation *HKOHQELV+HUEVW9HUWUHWHUGHU/HLWXQJGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQLQ:HVWEHUOLQ²0LWDUEHLWHUHLQHU $X‰HQVWHOOH

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  ࡐ)HXHUYHUVLFKHUXQJ%HUOLQ´ +HOPXW.OHLNDPS DQࡐ6:8´ 'LHQVWVWHOOH %ULHI S. 1–2, hier S. 1, BND-Archiv 120826, Blatt 1536–1537, hier 1536.

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2 Informationsbeschaffung während des Volksaufstandes 'LH9HUNQGXQJGHV.XUVZHFKVHOVDP-XQLZXUGHLQGHU''5 Bevölkerung als Zeichen der Schwäche des SED-Regimes aufgefasst und VFKXI GDPLW GLH 9RUDXVVHW]XQJ IU RIIHQHQ 3URWHVW $OV YHUKlQJQLVYROO VROOWH VLFK HUZHLVHQ GDVV GHU ࡐ1HXH .XUV´ ]ZDU (UOHLFKWHUXQJHQ IU 7HLOH der Bevölkerung mit sich brachte, aber die prekäre Lage der Arbeiter ausklammerte. Die nicht zurückgenommene Erhöhung der Arbeitsnormen sorgte in den Betrieben für wachsenden Unmut, der sich vielerorts in ersten Streiks manifestierte, die von den Quellen der Organisation Gehlen bis auf eine Ausnahme allerdings nicht gemeldet wurden.63 An der Normenfrage HQW]QGHWHVLFKVFKOLH‰OLFKDXFKGHU3URWHVWYRQ$UEHLWHUQHLQHU2VWEHUOLQHU *UR‰EDXVWHOOH GHU VFKOLH‰OLFK DXI GLH %DXDUEHLWHU LQ GHU 6WDOLQDOOHH übergriff und am 16. Juni in einen spontanen Demonstrationszug zum 5HJLHUXQJVJHElXGHLQGHU/HLS]LJHU6WUD‰HPQGHWH )U GLH 7DJH ]ZLVFKHQ 9HUNQGXQJ GHV ࡐ1HXHQ .XUVHV´ DP  -XQL XQG GHP%HJLQQGHV$XIVWDQGHVDP-XQLODJHQLQ3XOODFKNHLQH(UNHQQWQLVVH vor, die auf eine dramatische Zuspitzung der Lage hinwiesen. Auch von den Ereignissen am 16. Juni erfuhren die Mitarbeiter in der Zentrale und insbesondere der für die DDR-Aufklärung zuständige Siegfried Graber – dem Einsatzbericht nach zu urteilen – , erst aus den Abendnachrichten des %D\HULVFKHQ 5XQGIXQNV REZRKO GHU 5,$6 VHLW GHP 1DFKPLWWDJ EHU GLH Lageentwicklung in Ostberlin berichtete.64'LH$X‰HQVWHOOHQGHU2UJDQLVDWLRQ   *UDEHUEHULFKWHWLQVHLQHQ(ULQQHUXQJHQGDVVLKQVHLQ9RUJHVHW]WHUEHLGHU$EIDVVXQJGHV(LQVDW]EHULFKtes aufgefordert hätte nachzuweisen, dass von den Quellen Anzeichen für den Ausbruch von Unruhen gemeldet ZRUGHQVHLHQ'LHVVHLDEHUࡐUHLQHV:XQVFKGHQNHQ´JHZHVHQ*UDEHU(ULQQHUXQJVEHULFKW6%1'$UFKLY Nachlass 4, Band 20. Bestätigt wird dies rückblickend auch von der Wirtschaftsausaufklärung. Bis auf eine AusQDKPHKlWWHNHLQHGHU4XHOOHQEHUGLH6WUHLNVLP9RUIHOGGHV-XQLEHULFKWHW: :LUWVFKDIWVDXINOlUXQJ 'LH wirtschaftliche Aufklärung, S. 4, BND-Archiv 3196. Die Meldung über den Sitzstreik im Stahlwerk Henningsdorf am 0DLLQ%$UFK%%ODWW²   0DQIUHG5H[LQ=XU5ROOH:HVWGHXWVFKODQGXQG:HVW%HUOLQVDP-XQLLQ(QJHOPDQQ .RZDOF]XN9RONVHUKHEXQJ6²KLHU6²

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*HKOHQ KDWWHQ XP  8KU LKUH %HULFKWH SHU )XQN QDFK 3XOODFK GXUFKJH geben, doch ohne diese Ereignisse zu erwähnen. Möglicherweise ging man davon aus, dass andere Stellen die Zentrale bereits informiert hatten. Da die einzelnen Agentenfilialen streng voneinander abgeschirmt arbeiteten und nur entsprechend den ihnen übertragenen Aufträgen berichteten, ist eine solche )HKONRPPXQLNDWLRQGXUFKDXVGHQNEDU(LQHDP0LWWDJLQ3XOODFKHLQJHJDQJHQH0LWWHLOXQJGHV9HUWUHWHUVGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQLQ:HVWEHUOLQGDVV GHU%HUOLQ%HDXIWUDJWHGHU%XQGHVUHJLHUXQJ+HLQULFK9RFNHO 65DXV3XOODFK HLQHࡐP|JOLFKVWHLQJHKHQGHXQGVFKQHOOH´8QWHUULFKWXQJEHUࡐGLH/DJH2VW´ wünschte, zeigt, dass er in der Zentrale solche Informationen vermutete. 66 Dies traf nach Aktenlage aber nicht zu. Gehlen traf sich am Nachmittag des -XQLPLWGHP/HLWHUGHV&,$6WDEHVLQ3XOODFK-DPHV&ULWFKILHOG]XHLQHU %HVSUHFKXQJ'LH9RUJlQJHLQ%HUOLQZXUGHQGHU*HVSUlFKVQRWL]QDFKQLFKWWKHPDWLVLHUWZDVZRKOGDUDXIVFKOLH‰HQOlVVWGDVVVLHQRFKQLFKWEHNDQQWZDUHQ67 'LH HUVWH 5HDNWLRQ DXI GHQ EHJLQQHQGHQ 9RONVDXIVWDQG LVW DP $EHQG GHV 16. Juni nachweisbar. Aufgeschreckt durch die Radiomeldung, versuchte der Leiter der DDR-Beschaffung, Siegfried Graber, nach 20 Uhr Kontakt mit Hans Lutz 68, dem Leiter der gegen die DDR arbeitenden Generalvertretung G aufzunehmen. Der war jedoch telefonisch nicht erreichbar. Graber wandte sich daraufhin an Heinz-Danko Herre 69, der als Chef der Auswertungsabteilung für die Erstellung des Gesamtlagebildes verantwortlich war. Beide verfügten LQ 3XOODFK EHU GLH JU|‰WH ([SHUWLVH ]XU %HXUWHLOXQJ GHU 9RUJlQJH LQ GHU ''5+HUUHVFKOXJYRUGHQ$X‰HQVWHOOHQDQJHVLFKWVGHUQHXHQ(QWZLFNOXQJ EHVRQGHUH$XIWUlJH]XHUWHLOHQ(UOLH‰VLFKMHGRFKYRQ*UDEHUGDYRQEHU]HXJHQ GDVV GLH ࡐEHNDQQWH 7FKWLJNHLW GHU %HUOLQHU1')KUHU´ DXVUHLFKH   +HLQULFK9RFNHO ² :LUWVFKDIWVSROLWLNHU*UQGXQJVPLWJOLHGGHU%HUOLQHU&'8²HUVWHU Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland in Westberlin.   ࡐ)HXHUYHUVLFKHUXQJ%HUOLQ´ +HOPXW.OHLNDPS DQࡐ6:8´ 'LHQVWVWHOOH 1RWL]8QWHUUHGXQJPLW9RFNHO 16.06.1953, BND-Archiv 120826, Blatt 1533. 67 Besprechungsnotiz 30 mit 25 am 16.6., 17.06.1953, BND-Archiv 1107, Blatt 287. Zur Lage der CIA am 17. Juni: David E. Murphy, Sergej A. Kondrashev und George Bailey: Battleground Berlin. CIA vs. KGB in the Cold War, 1HZ+HDYHQ6²2VWHUPDQQ8SULVLQJ6²'DYLG(0XUSK\7KH&,$·V%HUOLQ2SHUDWLRQ %DVHDQGWKH6XPPHURILQ+HLNH%XQJHUW-DQ*+HLWPDQQXQG0LFKDHO:DOD +J 6HFUHW,QWHOOLJLHQFH LQWKH7ZHQWLHWK&HQWXU\/RQGRQ6² 68 Hans Lutz (DN Roth), geb. 1906, vor 1945 Oberst im Generalstab, 1946 Eintritt in die Organisation Gehlen, ²$X‰HQVWHOOHQOHLWHU²0LWDUEHLWHULQGHU=HQWUDOH 69 Heinz-Danko Herre (DN Herdahl), 1909–1988, bis 1945 bei Fremde Heere Ost, nach Kriegsende am Aufbau der Organisation Gehlen beteiligt, 1946–1953 im Leitungsstab Gehlen, 1952–1958 Leiter der Auswertung, ²/HLWHUPLOLWlULVFKH%HVFKDIIXQJGDQDFK5HVLGHQWGHV%1'LQ:DVKLQJWRQ3HQVLRQLHUXQJ

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XPGLH(QWZLFNOXQJZHLWHU]XEHREDFKWHQ%HLGHNDPHQVFKOLH‰OLFKEHUHLQ GDVVGLH'HPRQVWUDWLRQHQNHLQHZHLWHUHQ0D‰QDKPHQUHFKWIHUWLJHQZUGHQ und verabschiedeten sich – wie Graber rückblickend berichtete – unter geJHQVHLWLJHU9HUVLFKHUXQJࡐGXPSIHUXQGDKQXQJVYROOHU*HIKOH´70 1RFKYRU'LHQVWEHJLQQLQ3XOODFKEHULFKWHWHQGLH5XQGIXQNVWDWLRQHQDP Juni 1953 schon in den Morgennachrichten über Massenkundgebungen in 2VWEHUOLQ DQ GHQHQ QRFK ZHLW PHKU 0HQVFKHQ WHLOQDKPHQ DOV DP 9RUWDJ 8QWHUGHP(LQGUXFNGHU(UHLJQLVVHDP-XQLGLHLQ]ZLVFKHQDXFKDX‰HUhalb Berlins bekannt geworden waren, radikalisierte sich in der gesamten ''5GHU3URWHVWXQGVFKOXJLQHLQHQ9RONVDXIVWDQGJHJHQGDV6('5HJLPH um. Seit den Mittagsstunden wurde er durch den Einsatz sowjetischer 7UXSSHQ QLHGHUJHVFKODJHQ :lKUHQG LQ 2VWEHUOLQ GLH 9HUKlQJXQJ GHV Ausnahmezustandes das Ende der Erhebung markierte, hielt der Widerstand LQDQGHUHQ2UWHQQRFKHLQLJH7DJHDQ 'LH 0LWDUEHLWHU GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ LQ 3XOODFK HUIXKUHQ YRQ GLHVHU dramatischen Entwicklung aus dem Rundfunk. Anfragen von Dienststellen, GLHLP9HUODXIHGHV9RUPLWWDJVEHLGHU''5$XINOlUXQJVDEWHLOXQJHLQJLQJHQ konnten nicht beantwortet werden. Es lagen keine eigenen Erkenntnisse vor. 8P  8KU JLQJ LQ GHU =HQWUDOH HLQ HUQHXWHU )XQNVSUXFK GHV 9HUWUHWHUV der Organisation Gehlen in Berlin ein: Die rasante Lageentwicklung in Ost-Berlin, die heute vormittags auch auf West-Berlin übergreift, macht schnellste Nachrichtenübermittlung notwendig. Vor allem ist Volkmann 71 an Lageentwicklung Zone interessiert. Erbitte schnellstmögliche Nachrichtenübermittlung auch auf diesem Wege, falls neue Meldungen und Erkenntnisse.72

der Zentrale der Organisation Gehlen Unruhe breit. 73 Um 12.50 Uhr traf dann die erste eigene Nachricht über den Aufstand ein. Sie bestätigte den seit dem Morgen im Radio gemeldetem Demonstrationszug der Hennigsdorfer Arbeiter.74 1DFKGHP XP  8KU GHU %D\HULVFKH 5XQGIXQN GLH 9HUKlQJXQJ des Ausnahmezustandes und den Einsatz sowjetischen Militärs gegen die Demonstranten bekanntgab, setzte sich Graber mit den Leitern der $XINOlUXQJVDEWHLOXQJHQ3ROLWLNXQG)XQN9HUWUHWHUQGHV*HKOHQ6WDEHVXQG GHQ$X‰HQVWHOOHQLQ9HUELQGXQJXPGDV/DJHELOGGHU''5%HVFKDIIXQJPLW den Erkenntnissen der anderen Dienststellen abzugleichen. Nach Grabers 6FKLOGHUXQJKHUUVFKWHZLHHUVLFKDXVGUFNWHEHUDOOGLH$QVLFKWࡐ=HQWUDOH KDWNHLQH=HLWPHKUNOHLQH+HOOH]XWULQNHQ´XQGPVVHQXQPHKUUHDJLHUHQ Ein solcher Schritt konnte aber nur von der Leitung angeordnet werden. Horst von Mellenthin 75, Gehlens Stellvertreter, gab zwei Stunden später bekannt, dass für 16 Uhr eine Besprechung der Abteilungsleiter anberaumt sei.76 (UVW GUHL 6WXQGHQ QDFK 9HUKlQJXQJ GHV $XVQDKPH]XVWDQGHV XQG GHP (LQJUHLIHQ GHU VRZMHWLVFKHQ 7UXSSHQ GHU GDV (QGH GHV 9RONVDXIVWDQGHV EHGHXWHWH UHDJLHUWH GLH 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ DXI GLH 9RUJlQJH $XV GHQ ]XU 9HUIJXQJ VWHKHQGHQ 4XHOOHQ JHKW QLFKW KHUYRU ZHVKDOE GLH /HLWXQJ QLFKW ]X HLQHP IUKHUHQ =HLWSXQNW 0D‰QDKPHQ HUJULII )HKOHQGH .HQQWQLV der Ereignisse ist unwahrscheinlich, da die Mitarbeiter spätestens seit dem 9RUPLWWDJDXV3UHVVHXQG5XQGIXQNLQIRUPLHUWZDUHQ'HQNEDULVWGDVVGLH Leitung der Organisation Gehlen den Demonstrationen selbst keine besonGHUH%HGHXWXQJEHLPD‰GLH0RELOLVLHUXQJGHU5RWHQ$UPHHLQ2VWEHUOLQXQG anderen Orten der DDR am Mittag hingegen als potentielle Bedrohung wahrnahm, auf die sie glaubte, reagieren zu müssen. $QGLH$X‰HQVWHOOHQHUJLQJDPVSlWHQ1DFKPLWWDJGHV-XQLGLH$QZHLVXQJ HLQHࡐODXIHQGHVFKQHOOH%HULFKWHUVWDWWXQJEHUGLH9RUJlQJHLQ%HUOLQXQGLQ

Als Radio München in den Mittagsnachrichten über den Einsatz der 9RONVSROL]HL JHJHQ GLH 'HPRQVWUDQWHQ EHULFKWHWH XQG LQ %RQQ HLQH Regierungserklärung zu den Ereignissen vorbereitet wurde, machte sich in 73

Meldung Radio München, Mittagsnachrichten,17.06.1953, BND-Archiv 7361, Blatt 264.

  3 3ROLWLVFKH%HVFKDIIXQJ DQ /HLWXQJ 0HOGXQJࡐ'HPRQVWUDWLRQLQ%HUOLQ´%1'$UFKLY %ODWWVRZLHGLH]XJUXQGHOLHJHQGH0HOGXQJࡐ'HPRQVWUDWLRQHQLQ%HUOLQ´%1'$UFKLY 121285, Blatt 1019.

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW   ࡐ9RONPDQQ´ZDUGHU7DUQQDPHIU+HLQULFK9RFNHO 72 Führungsexponent Berlin (Helmut Kleikamp) an Dienststelle 33, Funkspruch Lageentwicklung in Berlin, 17.06.1953, BND-Archiv 120826, Blatt 1531. Graber datiert im Einsatzbericht den Eingang auf 11.00 Uhr, auf GHP)XQNVSUXFKLVW8KUDOV(LQJDQJV]HLWYHUPHUNW(LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW

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75 Horst von Mellenthin (DN Merker), 1898–1977, General der Wehrmacht, 1948 Eintritt in die Organisation Gehlen, 1949–1956 verschiedene Funktionen im Leitungsstab, 1951–1955 Stellvertreter Gehlens, 1956–1959 Resident GHV%1'LQ:DVKLQJWRQ²0LWDUEHLWHUGHU=HQWUDOH3HQVLRQLHUXQJ   (LQVDW]EHULFKW6²%$UFK%%ODWW²

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GHU =RQH´ VLFKHU]XVWHOOHQ77 Gleichzeitig wurden die Schwerpunkte der zu beschaffenden Informationen festgelegt. In unangefochtener Weiterführung der bisherigen Lageanalyse nahm die Führung der Organisation Gehlen an, dass die ausgebrochenen Unruhen Bestandteil der veränderten sowjetischen 'HXWVFKODQGSROLWLNVHLQPVVWHQ3ULRULWlWEHVD‰GDKHUGLH%HLEULQJXQJYRQ Nachrichten, welche eine Inszenierung der Demonstrationen in Ostberlin GXUFKVRZMHWLVFKH'LHQVWVWHOOHQEHOHJHQXQGGLH*UQGHIUGDVࡐ(QWJOHLWHQ GHU5HJLH´HUNOlUHQNRQQWHQ$X‰HUGHPVROOWHQGLHࡐVRZMHWLVFKHQ$EVLFKWHQ´ KLQVLFKWOLFK HLQHU 5HJLHUXQJVXPELOGXQJ LQ GHU ''5 XQG GLH ࡐJHVDPWGHXWVFKHQ$EVLFKWHQGHU6RZMHWV´JHNOlUWZHUGHQ$QOHW]WHU6WHOOHVWDQGGLH %HVFKDIIXQJYRQ%HULFKWHQEHUGLH)RUWIKUXQJGHVࡐ1HXHQ.XUVHV´XQGGDV 9HUKDOWHQGHU9RONVSROL]HL78 'LHVH $QZHLVXQJ KDWWH PLW 9HUKlQJXQJ GHV $XVQDKPH]XVWDQGHV MHGRFK NDXPQRFKSUDNWLVFKH%HGHXWXQJ'LHGDPLWHLQKHUJHKHQGH6FKOLH‰XQJGHU Sektorengrenzen in Berlin hatte zur Folge, dass die bislang hauptsächlich EHU :HVWEHUOLQ ODXIHQGH 9HUELQGXQJ ]X GHQ *HZlKUVOHXWHQ XQWHUEURFKHQ war. Den meisten Agenten aus der DDR war es nicht mehr möglich, über GLH VWDUN EHZDFKWH *UHQ]H ]X JHODQJHQ ,Q 3XOODFK EHVWDQG ]ZDU DP  Juni noch die Hoffnung, die Konsequenzen der Absperrung durch vorbeUHLWHWH (QWVDW]PD‰QDKPHQ DXIIDQJHQ ]X N|QQHQ 'D GLHVH DEHU EHL GHQ $X‰HQVWHOOHQ QRFK EHUZLHJHQG LP 3ODQXQJVVWDGLXP ZDUHQ NDPHQ VLH NDXP ]XP7UDJHQ79 Der nahezu vollständige Ausfall der Agentennetze traf die Organisation Gehlen unerwartet. Graber konstatierte mit dem Abstand YRQ HLQHP 0RQDW GDVV GLH 7DJH QDFK GHP  -XQL HLQH ࡐ3HULRGH GHU Ungeduld und des Zweifelns an der eigenen, erwiesenen Leistung und an GHP YRUKDQGHQHQ .|QQHQ GHV )HOGDSSDUDWHV´ ZDUHQ ZDV DQJHVLFKWV GHU desaströsen Nachrichtenlage eine deutliche Untertreibung sein dürfte. 80

:LH JUR‰ GDV (QWVHW]HQ XQG GLH 9HUXQVLFKHUXQJ ZlKUHQG GHV $XIVWDQGHV JHZHVHQVLQGOlVVWVLFKDXVGHP%ULHIGHV%UHPHU$X‰HQVWHOOHQOHLWHUVXQG VSlWHUHQ9L]HSUlVLGHQWHQGHV%1'+DQV:RUJLW]N\ 81, ablesen, den er zwei 7DJHQDFKGHP-XQLDQGLH=HQWUDOHVFKLFNWH Zunächst war gähnende Leere. [...] Das ist unerträglich. Wir haben soviele Nachrichtenleute in Berlin, Berlin ist wieder einmal Brennpunkt der Welt, und kaum Nachrichten! [...] Wenn man in diesen Tagen die Zeitung liest, wird man neidisch und etwas traurig. Dabei haben wir [...] bewiesen, dass wir auch aktuell sein können. [...] Wenn wir solche Aufgaben [...] nicht meistern, so werden wir weltfremde Spezialisten, Nachrichtenbeamte für historische Sonderverbindungen, alles Mögliche, nur keine Nachrichtenführer sein, die in die Welt passen! 82

%HL GHU %HXUWHLOXQJ GHU 9RUJlQJH LQ GHU ''5 ZDU GLH 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ in der Woche nach dem Aufstand in erster Linie auf die Berichterstattung YRQ 3UHVVH XQG 5XQGIXQN DQJHZLHVHQ 'HU XQHUZDUWHWH $XVEUXFK GHV 9RONV]RUQVJHJHQGDV6('5HJLPHHUZHFNWHLQWHUQDWLRQDOJUR‰HV$XIVHKHQ 7URW] GHU$EULHJOXQJ GHU 6HNWRUHQJUHQ]HQ EHVWDQGHQ IU GLH 0HGLHQ RIIHQVLFKWOLFK EHVVHUH 0|JOLFKNHLWHQ GLH 9RUJlQJH LQ 2VWEHUOLQ XQG PLW HLQLJHU 9HU]|JHUXQJLQGHQDQGHUHQ5HJLRQHQGHU''5]XYHUIROJHQ,QVEHVRQGHUH die Berichterstattung des RIAS trug dazu bei, dass Informationen über das $XVPD‰ XQG GHQ $EODXI GHV 9RONVDXIVWDQGHV LP :HVWHQ UDVFK EHNDQQW wurden.83 Innerhalb der Organisation Gehlen erlaubten die wenigen bis zum 22. Juni vorliegenden eigenen Meldungen über den Aufstand lediglich die )HVWVWHOOXQJGDVVVLFKGLH5RWH$UPHHLQGHU''5ࡐLQ%HZHJXQJ´EHILQGH84 'HU &,$6WDE ZDU EHU GDV RIIHQVLFKWOLFKH 9HUVDJHQ GHV *HKOHQ'LHQVWHV YHUlUJHUW 1DFK *UDEHU VROO GLH ࡐEHIUHXQGHWH 6HLWH´ DP 1DFKPLWWDJ GHV

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW 78 30 (Gehlen) an alle Diensteinheiten und CIA, Anweisung Entwicklung in der SBZD, 17.06.1953, BND-Archiv (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW'LH$QZHLVXQJHUZlKQWGLH%HREDFKWXQJGHUVRZMHWLVFKHQ 7UXSSHQQLFKWZDVDXFKGDUDXI]XIKUHQVHLQGUIWHGDVVGLHVHU$XIWUDJRKQHKLQEHVWDQG(VH[LVWLHUWHLQH(QWwurfsversion dieser Anweisung, die auf den persönlichen Mitarbeiter Gehlens, Eberhard Blum, zurückgeht. Diese wurde vermutlich mit der Führung abgestimmt, überarbeitet und in der obigen Form abgesetzt. 30d (Eberhard Blum), Notiz, 17.06.1953, BND-Archiv 7361, Blatt 262.   ' 6LHJIULHG*UDEHU 0D‰QDKPHQIUGHQ$)DOO $EVFKQUXQJ%HUOLQV %1'$UFKLY %ODWW²%9( (EUXOI=XEHU DQ*D\ 6LHJIULHG*UDEHU %ULHI6%$UFK%%ODWW $QRQ\P>%9(@DQ)LOLDOH(DEJHGUXFNWLQ)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6²KLHU6

81 Hans-Heinrich Worgitzky (DN Wagner), 1907–1969, bis 1945 Oberst der Wehrmacht, 1946 Eintritt in die OrJDQLVDWLRQ*HKOHQ²$X‰HQVWHOOHQOHLWHU6WHOOYHUWUHWHU*HKOHQV²9L]HSUlVLGHQWGHV%1' VHLWHUNUDQNWRIÀ]LHOOHU5XKHVWDQG   /HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH%ULHI6²%$UFK%%ODWW²'D]X DXFK/HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH%HULFKW$XIWUlJH/DJH%HUOLQ6%1'$UFKLY Blatt 301.   0DUWLQ.UlPHU'HU9RONVDXIVWDQGYRP-XQLXQGVHLQSROLWLVFKHV(FKRLQGHU%XQGHVUHSXEOLN Deutschland, Bochum 1996, S. 167–174 sowie Manfred Rexin, Zur Rolle Westdeutschlands, S. 89–90.   ,QVJHVDPWODJHQ0HOGXQJHQYRUGLH]XDXVGHP*UR‰UDXP%HUOLQVWDPPWHQG (EHUKDUG%OXP  3URWRNROO*UXSSHQOHLWHUEHVSUHFKXQJ6%1'$UFKLY%ODWW

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW

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 -XQL  JHlX‰HUW KDEHQ ࡐ:R EOHLEHQ 0HOGXQJHQ" :LU KDEHQ GRFK VR YLHO *HOG LQYHVWLHUW´85 (QWVSUHFKHQG ZXUGHQ hEHUOHJXQJHQ DQJHVWHOOW wie der Nachrichtenausfall kompensiert werden könne. Abgesehen von GHU $XVZHUWXQJ GHU 3UHVVH XQG 5XQGIXQNEHULFKWHUVWDWWXQJ EOLHEHQ QXU zwei Möglichkeiten, Informationen zu beschaffen. Zum einen mussten Informationsquellen im Westen erschlossen werden, die über Kontakte in den Osten verfügten. Zum anderen stand das für den Kriegsfall aufgeEDXWH1HW]YRQ$X‰HQIXQNHUQ $I8 LQGHU''5]XU9HUIJXQJGLHWURW]GHU *UHQ]VFKOLH‰XQJLQGHU/DJHJHZHVHQZlUHQDNWXHOO]XEHULFKWHQ Da eine plötzliche Aktivierung des Funknetzes die Gefahr einer Enttarnung mit sich brachte, wurde von seinem Einsatz zunächst abgesehen. Erst als am 19. Juni klar war, dass die Abriegelung in Berlin bis auf weiteres bestehen bleiben würde, ordnete die Leitung der Organisation Gehlen – vermutlich auf Druck des CIA-Stabes – den Einsatz der AfU an.86 Allerdings erwies sich die 8PVHW]XQJGLHVHV3ODQHVDOVVFKZLHULJ(VEHVWDQGQlPOLFKSUDNWLVFKNHLQH Möglichkeit, die 23 einsatzbereiten Agentenfunker zu alarmieren. Die Leitung hatte beim CIA-Stab vergeblich versucht, in Krisenfällen die Durchgabe einschlägiger Codes im Rundfunkprogramm des RIAS zu erreichen. 87 Es lag damit während des 17. Juni im Ermessen der einzelnen Funker, ihren Auftrag, sich nur im Falle eines militärischen Konfliktes zu melden, zu übergehen und selbstständig den Kontakt zu den Führungsstellen im Westen herzustellen. 88 Dem Einsatzbericht nach zu urteilen, traten bis zum 22. Juni lediglich acht Funker in Erscheinung, nur fünf von ihnen übermittelten Informationen. 89 Bis zum 5. Juli meldeten sich noch elf weitere. Insgesamt gingen auf diesem Weg innerhalb von drei Wochen lediglich 41 Meldungen ein. 90 7URW] GHU LQ GHQ HUVWHQ 7DJHQ JUR‰HQ %HGHXWXQJ GHU )XQNVSUFKH GLH GLH HLQ]LJH 9HUELQGXQJ LQ GLH ''5 GDUVWHOOWHQ LVW GHP (LQVDW]EHULFKW ]X HQWQHKPHQ GDVV GLH ,QKDOWH ࡐLP $OOJHPHLQHQ VFKZDFK´ XQG GLH )XQNHU ࡐ]X VWDUN DXI

GLH 6SUXFKNXU]IDVVXQJ´ IHVWJHOHJW ZDUHQ91 7DWVlFKOLFK GUIWHQ GLH PHLVWHQ HLQJHJDQJHQHQ 6SUFKH VFKOLFKW ZHUWORV JHZHVHQ VHLQ 'HU $I8 ࡐ%lU´ WHLOWH DP  XQG  -XQL DXV 2VWEHUOLQ OHGLJOLFK PLW GDVV VHLQH 9HUVXFKH QDFK :HVWEHUOLQ GXUFK]XNRPPHQ LQIROJH GHU *UHQ]VFKOLH‰XQJ JHVFKHLWHUW seien. 92 Aus dem an der südlichen Stadtgrenze gelegenen Schönefeld HUUHLFKWH3XOODFKDP-XQLGLHZHQLJEHUUDVFKHQGH0LWWHLOXQJGDVVVHLW dem 17. Juni sowjetisches Militär um Berlin zusammengezogen würde. 939RQ ,QWHUHVVHGUIWHQ]XPLQGHVWGLH,QIRUPDWLRQHQGHV)XQNHUVࡐ/RKHQJULQ´JH ZHVHQVHLQGHUVHLWGHP-XQLEHUGDV$XVUFNHQVRZMHWLVFKHU7UXSSHQ in Richtung Magdeburg berichtete.94 Auf diese Weise konnten im besten Fall ]ZDU NQDSSH $QJDEHQ EHU PLOLWlULVFKH 9RUJlQJH GXUFKJHJHEHQ ZHUGHQ HLQHDXVIKUOLFKH%HULFKWHUVWDWWXQJEHUGDV9HUKDOWHQGHU%HY|ONHUXQJXQG GLH 5HDNWLRQHQ GHV 6WDDWVDSSDUDWHV ZDU DEHU QLFKW P|JOLFK (LQ 7HLO GHU Funksprüche erwies sich zudem als unbrauchbar, da mitunter Datum, Zeit und Ort der mitgeteilten Beobachtung fehlte.95 $XI ZHVWOLFKHU 6HLWH VROOWH GDV LQ %HUOLQ HLQJHVHW]WH 3HUVRQDO GXUFK Beobachtungen an den Sektorengrenzen Informationen über die Lage in Ostberlin beschaffen. Solche Erkundungsgänge waren mitunter schwierig, da GLHYHUGHFNWHQ(UPLWWOHUYRQGHU:HVWEHUOLQHU3ROL]HLDXVGHP*UHQ]JHELHWYHUtrieben wurden.96 1DFKWUlJOLFK ZXUGH GLHVHU VRJHQDQQWH ࡐ5HSRUWHU´(LQVDW] kritisch beurteilt, da so etwas nach Meinung der Leitung nicht zu den Aufgaben eines Nachrichtendienstes gehöre. Für das Informationsaufkommen erwies HUVLFKDEHUGHQQRFKDOVZLFKWLJGDLQGHQ7DJHQQDFKGHP-XQLࡐDQGHUH .OlUXQJVP|JOLFKNHLWHQQLFKW]XU9HUIJXQJVWDQGHQ´97 Der Erkenntnisgewinn DXVGHUࡐ(LJHQ0HOGHWlWLJNHLWGHV:HVW%HUOLQHU1')KUXQJVSHUVRQDOV´ZDU

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW 92 Funksprüche 9 und 10 von Bär, 18. und 19. Juni 1953, BND-Archiv 120817, Blatt 3328–3329 VRZLH(LQVDW]EHULFKW6XQG%$UFK%%ODWWXQG

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW 93 Funkspruch von Ariadne, 18.06.1953, BND-Archiv 120817, Blatt 1771 sowie Einsatzbericht, S. 17, %$UFK%%ODWW

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW   G (EHUKDUG%OXP 3URWRNROOGHU*UXSSHQOHLWHUEHVSUHFKXQJ6%1'$UFKLY%ODWW

  /HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH%HULFKW$XIWUlJH/DJH%HUOLQ6 BND-Archiv 7361, Blatt 295.

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW'HU$XIWUDJGHU)XQNHUVFKORVVLQQHUH8QUXKHQQLFKWPLWHLQ   (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW   =XU=DKOGHULQ(UVFKHLQXQJJHWUHWHQHQ)XQNHU' 6LHJIULHG*UDEHU DQ 9HUELQGXQJVRIÀ]LHU&,$  $NWHQYHUPHUN%$UFK%%ODWW²]XU=DKOGHUDP-XQLYRUOLHJHQGHQ)XQNVSUFKH G (EHUKDUG%OXP 3URWRNROOGHU*UXSSHQOHLWHUEHVSUHFKXQJ6%1'$UFKLY%ODWW

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]XGHPJHVFKPlOHUWGDHLQHDXJHQVFKHLQOLFKJUR‰H$Q]DKOYRQ0HOGXQJHQ entweder nur Unwesentliches enthielt oder aufgrund fehlender Angaben nicht zu verwerten war. Das wiederum gab Anlass zu interner Kritik an den 4XDOLILNDWLRQHQGHVKDXSWDPWOLFKHQ3HUVRQDOV98 Ebenfalls wenig Erfolg war 9HUVXFKHQEHVFKLHGHQGHQ2VWEHUOLQHU3ROL]HLIXQNDE]XK|UHQGDNHLQHYHUwertbaren Informationen aufgefangen werden konnten.99 Eine vergleichsweise einfache Möglichkeit, Informationen aus Ostberlin und der DDR zu erhalten, war die Befragung von Flüchtlingen. Nach GHU 1LHGHUVFKODJXQJ GHV 9RONVDXIVWDQGHV VHW]WHQ VLFK YRU DOOHP MHQH DDR-Bürger in den Westen ab, die als Streikaktivisten und Anführer in Erscheinung getreten waren. Die Generalvertretung G meldete am 20. Juni, GDVVGLH9HUQHKPXQJYRQ''5%UJHUQDQGHULQQHUGHXWVFKHQ*UHQ]HEHgonnen habe.100 bKQOLFKH %HULFKWH JLQJHQ LQ GHQ NRPPHQGHQ 7DJHQ DXFK YRQDQGHUHQ$X‰HQVWHOOHQHLQ101 Jenseits der Lager war das hauptamtliche 3HUVRQDO LQ %HUOLQ DQJHKDOWHQ (LQZRKQHU DXV GHP 2VWVHNWRU DXV]XIUDJHQ Ende Juni 1953 gelang es der Organisation Gehlen, mit Bauarbeitern aus der Stalinallee in Kontakt zu kommen. Deren Aussagen über die Entstehung und den Ablauf der Demonstrationen am 16. und 17. Juni 1953 wurden dann zur wesentlichen Grundlage für die Berichterstattung über den Aufstand in Ostberlin.102 (LQ DQGHUHU :HJ EHVWDQG LQ GHU $XVQXW]XQJ RIÀ]LHOOHU XQG LQRIÀ]LHOOHU .RQWDNWH ]X -RXUQDOLVWHQ 3ROLWLNHUQ ZHVWOLFKHQ 6LFKHUKHLWVEHK|UGHQ und nicht zuletzt zu antikommunistischen Widerstandsgruppen wie den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UfJ), der Kampfgruppe gegen 8QPHQVFKOLFKNHLW .J8  RGHU GHQ 2VWEURV YRQ 63' XQG '*% (V JLEW jedoch nur wenige Anhaltspunkte, dass die Organisation Gehlen von dieser

Möglichkeit tatsächlich Gebrauch machte. Kontakte der Organisation Gehlen ]XP 9HUIDVVXQJVVFKXW] RGHU GHP )ULHGULFK:LOKHOP+HLQ]'LHQVW103 sind überhaupt nicht nachweisbar.104 Der Leiter der Bezirksvertretung E, Ebrulf Zuber 105 RUGQHWH ]ZDU DP  -XQL  HLQH ࡐVRIRUWLJH .RQWDNWDXIQDKPH´ seiner Mitarbeiter mit den Ostbüros und Widerstandgruppen an. Es gelang in VHLQHP=XVWlQGLJNHLWVEHUHLFKMHGRFKELVDXI*HVSUlFKHPLWGHU9HUHLQLJXQJ SROLWLVFKHU2VWIOFKWOLQJH 932 106 nicht, Informationen einzuholen. Die späWHUH(PS|UXQJ=XEHUVGDVVWURW]ࡐGHV$EJHVFKQLWWHQVHLQVYRQGHQ4XHOOHQ´ NHLQ ࡐ%HGUIQLV´ EHVWDQGHQ KlWWH GLH EHVWHKHQGHQ 9HUELQGXQJHQ ]XU ,QIRUPDWLRQVJHZLQQXQJ ]X QXW]HQ OlVVW GHQ 6FKOXVV ]X GDVV DXV 3XOODFK HLQ HQWVSUHFKHQGHV 9HUERW HUJDQJHQ ZDU107 Möglicherweise bestanden in der Zentrale Bedenken, dass durch ein allzu offensichtliches Bemühen um ,QIRUPDWLRQHQ XQYRUWHLOKDIWH 5FNVFKOVVH DXI GDV 9HUP|JHQ GHU HLJHQHQ Organisation gezogen werden könnten. Nachweisbar sind Kontakte der Organisation Gehlen zu Westberliner Sicherheitsbehörden, die zum Informationsaustausch genutzt wurden. (LQH GLHVHU 9HUELQGXQJHQ EHVWDQG EHU GHQ 9HUWUHWHU GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ .OHLNDPS ]XU :HVWEHUOLQHU 3ROL]HL 'LHVHU KDWWH ࡐLQ GHQ 7DJHQ GHV

  'HU)ULHGULFK:LOKHOP+HLQ]'LHQVWZDUHLQLP-XOLJHJUQGHWHUXQGGHQ9RUOlXIHUHLQULFKWXQJHQGHV 9HUWHLGLJXQJVPLQLVWHULXPV'LHQVWVWHOOH6FKZHULQXQGVSlWHU$PW%ODQNDQJHJOLHGHUWHU*HKHLPGLHQVWGHULP$XItrag des Bundeskanzleramtes militärische und politische Spionage betrieb. Er stand in Konkurrenz zum Bundesamt IU9HUIDVVXQJVVFKXW]XQGGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQZHOFKHGLH=HUVFKODJXQJGHV+HLQ]'LHQVWHVEHWULHEHQ0LW dem Rücktritt des Leiters, Friedrich Wilhelm Heinz, am 1. Oktober 1953 verlor er an Bedeutung, bestand formal DEHUQRFKELV]XP)UKMDKU6XVDQQH0HLQO)ULHGULFK:LOKHOP+HLQ] ² 9HUVFKZ|UHUJHJHQ+LWOHU XQG6SLRQDJHFKHILP'LHQVWH%RQQVLQ'LHWHU.UJHUXQG$UPLQ:DJQHU +J .RQVSLUDWLRQDOV%HUXI'HXWVFKH *HKHLPGLHQVWFKHIVLP.DOWHQ.ULHJ%HUOLQ6²6XVDQQH0HLQO,P0DKOVWURPGHV.DOWHQ.ULHJHV )ULHGULFK:LOKHOP+HLQ]XQGGLH$QIlQJHGHUZHVWGHXWVFKHQ1DFKULFKWHQGLHQVWH²LQ:ROIJDQJ.ULHJHU XQG-UJHQ:HEHU +J 6SLRQDJHIUGHQ)ULHGHQ"0QFKHQ/DQGVEHUJD/6²

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW   (LQVDW]EHULFKW6VRZLH '  6LHJIULHG*UDEHU DQ '  9HUELQGXQJVRIÀ]LHU&,$  9RUOlXÀJHU%HULFKW6%$UFK%%ODWWXQG   (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW   :LHV\VWHPDWLVFKGLH)OFKWOLQJVEHIUDJXQJHUIROJWHOlVVWVLFKQRFKQLFKWDEVFKOLH‰HQGEHXUWHLOHQ1DFKZHLVEDULVWGDVVGLH*HQHUDOYHUWUHWXQJ%GLH$XVVDJHQHLQHV6WUHLNIKUHUVDXV+DOOHQDFK3XOODFKZHLWHUJDE/HLWHU *9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH%HULFKW$XIWUlJH/DJH%HUOLQ6%1'$UFKLY%ODWW ,QGHQ2EMHNWDNWHQGHUHLQ]HOQHQ%HWULHEHXQG.RPELQDWHIDQGHQVLFKQXU]ZHL9HUQHKPXQJVEHULFKWHDXVGHP 6RPPHUGLH$QJDEHQ]XP-XQLHQWKLHOWHQ9HUQHKPXQJVEHULFKW/HLWHU6WDKOXQG:DO]ZHUN%UDQGHQEXUJ LQ%$UFK%VRZLH9HUQHKPXQJVEHULFKW9(%2SWLVFKH:HUNH5DWKHQRZLQ%$UFK%   3 3ROLWLVFKH%HVFKDIIXQJ 0HOGXQJ=XVDPPHQVWHOOXQJYRQ$XJHQ]HXJHQEHULFKWHQ]XGHQ(UHLJQLVVHQ DPLQ2VW%HUOLQ%1'$UFKLY%ODWW²

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104 Die Generalvertretung B holte über Dritte Erkundigungen ein, zu welchen Einschätzungen über den Aufstand GLHVHEHLGHQ1DFKULFKWHQGLHQVWHJHNRPPHQZDUHQ(LQGLUHNWHU.RQWDNWNDPRIIHQEDUQLFKW]XVWDQGH/HLWHU*9% (Hans Worgitzky) an Zentrale, Bericht Aufträge Lage Berlin, 24.06.1953, S. 15, BND-Archiv 7361, Blatt 299. 105 Ebrulf Zuber (DN Ackermann), 1920–2005, vor 1945 Angehöriger der Waffen-SS, zuletzt im Rang eines 2EHUVWXUPEDQQIKUHUV(LQWULWWLQGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ²0LWDUEHLWHUHLQHU$X‰HQVWHOOH ²$X‰HQVWHOOHQOHLWHU²$EWHLOXQJVOHLWHULQGHU1DFKULFKWHQEHVFKDIIXQJLQGHU=HQWUDOH 3HQVLRQLHUXQJ   'LH9HUHLQLJXQJ3ROLWLVFKHU2VWÁFKWOLQJH 932 ZDUYHUPXWOLFKLP$XIWUDJDPHULNDQLVFKHU'LHQVWH JHJUQGHWZRUGHQIKUWH3URSDJDQGDXQG6DERWDJHDNWLRQHQLQGHU''5GXUFKXQGIXQJLHUWH]XJOHLFKDOVHLQH$UW ࡐ0LWWOHUVWHOOH´]ZLVFKHQYHUVFKLHGHQHQDQWLNRPPXQLVWLVFKHQ2UJDQLVDWLRQHQLQ:HVWEHUOLQ6W|YHU%HIUHLXQJYRP Kommunismus, S. 269–270.   $QRQ\P>%9(@6FKUHLEHQDQ)LOLDOH$DEJHGUXFNWLQ)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6

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-XQLDXIVWDQGHVZLHGHUKROW%HVSUHFKXQJHQ´LP3ROL]HLSUlVLGLXPXQGHUKLHOWYRQ dort Unterlagen.108 Dass es der Organisation Gehlen überhaupt gelang, wieder Informationen aus der DDR zu erhalten, war in erster Linie der schrittweisen Aufhebung GHU *UHQ]VFKOLH‰XQJ VHLW GHP  -XQL ]X YHUGDQNHQ 6R PXVVWH *UDEHU gegenüber der CIA eingestehen: Von der Org. muss ehrlicherweise zugegeben werden, dass sie bei den Unruhen Glück hatte. Hätte nämlich der Gegner die Strangulierung Berlins wirklich hermetisch durchgeführt, dann wäre ein beachtliches Meldungsvakuum entstanden. Es besteht hier kein Zweifel, dass es im Laufe mehrerer Wochen und Monate gelungen wäre, auch die hermetische Abschließung zu durchbrechen – aber wie viel Mühe hätte dies unter den Augen des Gegners gekostet! 109

Bei den nun eingehenden Meldungen offenbarte sich ein strukturelles 3UREOHPGHU1DFKULFKWHQEHVFKDIIXQJ'LH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQYHUIJWH]ZDU im Sommer 1953 in der DDR über ein dichtes Netz an Gewährsleuten, doch waren diese in erster Linie auf Militärspionage ausgerichtet. Für die am 17. Juni von der Zentrale angeordnete Aufklärung der politischen Absichten der sowjetischen Führung wären aussagekräftige Quellen notwendig gewesen, die Einblicke in die DDR-Führung oder gar die Sowjetische Hochkommission LQ .DUOVKRUVW KDWWHQ hEHU VROFKH 9HUELQGXQJHQ YHUIJWH GLH 2UJDQLVDWLRQ Gehlen im Sommer 1953 nicht. 110 Dem politischen Aufklärungsapparat war lediglich die Rekrutierung einiger weniger Gewährsleute in Ostberlin gelungen. Deren Informationen wurde bei der Erarbeitung des Lagebildes allerGLQJVXPVRJU|‰HUH%HGHXWXQJEHLJHPHVVHQ0LW(OOL%DUF]DWLV0LWDUEHLWHULQ   ࡐ8QLRQYHUVLFKHUXQJ%HUOLQ´ +HOPXW.OHLNDPS DQࡐ6:8´ 'LHQVWVWHOOH (UIDKUXQJVEHULFKWEHUGLH Krisentage, 30.06.1953, S. 2, BND Archiv 7361, Blatt 281. Im September 1953 übersandte Kleikamp umfangreiche ࡐ)LOPXQG)RWRNRSLHQ´DXVGHU$EWHLOXQJ9QDFK3XOODFKGLHࡐ$XVNXQIWEHUGLH9RUJlQJHXPGHP-XQL JHEHQ´ࡐ)HXHUYHUVLFKHUXQJ%HUOLQ´ +HOPXW.OHLNDPS DQࡐ6:8´ 'LHQVWVWHOOH %ULHI/DJH%HUOLQ BND-Archiv 120826, Blatt 1448.   (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW   8GR5LWJHQLP6RPPHU0LWDUEHLWHULQGHUSROLWLVFKHQ%HVFKDIIXQJEHULFKWHWHࡐ'DVLH>GLH 2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ@EHUNHLQHUOHLSROLWLVFKH4XHOOHQYHUIJWHLVWLKU0HOGXQJVELOGEHUGLHVRHEHQJHVFKLOGHUWHQ 9RUJlQJH>GHQ9RONVDXIVWDQG@PHKUDOVOFNHQKDIW>@$XIGHPSROLWLVFKHQ6HNWRUJLEWHVZHGHUHLQHQDFKULFKWHQGLHQVWOLFKH2UJDQLVDWLRQQRFKJHQJHQGYRUJHELOGHWHV3HUVRQDO$EHUGDVDXIGLHVHQ:HJHQHUVWHOOWH/DJHELOGKLQNW VWlQGLJKLQWHUGHUDNWXHOOHQ/DJHKHU'LHࡏ)DOOIKUXQJ¶LVWXPVWlQGOLFKXQG]X]HLWUDXEHQGGLH3UHVVHDQDO\VHNDQQ DXFKDQGHUVZRJHPDFKWZHUGHQ´5LWJHQ(ULQQHUXQJVEHULFKW6²%1'$UFKLY1DFKODVV%DQG

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im Sekretariat des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, hatte der Dienst HLQH9HUELQGXQJLQGLH''55HJLHUXQJ'LHDXIGLHVHP:HJHJHZRQQHQHQ Erkenntnisse waren aber für die politische Lageanalyse nur von bedingtem Nutzen. Zum einen wurden politische Entscheidungen in der DDR nicht in der Regierungskanzlei, sondern in der SED-Führung gefällt. Sie waren EHUGLHVYRQ9RUJDEHQGHUVRZMHWLVFKHQ)KUXQJDEKlQJLJ'DVV%DUF]DWLV Einblicke in die Unterlagen Grotewohls als Mitglied der SED-Führung erhielt, ist unwahrscheinlich. Ein deutliches Indiz hierfür ist die Berichterstattung der 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ LP 9RUIHOG GHV  -XQL GHQQ ZHGHU YRQ GLHVHU QRFK YRQ DQGHUHQ 4XHOOHQ ZXUGHQ HQWVFKHLGHQGH ,QIRUPDWLRQHQ EHU 9RUJlQJH LQGHU3DUWHLIKUXQJHUEUDFKW111 Eine andere und aus Sicht der Organisation *HKOHQ YLHOYHUVSUHFKHQGH SROLWLVFKH 9HUELQGXQJ LP 8PIHOG GHV  -XQL ZDU GHU 'LUHNWRU GHV 9HUODJHV GHU 1DWLRQHQ XQG 0LWJOLHG LP 9RUVWDQG GHU %ORFNSDUWHL 1'3' *QWHU +RIp ,P -XQL  EHVWDQG GLHVHU .RQWDNW HUVW ZHQLJH :RFKHQ +RIp ZDU QRFK NHLQH 4XHOOH VRQGHUQ DUEHLWHWH LQ HUVWHU Linie für den französischen Geheimdienst und hatte, ähnlich wie Barczatis, LQ VHLQHU )XQNWLRQ NDXP 0|JOLFKNHLWHQ EHU 3OlQH GHU ''5)KUXQJ QDFK 3XOODFK ]X EHULFKWHQ %HL GHU %HXUWHLOXQJ GHU SROLWLVFKHQ 9RUJlQJH ZDU GLH 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ VRPLW LQ HUVWHU /LQLH DXI GLH 3UHVVHEHULFKWHUVWDWWXQJ sowie auf Zufallserkenntnisse ihrer übrigen Quellen angewiesen. Daneben versuchte die politische Auswertung aus der Beobachtung wirtschaftlicher und PLOLWlULVFKHU 9RUJlQJH 3URJQRVHQ EHU SROLWLVFKH .RQ]HSWH DE]XOHLWHQ )U HLQH]HLWQDKH%HXUWHLOXQJGHUVLFKLQGHU''5YROO]LHKHQGHQ9HUlQGHUXQJHQ ZLHVLHZlKUHQGXQGQDFKGHP9RONVDXIVWDQGGULQJHQGQRWZHQGLJJHZHVHQ wäre, war dieser Ansatz ungeeignet. Die Umsetzung der am 17. Juni erlassenen Aufklärungsforderung war aus 6LFKW GHU ''5%HVFKDIIXQJ QLFKW P|JOLFK GD HV ࡐHLQHU JHZLVVHQ $Q]DKO YRQ 6SLW]HQTXHOOHQ DXI GHP SROLWLVFKHQ 6HNWRU EHGXUIW KlWWH´112 Auch in

  %DUF]DWLVZXUGH]XGHPVHLWYRQGHU6WDDWVVLFKHUKHLWZHJHQ6SLRQDJHYHUGDFKWREHUVHUYLHUW9RQ Januar bis Juni 1953 war sie zu einem Lehrgang abkommandiert und nicht im Büro Grotewohl tätig. Dorthin kehrte sie Mitte Juni zurück, wurde aber in die Eingabenbearbeitung versetzt, da das MfS sie nicht mehr für vertrauenswürdig hielt. Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann: Konzentrierte Schläge. StaatssicherheitsDNWLRQHQXQGSROLWLVFKH3UR]HVVHLQGHU''5²%HUOLQ6² ,P%1'$UFKLYLVWLP8PIHOGGHV9RONVDXIVWDQGHVQXUHLQH0HOGXQJYRQ%DUF]DWLVQDFK]XZHLVHQ$P-XQL lag von ihr eine Bestätigung für die im Wochenbericht vom 10. Juni erwähnte Meldung über die Zurückstellung GHUYRUPLOLWlULVFKHQ$XVELOGXQJLQ3XOODFKYRU0HOGXQJ6%='*HVHOOVFKDIWIU6SRUWXQG7HFKQLN BND-Archiv 121285, Blatt 1055.   (LQVDW]EHULFKW6²%$UFK%%ODWW²

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GHQ $X‰HQVWHOOHQ GLH PLW GHU HLJHQWOLFKHQ $JHQWHQIKUXQJ EHIDVVW ZDUHQ HUVFKLHQ GLH 8PVHW]XQJ GLHVHV 9RUKDEHQV QLFKW UHDOLVWLVFK (EUXOI =XEHU GHVVHQ %H]LUNVYHUWUHWXQJ ( HLQLJH 9HUELQGXQJHQ ]X :LUWVFKDIWV XQG 9HUZDOWXQJVIDFKOHXWHQ LQ GHQ 0LQLVWHULHQ XQG +DXSWYHUZDOWXQJHQ GHU ''5 KDWWH lX‰HUWH VLFK DP  -XQL LQ HLQHP 6FKUHLEHQ DQ GLH =HQWUDOH GDKHU pessimistisch: Einige wesentliche Quellen in Ostberliner SED, Polizei und SSD wären jetzt von großem Nutzen. Nur die wesentliche politische Quelle nützt in einer solchen Situation, weil der Normalverbraucher (und das sind auch die meisten unserer Spitzenquellen außerhalb ihres Spezialgebietes) viel zu harm- und urteilslos ist, als dass er bei Geschehnissen wie den augenblicklichen hinter die Kulissen sehen könnte.113

Gleichwohl erteilte Zuber wie auch der Leiter der Generalvertretung B, Worgitzky, seinen Agenten den Auftrag, eine Klärung der politischen Hintergründe zumindest zu versuchen. Solche Schritte wurden nicht von allen geteilt. Der Leiter der Generalvertretung G schätzte die Kapazitäten seiner auf Militäraufklärung ausgerichteten Netze realistisch ein und ordnete ZLH ELVKHU LQ HUVWHU /LQLH GLH %HREDFKWXQJ GHU VRZMHWLVFKHQ 7UXSSHQ XQG DDR-Sicherheitskräfte an.114 Was die Organisation Gehlen in den letzten Junitagen aus eigenen Quellen EHUGHQ9RONVDXIVWDQGLQ(UIDKUXQJEULQJHQNRQQWHEDVLHUWHGDPLWDXIGHQ Aussagen ihrer militärischen Gewährsleute.115 Bis zum 5. Juli 1953 lagen zu beinahe zwei Dritteln von 90 beobachteten sowjetischen Militärstandorten Erkenntnisse vor.116'LH9HUWHLOXQJGHUHLQJHJDQJHQHQ%HULFKWHGHFNWHVLFK PLWGHQ6FKZHUSXQNWUHJLRQHQGHV9RONVDXIVWDQGHVLP*UR‰UDXP%HUOLQXQG

  %9( (EUXOI=XEHU DQ*D\ 6LHJIULHG*UDEHU %ULHI6%DUFK%%ODWW(EHQIDOOV LQGLHVHU5LFKWXQJlX‰HUWHVLFKDXFKGLH*HQHUDOYHUWUHWXQJ%LQLKUHP(LQVDW]EHULFKW/HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\  an Zentrale, Bericht Aufträge Lage Berlin, 24.06.1953, BND-Archiv 7361, Blatt 284–303.   *9*DQ'LHQVWVWHOOHQ$QZHLVXQJ(QWZLFNOXQJ/DJHLQGHU2VW]RQH%$UFK% Blatt 102–107.

dem mitteldeutschen Industrierevier.117 Auf diese Weise war die Organisation Gehlen in der Lage, Angaben über den Einsatz von Sicherheitskräften, Demonstrationsstärken sowie den kursorischen Ablauf der Kundgebungen in der DDR zu erheben. Insgesamt gingen dem Einsatzbericht zufolge in 3XOODFKHLQVFKOlJLJH0HOGXQJHQHLQ118 Inhaltlich beschränkten sich die Erkenntnisse zumeist auf militärische (QWZLFNOXQJHQ (LQLJH $X‰HQVWHOOHQ YHUVXFKWHQ GLHVH HLQVHLWLJH Informationserhebung durch gezielte nachträgliche Befragungen auszugleichen.119 Dabei handelte es sich nach Aktenlage aber nur um punkWXHOOH 0D‰QDKPHQ ZHOFKH DXI GLH (LJHQLQLWLDWLYH HLQ]HOQHU $X‰HQVWHOOHQ zurückgingen. Umgekehrt berichteten einige Quellen von sich aus über die 9RUJlQJHDQLKUHP:RKQRUWRGHULQLKUHP%HWULHERKQHHLQHQEHVRQGHUHQ Auftrag erhalten zu haben. Auf das Lagebild hatten diese Bemühungen kaum Auswirkung. Die Wirtschaftsaufklärung stellte rückblickend fest, dass zwar die militärischen Bewegungen von den eigenen Quellen umfassend EHULFKWHW ZRUGHQ VHLHQ ,QIRUPDWLRQHQ EHU ࡐ6WUHLNJUQGH XQG ZLUWVFKDIW OLFKH )ROJHQ >@ EHWHLOLJWH .UHLVH >XQG@ IKUHQGH $XIVWDQGVJUXSSHQ´ DEHU kaum vorlagen.120 Erschwerend kam hinzu, dass sich die vorhandenen :LUWVFKDIWVTXHOOHQ GLH ]XPHLVW LQ OHLWHQGHQ 3RVLWLRQHQ LQ 2VWEHUOLQ WlWLJ waren, nach der Niederschlagung des Aufstandes zunächst scheuten, 9HUELQGXQJ ]X LKUHQ )KUXQJVVWHOOHQ DXI]XQHKPHQ 'LH 0HKUKHLW GLHVHU *HZlKUVOHXWH OHJWH HUVW LP 9HUODXIH GHV -XOLV 0HOGXQJHQ YRU 121 Was die

117 Dieses nachträglich erhobene dichte und detaillierte Meldungsbild spiegelt sich in der Standortkartei der OrgaQLVDWLRQ*HKOHQEHUGLH5RWH$UPHH%$UFK%²VRZLH:DJQHU8KO%1'FRQWUD6RZMHWDUPHH6² 118 Die im Einsatzbericht angeführte Bilanz des Meldungsaufkommens bedarf der Erläuterung. Zwar wurden 0HOGXQJHQYRQ4XHOOHQDEJHVHW]W'LH=DKOGHUYRQGHQ$JHQWHQࡐDEJHVHW]WHQ0HOGXQJHQ´JLEWDEHUQXU GLH0HQJHGHULQGHU=HQWUDOHHLQJHJDQJHQHQ5RKPHOGXQJHQZLHGHUGLHNHLQH5FNVFKOVVHDXIGLHQDFK3UIXQJ WDWVlFKOLFKYHUZHUWEDUHQ,QIRUPDWLRQHQ]XOlVVW9RUGHP+LQWHUJUXQGGHUJHVFKLOGHUWHQPDQJHOKDIWHQ%HULFKWHUVWDWWXQJEHVRQGHUVLQGHQHUVWHQ7DJHQQDFKGHP$XIVWDQGGUIWHGLH=DKOGHUEUDXFKEDUHQ0HOGXQJHQGHXWOLFK geringer gewesen sein. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die Masse der Informationen die Zentrale erst zwei :RFKHQQDFKGHP-XQLHUUHLFKWH8QWHUGHQ4XHOOHQVXEVXPLHUWGHU%HULFKWHQWJHJHQGHQEOLFKHQ*HSÁRJHQheiten nicht nur die Agenten aus der DDR, sondern gleichfalls einmalige Gelegenheitsquellen, das im Umfeld des -XQLPHOGHQGH:HVWEHUOLQHU3HUVRQDOXQGGLH9HUQHKPHUGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQLQGHQ$XIIDQJODJHUQ6HW]W PDQGLHDQJHIKUWH=DKOYRQPHOGHQGHQ4XHOOHQLQV9HUKlOWQLV]XGHQHWZDLQGHU''5WlWLJHQ$JHQWHQ so dürfte etwa nur ein Drittel der Gewährsleute über den Aufstand berichtet haben. Einsatzbericht, S. 33, BArch B %ODWW   89/HLWHU(DQ=HQWUDOH%HULFKWYRP%$UFK%%ODWW²

  7UDIHQDP-XQLQRFK%HULFKWHLQGHU=HQWUDOHHLQVWLHJGHUHQ=DKO]ZHL7DJHEHUHLWVDXIXP VFKOLH‰OLFKDP-XQLGHQ6WDQGYRQPHOGHQGHQ4XHOOHQ]XHUUHLFKHQ9JOGLH(LQWUlJHLP(LQVDW]EHULFKW %$UFK%   .DUWH(LQ]HOPHOGXQJHQYRP%$UFK%%ODWW

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  : :LUWVFKDIWVDXINOlUXQJ 'LHZLUWVFKDIWOLFKH$XINOlUXQJ6%1'$UFKLY   (LQVDW]EHULFKW6XQG%$UFK%%ODWWXQG$QRQ\P %9( 6FKUHLEHQDQ)LOLDOH$ DEJHGUXFNWLQ)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6

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politischen Erkenntnisse angeht, so war die Bilanz noch schlechter ausgefallen: In der Berichterstattung über den 17. Juni sind keine Hinweise entKDOWHQGLHDXIHLQH.HQQWQLVGHU9RUJlQJHLQQHUKDOEGHV3DUWHL6WDDWVRGHU 6LFKHUKHLWVDSSDUDWHVVFKOLH‰HQODVVHQ 1HEHQGHPYRUEHUJHKHQGHQ9HUOXVWGHU4XHOOHQZLUNWHQVLFKQRFKDQGHUH Faktoren nachteilig auf den Kenntnisstand der Organisation Gehlen aus. Die $X‰HQVWHOOHQZDUHQDP-XQLDQJHZLHVHQZRUGHQQXUEHU9RUJlQJH]X EHULFKWHQGLHQLFKW3UHVVHXQG5XQGIXQN]XHQWQHKPHQZDUHQ 122 Angesichts GHUGLFKWHQ|IIHQWOLFKHQ%HULFKWHUVWDWWXQJOHLWHWHQHLQLJH$X‰HQVWHOOHQHLQHQ 7HLO GHU DQJHIDOOHQHQ (UNHQQWQLVVH QLFKW ZHLWHU GD PDQ VLFK XQVLFKHU ZDU ob die eingegangenen Informationen nicht bereits aus anderer Quelle vorlagen.123 In anderen Fällen wurde diese Anweisung dahingehend interpretiert, dass eine zeitnahe Berichterstattung nicht vordringlich sei. Der Leiter der Generalvertretung G erklärte seinen nachgeordneten Stellen am 17. Juni: Die gegenwärtigen Ereignisse gehen so und so über uns hinweg, d.h. sie sind nur nachträglich erfassbar. [...] Eine Unterrichtung über Vorgänge, die vermutlich kurz darauf in Rundfunk und Presse verbreitet werden, erübrigt sich.124

6R YHUKLHOW VLFK HLQ VLJQLILNDQWHU 7HLO GHV 3HUVRQDOV LQ GHQ $X‰HQVWHOOHQ DEZDUWHQG'HU(LQVDW]EHULFKWIKUW]ZDUDXFKDEHQWHXHUOLFKH9HUVXFKHDQ über die geschlossenen Grenzen hinweg Informationen aus der DDR zu beschaffen. Die Herausstellung dieser Unternehmungen deutet aber darauf hin, GDVV VROFKH $NWLRQHQ QLFKW DQ GHU 7DJHVRUGQXQJ ZDUHQ 125 Zuber empörte VLFKQDFKWUlJOLFKEHUGLH8QWlWLJNHLWVHLQHU0LWDUEHLWHUGLHVLFKLQGHQ7DJHQ QDFKGHP-XQL9HUZDOWXQJVDXIJDEHQ]XJHZDQGWKlWWHQDQVWDWWVLFKXP die Nachrichtenbeschaffung zu kümmern.126 'DVV VLFK VROFKHV 9HUKDOWHQ nicht auf seinen Bereich beschränkte, lässt sich aus den Unterlagen des %HUOLQHU 0HOGHNRSIHV DEOHVHQ GHU IU GLH hEHUPLWWOXQJ DOOHU LQ :HVWEHUOLQ 122

30d (Eberhard Blum), Berichterstattung wegen besonderer Lage, 17.06.1953, BND-Archiv 7361, Blatt 261.

  /HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH%HULFKW$XIWUlJH/DJH%HUOLQ6%1'$UFKLY 7361, Blatt 301.

eingegangenen Meldungen in die Bundesrepublik verantwortlich war. Die Mitarbeiter verfügten offenbar über ausreichende Kapazitäten, um sich während der Aufstandstage um Lohnangelegenheiten zu kümmern.127 'LH LQ GHQ $X‰HQVWHOOHQ DXIJHODXIHQHQ %HULFKWH EHQ|WLJWHQ DQJHVLFKWV GHV NRPSOL]LHUWHQ .XULHUZHJHV PHKUHUH 7DJH ELV VLH LQ GHU =HQWUDOH HLQWUDIHQ Selbst die Weiterleitung eines Funkspruches hatte eine längere Laufzeit als ein ࡐ/XIWSRVW(LOEULHI´ZLH:RUJLW]N\NULWLVFKDQPHUNWH128 In der Zentrale bereiteten VHOEVWGLHDP-XQLDQJHRUGQHWHVWlQGLJH3UHVVHXQG5XQGIXQNDXVZHUWXQJ VRZLH GLH 9HUDUEHLWXQJ GHU ZHQLJHQ HLQJHKHQGHQ 0HOGXQJHQ ZlKUHQG GHU $XIVWDQGVWDJH RIIHQEDU JU|‰HUH 3UREOHPH 'D HV NHLQH 3ODQXQJHQ IU GLH Einrichtung eines Krisenstabes gab, nahm die interne Abstimmung zwischen GHQ HLQ]HOQHQ 5HIHUDWHQ XQG $EWHLOXQJHQ HLQHQ *UR‰WHLO GHU .DSD]LWlW LQ Anspruch. 129 Die Erarbeitung von Lageeinschätzungen litt unter diesen RUJDQLVDWRULVFKHQ 3UREOHPHQ130 Erst nach einer Woche gelang es durch ad KRF0D‰QDKPHQDXIGHU$UEHLWVHEHQHGLHࡐ]HQWUDOHQ)KUXQJVLQVWDQ]HQDXI HLQDQGHU HLQ]XSHQGHOQ´131 Am 22. Juni wurde zur schnelleren Weiterleitung GHUHLQJHKHQGHQ0HOGXQJHQLQQHUKDOEGHU''5%HVFKDIIXQJHLQࡐ$UEHLWVVWDE $XIVWDQG´ JHELOGHW GHU GLH $XVZHUWXQJVDEWHLOXQJ EHL GHU (UVWHOOXQJ HLQHV /DJHELOGHVXQWHUVWW]WHDEHUZHQLJH7DJHVSlWHUZLHGHUDXIJHO|VWZXUGH132 'HU 9RONVDXIVWDQG LQ GHU ''5 WUDI GLH 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ GDPLW YROONRPPHQ XQYRUEHUHLWHW 'LH %HGHXWXQJ GHU 9RUJlQJH ZXUGH VSlW HUNDQQW XQG XQ]XWUHIIHQG HLQJHRUGQHW 'LH 6FKOLH‰XQJ GHU 6HNWRUHQJUHQ]HQ VFKQLWW GHQ *HKOHQ'LHQVWLQGHQHQWVFKHLGHQGHQ7DJHQYRQVHLQHQ*HZlKUVOHXWHQLQGHU ''5 DE 'LHV XQG GLH LQWHUQHQ 3UREOHPH HUP|JOLFKWHQ GHP 'LHQVW QXU HLQH nachträgliche und einseitige Informationsbeschaffung.

  ࡐ8QLRQYHUVLFKHUXQJ%HUOLQ´ +HOPXW.OHLNDPS DQࡐ6:8´ 'LHQVWVWHOOH %ULHI6WHXHUDEJDEHQDQ&RYHU ÀUPD%1'$UFKLY%ODWWࡐ6:8´ 'LHQVWVWHOOH DQࡐ89%´ +HOPXW.OHLNDPS )HVW setzung von Lohnpauschalen, 19.06.1953, BND Archiv 120827, Blatt 1211.   /HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH%HULFKW$XIWUlJH/DJH%HUOLQ6%1'$UFKLY %ODWW$P-XQLODJHQLQ3XOODFKNDXP2ULJLQDOPHOGXQJHQVRQGHUQKDXSWVlFKOLFK)XQNVSUFKHYRU  '  6LHJIULHG*UDEHU DQ   9HUELQGXQJVRIÀ]LHU 9RUOlXÀJHU%HULFKW6%$UFK% %ODWW   (LQVDW]EHULFKW6²%$UFK%%ODWW²

  /HLWHU*9*DQ$X‰HQVWHOOHQ$QZHLVXQJ6XQG%$UFK%%ODWWXQG

  &KLHIRI%DVH3XOODFKDQ&KLHI((LQ5XIIQHU,QWHOOLJHQFH3DUWQHUVKLS%DQG61$5$ (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW

  )XQNVSUXFKDQ*9*%$UFK%%ODWW

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  $QRQ\P %9( 6FKUHLEHQDQ)LOLDOH$DEJHGUXFNWLQ)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6²

  6WDEVPLWWHLOXQJ%$UFK%%ODWW²

38

39

3 Interpretationen und Erkenntnisse )U GLH 0LOLWlUDXINOlUXQJ GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ ZDU GHU 9RONVDXIVWDQG ein Glücksfall. Der massierte Einsatz der sowjetischen Armee und der DDRSicherheitskräfte ermöglichte es, die bisherigen Erkenntnisse über Stärke, Dislozierung und Ausrüstung zu überprüfen und zu ergänzen. Zudem JDEHQ GLH 7UXSSHQEHZHJXQJHQ $XIVFKOXVV GDUEHU ZHOFKH PLOLWlULVFKHQ 3ODQXQJHQ DXI VRZMHWLVFKHU 6HLWH IU GHQ (UQVWIDOO YRUODJHQ 'DV 9HUKDOWHQ GHUHLQJHVHW]WHQ7UXSSHQLQVEHVRQGHUHDEHUGHU.DVHUQLHUWHQ9RONVSROL]HL ermöglichte Rückschlüsse über die Zuverlässigkeit und die Moral der Sicherheitskräfte. Diesen Fragen schenkte die Organisation Gehlen in ihren %HULFKWHQEHUGHQ9RONVDXIVWDQGJUR‰H$XIPHUNVDPNHLW,QGHUDP-XQL GHP.DQ]OHUDPWEHUPLWWHOWHQHUVWHQࡐ.XU]RULHQWLHUXQJ´ZXUGHGHU$EODXIGHV 9RONVDXIVWDQGHV DQKDQG GHV (LQVDW]HV GHU VRZMHWLVFKHQ$UPHH GDUJHOHJW Knapp zwei Wochen nach dem Ausbruch der Unruhen war die Organisation Gehlen in der Lage, Angaben über den Einsatz einzelner Divisionen im *UR‰UDXP %HUOLQ VRZLH LQ +DOOH :HLPDU XQG DQ GHU 2VWVHHNVWH YRU]XOHgen.133 Der im Juli vorgelegte Abschlussbericht beschreibt auf dreizehn Seiten ausführlich Mobilisierung, Einsatz und Rückverlegung der Sicherheitskräfte, JHJOLHGHUWQDFK7HLOVWUHLWNUlIWHQXQGDXIGHPJHVDPWHQ7HUULWRULXPGHU''5 Diese umfassende und dichte Darstellung zeigt, dass die Militäraufklärung QDFKHLQHP0RQDWLQGHU/DJHZDUHLQYHUPXWOLFKLQZHLWHQ7HLOHQYROOVWlQGLges Lagebild zu rekonstruieren.134

  2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ0HOGXQJ1Uࡐ.XU]RULHQWLHUXQJ´6²965HJLVWUDWXU%XQGHV NDQ]OHUDPW%DQG%ODWW² 134 Dazu ausführlich Wagner, Uhl, BND contra Sowjetarmee, S. 87–93. Das dichte und kleinteilige InformationsDXINRPPHQEHUGLHPLOLWlULVFKHQ9RUJlQJHVSLHJHOWVLFKDXFKLQGHU6WDQGRUWNDUWHLEHUGLHVRZMHWLVFKHQ7UXSSHQ GHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ%$UFK%²

40

41

Die

neusten

Ereignisse

in

Ostberlin

zeigen

an,

dass

Ulbricht

und

Grotewohl schwere Tage bevorstehen. Es besteht kein Zweifel, dass die Demonstrationen der Arbeiterschaft, zumindest in der Anfangsphase, inszeniert wurden, um damit die scheinbare Bereitschaft der Sowjets anzukündigen, den Sowjetisierungskurs zugunsten der Wiedervereinigung Deutschlands nachhaltig zu bremsen – vielleicht sogar unter Preisgabe der mit ihm verbundenen hohen Funktionäre. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (17.6. 15 Uhr) scheint die Bewegung allerdings den Regisseuren aus der Hand geglitten zu sein.135

3.1 Interpretationen: Inszenierter Aufstand Die Organisation Gehlen benötigte etwa vier Wochen, um die politischen, ZLUWVFKDIWOLFKHQXQGJHVHOOVFKDIWOLFKHQ$VSHNWHGHV9RONVDXIVWDQGHVHLQ]XRUGQHQ]XEHZHUWHQXQG]XHLQHUHLQLJHUPD‰HQ]XWUHIIHQGHQ(LQVFKlW]XQJ zu gelangen. Wie aus der am 17. Juni erlassenen Aufklärungsforderung HUVLFKWOLFKEHVFKlIWLJWHPDQVLFKLQ3XOODFKYRUDOOHPPLWGHU)UDJHZHOFKH Ursachen dem plötzlich ausbrechenden Aufstand zugrunde lagen. Am 17. Juni selbst ging die Organisation Gehlen davon aus, der Aufstand sei von der sowjetischen Führung herbeigeführt worden. Der um 15 Uhr abgeschlossene Wochenbericht führt an, dass im Rahmen des primär gegen GLH :HVWELQGXQJ GHU %XQGHVUHSXEOLN JHULFKWHWHQ ࡐ1HXHQ .XUVHV´ LQ OHW]WHU Konsequenz auch eine Entmachtung der SED-Führung mit Hilfe eines inszeQLHUWHQ$XIVWDQGHVZDKUVFKHLQOLFKVHL6RKHL‰WHVHLQOHLWHQGGLHVRZMHWLVFKH )KUXQJ KlWWH ࡐLKUH SROLWLVFKH $NWLYLWlW >@ QRFK JHVWHLJHUW´ XQG VHL ࡐQXQPHKU]XP(QGVSXUWJHJHQGLH2UJDQLVDWLRQGHUZHVWOLFKHQ9HUWHLGLJXQJ DQJHWUHWHQ´ 'LH 9HUlQGHUXQJHQ GHU OHW]WHQ :RFKHQ VHLHQ QXU ࡐWDNWLVFKH 0D‰QDKPHQ PLW VWDUN SURSDJDQGLVWLVFKHU )lUEXQJ´ JHZHVHQ -HW]W ࡐPXVV aber damit gerechnet werden, dass Sowjets noch weitergehende, echte .RQ]HVVLRQHQ>@DQELHWHQZHUGHQ´XQGEHUHLWVHLHQࡐ2SIHU´]XEULQJHQ

42

'LH7KHVHHLQHVLQV]HQLHUWHQDEHUVFKOLH‰OLFKGHQ$EVLFKWHQGHU,QLWLDWRUHQ zuwiderlaufenden Aufstandes gegen die SED-Führung wurde nicht nur von GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ YHUWUHWHQ 'LH 9RUVWHOOXQJ GDVV HV VLFK EHL GHQ 9RUJlQJHQLQGHU''5XPHLQHQVSRQWDQHQ$XIVWDQGKDQGHOQN|QQWHEHUVWLHJ ]XQlFKVW GLH 9RUVWHOOXQJVNUDIW YLHOHU ZHVWOLFKHU %HREDFKWHU 136 9RU allem der Umstand, dass der am 16. Juni formierte Demonstrationszug ungehindert bis vor das Regierungsgebäude ziehen konnte, galt als Indiz für eine Inszenierung der Erhebung.137$XFK$GHQDXHUWHLOWHGLHVH9HUPXWXQJXQGlX‰HUWH VLFK LQ VHLQHU DP )UKQDFKPLWWDJ DEJHJHEHQHQ 5HJLHUXQJVHUNOlUXQJ über die Entstehungszusammenhänge unbestimmt und zurückhaltend: Wie

auch

die

Demonstrationen

der

Ost-Berliner

Arbeiter

in

ihren

Anfängen beurteilt werden mögen, sie sind zu einer großen Bekundung des Freiheitswillens des deutschen Volkes in der Sowjetzone und Berlin geworden.138

  hEHUVLFKW%$UFK%ODWW²KLHU+HUYRUKHEXQJLP2ULJLQDO6LHKHGD]XDXFK GLHYHUPXWOLFKYRQ(EUXOI=XEHUYHUIDVVWH$QZHLVXQJDQVHLQH'LHQVWVWHOOHQ$QRQ\P %9( 6FKUHLEHQDQ)LOLDOH $RKQH7LWHODEJHGUXFNWLQ)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6²KLHU6'DV'RNXPHQW VWDPPWDXVGHU)LOLDOH$GHU%9(XQGZXUGHYRP0I6LP=XJHGHU9HUKDIWXQJGHV0LWDUEHLWHUVGHU2UJDQLVD tion Gehlen, Werner Haase, im November 1953 sichergestellt.   9RUDOOHPDXIGHU(EHQHGHULQWHUQDWLRQDOHQ3ROLWLNZXUGHQGLH(UHLJQLVVHLQ2VWEHUOLQDOV0DQ|YHUGHU sowjetischen Führung wahrgenommen. Für die amerikanische Regierung siehe Ostermann, Uprising, S. 175–176. =XU3UHVVHEHULFKWHUVWDWWXQJ0DQIUHG5H[LQ=XU5ROOH:HVWGHXWVFKODQGVXQG:HVW%HUOLQVDP-XQL6 ²VRZLHGHUV'LHVVHLWVGHV3RWVGDPHU3ODW]HV:HVW%HUOLQDPXQG-XQL%HUOLQ6² 137 Meinungsbildend wirkte sich die Einschätzung des Chefkorrespondenten der amerikanischen NachrichtenDJHQWXU$VVRFLDWHG3UHVVDXVGHUDQJHVLFKWVGHU.XQGJHEXQJHQDP-XQLYRQHLQHULQV]HQLHUWHQ.DPSDJQH ausging. Rexin, Zur Rolle Westdeutschlands, S. 84.   5HJLHUXQJVHUNOlUXQJYRQ%XQGHVNDQ]OHU.RQUDG$GHQDXHULQ9HUKDQGOXQJHQGHV'HXWVFKHQ Bundestages, Stenographische Berichte, Band 16, Bonn 1953, S. 13449.

43

In der Literatur wird verschiedentlich vermutet, dass die Wahrnehmung des Bundeskanzlers auf eine Unterrichtung durch die Organisation Gehlen zurückzuführen sei.139 (LQ .RQWDNW ]ZLVFKHQ GHP .DQ]OHUDPW XQG 3XOODFK YRU 9HU|IIHQWOLFKXQJ GHU 5HJLHUXQJVHUNOlUXQJ LVW QLFKW QDFKZHLVEDU Adenauer dürften neben einer immerhin denkbaren Unterrichtung noch die Einschätzungen des Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienstes sowie möglicherweise auch Stellungnahmen westlicher Botschafter in Bonn vorgelegen haben, die zunächst ebenfalls von der einer Inszenierung ausgingen.140 Eine Bestätigung DXV 3XOODFK GUIWH GLHVH $QQDKPH EHVWlUNW DEHU NDXP XUVlFKOLFK KHUEHL geführt haben. Die Regierungserklärung wurde auf einer Sondersitzung des Bundeskabinetts am Mittag des 17. Juni beschlossen, nachdem der über die Lage in der Ostzone gut unterrichtete Bundesminister für gesamtdeutsche )UDJHQEHUGLH9RUJlQJHLQGHU''5%HULFKWHUVWDWWHWKDWWH141 'HU ࡐ6SLHJHO´ EHKDXSWHWH LQ VHLQHU HUVWHQ$XVJDEH QDFK GHP 9RONVDXIVWDQG VRJDU QRFK DP  -XQL GDVV GLH 9RUJlQJH ࡐJDQ] DQGHUV JHSODQW´ gewesen seien.142 Ungeachtet solcher Annahmen ging der Grundtenor in GHQ 7DJHV]HLWXQJHQ MHGRFK GDKLQ GLH *UQGH IU GHQ$XIVWDQG VHLHQ LQ GHU SUHNlUHQSROLWLVFKHQXQGZLUWVFKDIWOLFKHQ/DJHLQGHU''5]XVHKHQ9RUDOOHP GLH %HULFKWHUVWDWWXQJ GHV 5,$6 GHU HQJH 9HUELQGXQJ ]X GHQ$XIVWlQGLVFKHQ und der DDR-Bevölkerung hatte und aus erster Hand berichten konnte, prägte die öffentliche Wahrnehmung der Erhebung.143 Zum Spektrum der zeitgenössischen Interpretationen gehörte auch die von der SED-Führung noch am 17. Juni erhobene Behauptung, der Aufstand sei vom Westen herbeigeführt worden.

'D 3UHVVH XQG 5XQGIXQN GLH +DXSWLQIRUPDWLRQVTXHOOHQ GHU 2UJDQLVDWLRQ Gehlen waren, dürften diese widersprüchlichen Einschätzungen aufgefallen sein. Zu einer Differenzierung der eigenen Bewertung führte dies nicht. Am 18. Juni lag die Meldung eines Gewährsmannes vor, wonach die Demonstration DP 9RUWDJ YRQ GHU 6(')KUXQJ DQJHRUGQHW ZRUGHQ VHLHQ$XV 6LFKW GHV %HDUEHLWHUV LQ 3XOODFK KDWWH GLH 4XHOOH ]ZDU GHQ$NWHXU IDOVFK HUNDQQW GLH Meldung wurde aber in der Grundaussage als zutreffend eingeschätzt und in die eigenen Ansichten eingepasst: Die Meldung unterstützt hiesige Auffassung hinsichtlich Entstehungsgrund und unplanmäßiger Weiterentwicklung der Unruhen in Ost-Berlin und der Sowjetzone. Anzunehmen, dass eine derartige Inszenierung (wenn auch mit unbeabsichtigtem Ausmaß) ohne ausdrückliche Billigung bzw. ohne Anstoß von sowjetischer Seite her erfolgt sein könnte, ist abwegig. Seit wann wäre eine Partei bzw. Regierung des sowjetischen Machtbereichs zu einer Selbstbezichtigung – und gar in dieser selbstmörderischen demonstrativen Form – ohne Weisung oder Zwang aus Moskau bereit gewesen? 144

(QWVSUHFKHQG ZXUGH GHU %HLWUDJ GHU SROLWLVFKHQ $XVZHUWXQJ ]XU 7DJHV meldung vom 18. Juni formuliert: Der aus den bisher vorliegenden Hinweisen (auch der Presse) zu gewinnender Gesamteindruck über die Unruhen in Ost-Berlin und der Sowjetzone bestätigen unsere in der Übersicht vom 17.6. [ein Wort unleserlich] Auffassung, dass es sich bei den betreffenden Vorgängen im Ansatz um eine von offiziel-

  .DUO:LOKHOP)ULFNH=XU*HVFKLFKWHXQGKLVWRULVFKHQ'HXWXQJGHV$XIVWDQGHVYRP-XQLLQ+HLGL Roth, Der 17. Juni in Sachsen, Köln 1999, S. 13–100, hier S. 84–85.   'HU%RWVFKDIWHU)UDQNUHLFKVlX‰HUWHVLFKDP-XQLJHJHQEHU$X‰HQPLQLVWHU+DOOVWHLQLQGLHVHU5LFKWXQJ $XI]HLFKQXQJGHV6WDDWVVHNUHWlUV+DOOVWHLQLQ$NWHQ]XU$XVZlUWLJHQ3ROLWLNGHU%XQGHVUHSXEOLN Deutschland, hg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte, 1953, Band 1, 1. Januar bis -XQL0QFKHQ6²KLHU=XP+HLQ]'LHQVW)+:'LHQVWF/DJHLQ%HUOLQ 965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW%DQG%ODWW²   6RQGHUVLW]XQJGHU%XQGHVUHJLHUXQJLQ'LH.DELQHWWVSURWRNROOHGHU%XQGHVUHJLHUXQJ hg. von Hans Booms, Band 6, Boppard am Rhein 1989, S. 348–349. Egon Bahr führt in seinen Erinnerungen aus, dass am Morgen des 17. Juni bereits eine erste Stellungnahme des Kanzlers verbreitet werden sollte, die klar eine sowjetische Urheberschaft unterstrich. Im RIAS sei die Ausstrahlung dieser Mitteilung unterblieben und Bahr hätte VLFKPLWGHP.DQ]OHUDPWLQ9HUELQGXQJJHVHW]WXPGLH5HJLHUXQJYRQGHU$EZHJLJNHLWGLHVHU,QWHUSUHWDWLRQ]X überzeugen. Egon Bahr: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 78–79 sowie Fricke, Zur Geschichte, S. 85. 142

Juni-Aufstand. Was in der Luft liegt, Der Spiegel, 24.06.1953, S. 6–7, hier S. 6.

  .UlPHU9RONVDXIVWDQG6²

ler sowjetischer Seite in Szene gesetzte Aktion handelt, mit dem Ziel, die Frage der Wiedervereinigung in innerdeutschem Rahmen ins Rollen zu bringen und hierfür bestimmte Hemmnisse auf östlicher Seite (Ulbricht etc.) zu beseitigen, um auf diese Weise eine für den Osten günstige Ausgangsbasis für evtl. nachfolgende Verhandlungen zu schaffen, (Alte Parole: zuerst Gesamtdeutsche Beratungen!) Im tatsächlichen Verlauf ist die ausgelöste Bewegung über das beabsichtigte Maß hinausgegangen durch Entfesselung von in diesem Umfang145 offenbar nicht vermuteten Widerstandskräften. Inzwischen

  0HOGXQJࡐ'HPRQVWUDWLRQHQLQ2VW%HUOLQ´6²KLHU6%1'$UFKLY Blatt 1028–1029, hier 1029.   ,P2ULJLQDOXUVSUQJOLFK0D‰HKDQGVFKULIWOLFKJHlQGHUWLQ8PIDQJ

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scheint es jedoch gelungen zu sein, die Kettenreaktion abzufangen und überschießende Tendenzen als Störaktionen „westlicher Agenten“ zu erklären.146

Wurde in dieser Bewertung die Grundthese nicht infrage gestellt, so fallen hinsichtlich ihres Zwecks und der Akteure Differenzierungen auf. Ein erster Hinweis findet sich in der Entwurfsfassung für eine Unterrichtung der $X‰HQVWHOOHQ GLH DXI GHU EHVDJWHQ 7DJHVPHOGXQJ EHUXKW +LHU ZXUGH GLH YRQ GHU $XVZHUWXQJ IHVWJHVWHOOWH ࡐRIIL]LHOOH VRZMHWLVFKH´ ,QLWLDWLYH YRQ GHU politischen Abteilung dahingehend abgeschwächt, dass es sich um eine $NWLRQYRQࡐ|VWOLFKHU6HLWH´KDQGHOH147 $XV GHQ IROJHQGHQ VLHEHQ 7DJHQ OLHJHQ NHLQH 4XHOOHQ YRU LQ GHQHQ VLFK 9HUlQGHUXQJHQGHULQWHUQHQ:DKUQHKPXQJDEOHLWHQODVVHQ=ZLVFKHQ]HLWOLFK hatte die Organisation Gehlen Erkundigungen eingeholt, zu welchen Schlüssen andere geheimdienstlich gegen die DDR arbeitende Organisationen gekomPHQ ZDUHQ 'LHVH ࡐ*HVSUlFKVHUNXQGXQJHQ´ HUJDEHQ GDVV GHU )ULHGULFK :LOKHOP+HLQ]'LHQVW GDYRQ DXVJLQJ GDVV GLH ࡐ8QUXKHQ XQWHU |VWOLFKHU 5HJLH VWDQGHQ´ ZRKLQJHJHQ DXV DQGHUHU 4XHOOH GHP .DQ]OHUDPW EHULFKWHW ZRUGHQZDUGDVVGLHࡐ9RUJlQJHVSRQWDQXQGRKQH5HJLH´HUIROJWZDUHQ 148 Inwiefern die Organisation Gehlen Einblicke in die Einschätzungen der CIA erhielt, ist schwer zu beurteilen. Ein offizieller Informationsabgleich fand während des Aufstandes jedenfalls nicht statt, wie die Leitung später gegenüber dem CIA-Stab beklagte.149 Andererseits waren die Arbeitskontakte eng und boten Gelegenheit für einen informellen Austausch. Der amerikaQLVFKH 1DFKULFKWHQGLHQVW KLHOW ]XPLQGHVW (QGH -XQL  GLH LQ 3XOODFK vertretene Einschätzung nicht für ausgeschlossen, dass es sich um einen inszenierten Aufstand gehandelt haben könnte.150

  3' 3ROLWLVFKH$XVZHUWXQJ DQ3 3ROLWLVFKH%HVFKDIIXQJ ࡐ%HLWUDJ]XU7DJHVPHOGXQJYRP´ >(QWZXUI@%1'$UFKLY%ODWW+HUYRUKHEXQJLP2ULJLQDO   3' 3ROLWLVFKH$XVZHUWXQJ DQ3 3ROLWLVFKH%HVFKDIIXQJ ࡐ=ZLVFKHQEHXUWHLOXQJ]XGHQOHW]WHQ 9RUJlQJHQLQ%HUOLQXQGLQGHU6RZMHW]RQH´6²%1'$UFKLY%ODWW²   /HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH%HULFKW$XIWUlJH/DJH%HUOLQ6%1'$UFKLY %ODWW'LH]ZHLWH0HOGXQJEH]LHKWVLFKP|JOLFKHUZHLVHDXIGHQ9HUIDVVXQJVVFKXW]GHUQHEHQGHP Heinz-Dienst für die nachrichtendienstliche Unterrichtung des Kanzleramtes sorgte.    +RUVWYRQ0HOOHQWKLQ DQ -DPHV&ULWFKÀHOG /HVVRQV/HDUQHGIURPWKH8SULVLQJV6XPPHU LQ5XIIQHU,QWHOOLJHQFH3DUWQHUVKLS%DQG61$5$ 150

Ostermann, Uprising, S. 176. Die Aussage bezieht sich auf eine CIA-Meldung vom 26.06.1953.

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Am 24. Juni legte die Organisation Gehlen ihre erste Stellungnahme zum Aufstand vor. Aus dem Bericht lässt sich ablesen, dass sie ihre bisherige ,QWHUSUHWDWLRQ QLFKW JUXQGOHJHQG LQ )UDJH VWHOOWH 6R PVVH ࡐGHU .UHPO >@ GLH 7DWVDFKH >@ EHUFNVLFKWLJHQ GDVV GLH QLFKWNRPPXQLVWLVFKH :HOW GLH Erhebung der Arbeiterschaft in der deutschen Sowjetzone als Fanal des )UHLKHLWVZLOOHQV EHWUDFKWHW´ ZDV DOV %HNUlIWLJXQJ GHU 7KHVH YRQ HLQHP LQszenierten, aber aus dem Ruder gelaufenen Aufstand verstanden werden NDQQ'HUDQJHRUGQHWH.XUVZHFKVHOVHLࡐLQHLQHLQGLHVHP0D‰HXQHUZDUWHWH 9RONVHUKHEXQJ´ JHPQGHW GLH VFKOLH‰OLFK QXU PLW :DIIHQJHZDOW QLHGHUgeschlagen werden konnte. Dass die Demonstrationen in Szene gesetzt ZRUGHQ VHLQ PVVWHQ ZLUG PLW GHP YHUNODXVXOLHUWHQ 9HUZHLV DXI HLQH YRQ 6HPMRQRZ EHDEVLFKWLJWH ࡐ)RUP HLQHU GHPRQVWUDWLYHQ 5FNRULHQWLHUXQJ ]XU ࡏ9RONVPHLQXQJ¶´ XPVFKULHEHQ151 Dass sich hinter solchen Formulierungen ZHLWHUKLQ GLH hEHU]HXJXQJ YHUEDUJ GHU $XIVWDQG VHL WDWVlFKOLFK KHUEHL JHIKUW ZRUGHQ ]HLJW HLQH DP IROJHQGHQ 7DJ GHP .DQ]OHUDPW YRUJHOHJWH DQJHEOLFKHbX‰HUXQJHLQHV$QJHK|ULJHQDXVGHP8PIHOGGHU6RZMHWLVFKHQ +RFKNRPPLVVLRQGHUࡐDXV*HVSUlFKHQEHL6HPMRQRZ´ZLVVHQZROOWHGDVV ࡐGHU 6WUHLN GHU  %DXDUEHLWHU LQ GHU 6WDOLQ$OOHH YRQ VRZMHWLVFKHU 6HLWH LQV]HQLHUWZRUGHQLVWXPGHQ$EWULWWGHU''55HJLHUXQJYRU]XEHUHLWHQ´152 $EJHVHKHQ YRQ GHU 3UHVVHEHULFKWHUVWDWWXQJ ODJHQ LQ 3XOODFK ]X GLHVHP Zeitpunkt durchaus Meldungen vor, die eine andere Deutung der +LQWHUJUQGH GHV 9RONVDXIVWDQGHV QDKH OHJWHQ ,Q GHU 0HOGXQJ HLQHV SURPLQHQWHQ SROLWLVFKHQ *HZlKUVPDQQHV YRP  -XQL KHL‰W HV EHLVSLHOVZHLVH GDVV GLH ࡐ'HPRQVWUDWLRQHQ XQG 8QUXKHQ nicht YRQ PD‰JHEOLFKHQ 6WHOOHQLQV]HQLHUW´ZRUGHQVHLHQ153 Am 26. Juni ging ein Befragungsbericht ein, der detaillierte Aussagen von Bauarbeitern aus der Stalinallee und Demonstrationsteilnehmern über die Entwicklung der Ereignisse zwischen dem 15. und 17. Juni enthielt. Der Bericht bot keinerlei Anhaltspunkte für

  hEHUVLFKWYRP%$UFK%%ODWW²KLHU   'LH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQEHULHIVLFKDXI$..UMXWNRGHQGLH0HOGXQJDOV0LWDUEHLWHUGHU9HUZDOWXQJGHV VRZMHWLVFKHQ9HUP|JHQVLQGHU''5DXVZHLVW'LHVHULQWHUSUHWLHUWHDQJHEOLFKHbX‰HUXQJHQGHVVRZMHWLVFKHQ +RFKNRPPLVVDUVLQ2VWEHUOLQLQGLHVHU5LFKWXQJ'LHLQGHU0HOGXQJVLQQJHPl‰ZLHGHUJHJHEHQHQbX‰HUXQJHQ Semjonows zeigen jedoch nur, dass auch dieser vom Ausbruch des Aufstandes überrascht wurde. Organisation *HKOHQ0HOGXQJ1Uࡐ=XU5HYROWHLQ%HUOLQ´965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW Band 1, Blatt 36.   *HQHUDOYHUWUHWXQJ%,,,DQ3 3ROLWLVFKH%HVFKDIIXQJ 0HOGXQJࡐ/DJH''54XHOOH+RUD]´XQGDWLHUW >YRU@VRZLHGLHGDUDXIEDVLHUHQGH0HOGXQJ/DJH''53DQ3EHLGHLQ%1'$UFKLY 35426, Blatt 70–71. Hervorhebung im Original.

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die Inszenierungstheorie. Die daraus abzuleitende Schlussfolgerung, dass sich der Aufstand vollkommen ohne Wissen oder Duldung der SED-Führung E]Z GHU VRZMHWLVFKHQ +RFKNRPPLVVLRQ HQWZLFNHOW KDEHQ VROOWH OLH‰ VLFK MHGRFK QLFKW LQ GLH 9RUVWHOOXQJHQ HLQSDVVHQ $XFK ZHQQ MHJOLFKHU %HZHLV fehlte, wurde vermutet, dass zumindest der Beginn der Kundgebungen in der Stalinallee am 16. Juni von der SED mit Billigung der sowjetischen Hochkommission gesteuert gewesen sein musste: Dass der Affekt zum Aufbruch aus den Reihen der Arbeiter selbst kam, kann immerhin sein. Unberührt davon bleibt aber die Auffassung gültig, dass von der SED-Regierung eine demonstrative Form der Kritik [...] erwartet und zugelassen wurde – und dies zweifellos auf Wunsch der sowj. Hochkommission [...] Dass dem späteren Massenaufstand zugrundeliegende Experiment der „Selbstkritik“, die unter Zuhilfenahme eines für zuverlässig gehaltenen Teils der Arbeiterschaft durchgeführt werden sollte, fehlgegangen ist, wird selbst von Grotewohl nicht geleugnet.154

,Q DEJHVFKZlFKWHU )RUP ZXUGH GLH 7KHVH HLQHU 6WHXHUXQJ DXFK DP  Juni dem Kanzleramt vorgetragen, ohne dass allerdings Ziele und Akteure benannt werden konnten: Es ist erwiesen, dass beide Seiten [Sowjetische Hochkommission und SED-

Eine zumindest teilweise Abkehr von diesem Interpretationsmuster lässt sich in den ersten Julitagen nachvollziehen. Obwohl die Agenten in der DDR am 17. Juni den dringlichen Auftrag erhalten hatten, Beweise für eine Inszenierung EHL]XEULQJHQ EHOHJWHQ GLH QXQ ZLHGHU ]DKOUHLFK LQ 3XOODFK HLQJHKHQGHQ 0HOGXQJHQGDVVVLFKHLQHVROFKH$QQDKPHQLFKWHUKlUWHQOLH‰,P*HJHQWHLO GHXWHWHQ GLH %HULFKWH GDUDXI KLQ GDVV GHU 9RONVDXIVWDQG DQGHUH 8UVDFKHQ haben musste.156 Zudem hatte in der öffentlichen Diskussion die Erörterung GLHVHU)UDJHNDXPQRFK%HGHXWXQJVLHOLHIOHW]WOLFKDXIHLQH'LVNUHGLWLHUXQJ des Aufstandes und vor allem der Opfer hinaus. Diese Entwicklungen dürften dazu beigetragen haben, dass die Einschätzungen intern einer kritischen hEHUSUIXQJ XQWHU]RJHQ ZXUGHQ 8QWHU QRFKPDOLJHU +HUDQ]LHKXQJ GHV Befragungsberichtes sowie weiterer Erkenntnisse über den Ablauf der Demonstrationen, sprachen nunmehr alle zusammengetragenen Indizien JHJHQHLQH6WHXHUXQJ6RZRKOGLH(QWVWHKXQJGHU3URWHVWEHZHJXQJLQGHU Stalinallee wie auch das Zustandekommen der erste Demonstration am Folgetag waren allein in der geforderten Zurücknahme der Normerhöhungen EHJUQGHWhEHUKDXSWVHLHLQH,QV]HQLHUXQJDEZHJLJ$QJHVLFKWVGHULQQHQpolitischen Lage in der DDR vor Ausbruch der Unruhen hätten sowohl die SED)KUXQJDOVDXFKGLHVRZMHWLVFKH+RFKNRPPLVVLRQࡐGDPLWUHFKQHQPVVHQ GDVVVLFKPLWGLHVHU$NWLRQ(LQÁVVHYHUELQGHQXQGVLFK%HY|ONHUXQJVDEVLFKWHQ DQVFKOLH‰HQ GHUHQ$XVZHLWXQJ HLQIDFK QLFKW YRUDXV]XEHUHFKQHQ´ ZDU 'DV Ergebnis der Untersuchung mündete in dem Fazit:

Führung] den Versuch gemacht haben, sie [die Demonstrationen] in den Dienst ihrer Absichten zu stellen und sie zu diesem Zweck stellenweise

Zusammenfassend

zunächst sogar zu fördern. [...] Erst als die Bewegung sich zum Aufstand

für die Demonstrationen und den folgenden Aufstand tatsächlich in dem

können

diese

Überlegungen

dazu

führen,

den

Ursprung

ausgewachsen hatte, der jeder Lenkung Hohn sprach, und im Begriff stand,

Entschluss einer verbitterten Arbeitergruppe zu sehen, die – ohne eine

beide Seiten hinwegzufegen, fanden sich die Spitzen notgedrungen zu ge-

Lenkung, deren sie gar nicht bedurfte – unbewusst und ungewollt den Anstoß

meinsamer Abwehr zusammen. [...] Die Auseinandersetzung zwischen Sowjets

gegeben hat. Dass sich aus einem – zunächst fast harmlos erscheinenden

und SED – die schon lange befürchtete im Interesse der sowjetischen

– Protest die machtvolle Volkserhebung entwickelte, kann nur auf die

Friedenspolitik geopfert zu werden – wurde vertagt.155

Verhältnisse in der SBZD zurückgeführt werden.157

  3 3ROLWLVFKH%HVFKDIIXQJ 0HOGXQJࡐ=XVDPPHQVWHOOXQJYRQ$XJHQ]HXJHQEHULFKWHQ]XGHQ(UHLJQLVVHQ DP-XQLLQ2VW%HUOLQ´6²KLHU6%1'$UFKLY%ODWW²KLHU

  'D]XGLH0HOGXQJHQGHU*9%GLHDP-XQLLQGHU=HQWUDOHYRUODJHQ/HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\  an Zentrale, Bericht Aufträge Lage Berlin, 24.06.1953, S. 5–6, BND-Archiv 7361, Blatt 289–290.

  2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ0HOGXQJࡐ.XU]RULHQWLHUXQJ´6965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW %DQG%ODWW+HUYRUKHEXQJLP2ULJLQDO

  $QRQ\P%HULFKWࡐ'HU$XVJDQJVSXQNWIUGLH8QUXKHQLQ2VWEHUOLQ´XQGDWLHUW>$QIDQJ-XOL@ BND-Archiv 7361, Blatt 265–282, hier 276.

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49

'LH(LQVLFKWGDVVPLWGHQELVKHULJHQ9HUPXWXQJHQIDOVFKJHOHJHQ]XKDEHQ setzte sich trotz dieser zutreffenden Analyse innerhalb der Organisation Gehlen nur zögerlich durch. Entsprechend konnte man sich Mitte Juli im Abschlussbericht auch nicht zu einem klaren Dementi durchdringen. 9LHOPHKU]RJHQVLFKGLH$XWRUHQGDUDXI]XUFNDOOH6SHNXODWLRQHQEHUHLQH Inszenierung hätten nunmehr an Bedeutung verloren: Der nachträglichen Betrachtung erscheint es unerheblich, ob der anfänglich kleine Protestmarsch möglicherweise amtlich inspiriert war, ob die vorhandene Empörung über die Normenerhöhung regiemässig ausgenutzt wurde oder ob die zweifellos bekannte Streikabsicht nur toleriert wurde. Dass eine echte Empörung nach 8 Jahren Unterdrückung vorhanden war, ist nicht zu bezweifeln.158

/HW]WH=ZHLIHODQHLQHUVSRQWDQHQ(QWVWHKXQJGHU3URWHVWHOLH‰HQVLFKJOHLFKwohl nicht ausräumen, denn für die Organisation Gehlen stand außer Zweifel, dass von der sowjetzonalen Regierung eine demonstrative Form der Kritik in begrenztem und kontrolliertem Umfang erwartet und zugelassen wurde, und zwar fraglos auf Wunsch der Sowjetischen Oberkommission [...].159

Diese Feststellung gründete sich auf der Beobachtung, dass die DDR-Führung GHQ VLFK LQ GHQ 7DJHQ YRU GHP  -XQL RIIHQ DUWLNXOLHUHQGHQ 3URWHVW QLFKW sofort durch den Einsatz von Sicherheitskräften unterband. Die naheliegende Erklärung, dass die SED-Führung ebenso wie die Organisation Gehlen die (QWZLFNOXQJXQWHUVFKlW]WHXQGYRQGHU:XFKWGHV9RONV]RUQVVFKOLFKWEHU UDVFKWZXUGHOLH‰VLFKQLFKWLQGLHLQ3XOODFKJHKHJWH9RUVWHOOXQJHLQHUWRWDOLWlU durchherrschten Gesellschaft einpassen.160

  $EVFKOXVVEHULFKW6%$UFK%%ODWW'LHVH)RUPXOLHUXQJZXUGHZ|UWOLFKDXVGHP(LQVDW]EHULFKW:RUJLW]N\VEHUQRPPHQ/HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH%HULFKW$XIWUlJH/DJH%HUOLQ S. 6, BND-Archiv 7361, Blatt 290.

3.2 Erkenntnisse über den Aufstand (LQH HUVWH XPIDVVHQGH 8QWHUVXFKXQJ GHV 9RONVDXIVWDQGHV OHJWH GLH Organisation Gehlen am 29. Juni vor. Der Wochenbericht vom 24. Juni behanGHOWHGHQ$XIVWDQGQXUNXUVRULVFKXQGEHVFKUlQNWHVLFKDXI3URJQRVHQEHU P|JOLFKH$XVZLUNXQJHQGLHVHV(UHLJQLVVHVDXIGLHVRZMHWLVFKH$X‰HQSROLWLN 161 Wie stark diese spät einsetzende Berichterstattung vom Meldungsausfall in GHQ7DJHQQDFKGHP-XQLEHHLQIOXVVWZDUOlVVWVLFKDXJHQIlOOLJDXVGHQ $QJDEHQEHUGLHPLOLWlULVFKHQ9RUJlQJHXQGGLH$XVEUHLWXQJGHU8QUXKHQ ablesen. Während die Organisation Gehlen am 29. Juni über den Einsatz der Roten Armee nur wenig berichten konnte und sich hinsichtlich des Ablaufes XQGGHV$XVPD‰HVGHU8QUXKHQDXIGLH)HVWVWHOOXQJEHVFKUlQNWHGDVVGLH (UKHEXQJࡐGLHJHVDPWH=RQH´HUIDVVWKlWWHVLQGLP$EVFKOXVVEHULFKWXPIDVVHQGH$QJDEHQ EHU 7UXSSHQEHZHJXQJHQ HQWKDOWHQ GLH PLW HLQHU DXVIKUOLFKHUHQ 'DUVWHOOXQJ GHV $XIVWDQGHV DX‰HUKDOE %HUOLQV HLQKHUJLQJHQ 'LH ,QIRUPDWLRQHQ EDVLHUHQ IU GLH 9RUJHVFKLFKWH GHU 8QUXKHQ IDVW YROOVWlQGLJ auf den Meldungen der vergleichsweise kleinen Generalvertretung B, deren Erkenntnisse am 29. Juni in der Zentrale vorlagen.162 Die Darstellung der (UHLJQLVVHLQ2VWEHUOLQJHKWLQZHVHQWOLFKHQ7HLOHQDXIGLH$QIDQJ-XOLEHUDUEHLWHWH 9HUVLRQ GHV HUZlKQWHQ %HIUDJXQJVEHULFKWHV ]XUFN (V PXVV offen bleiben, weshalb sich die Organisation Gehlen bei der Abfassung LKUHV$EVFKOXVVEHULFKWHV LQ GLHVHQ ]HQWUDOHQ 3XQNWHQ QXU DXI GLHVH EHLGHQ Quellen stützte. Denkbar wäre, dass abgesehen von der Generalvertretung B GLHEULJHQ$X‰HQVWHOOHQNHLQHIUGLHVH)UDJHQHLQVFKOlJLJHQ,QIRUPDWLRQHQ liefern konnten. Dies wiederum würde die geringe Leistungsfähigkeit der vorhandenen Netze bestätigen. Im Gegensatz zur Berichterstattung über die Lage in der DDR vor dem 17. Juni, die sich vor allem auf die sowjetische Deutschlandpolitik konzentrierte,

  $EVFKOXVVEHULFKW6%$UFK%%ODWW   =XGHQ5HDNWLRQHQGHU6(')KUXQJXQGGHV6LFKHUKHLWVDSSDUDWHV)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;7RUVWHQ 'LHGULFK:DIIHQJHJHQGDV9RON'HU-XQLLQGHU''50QFKHQ7RUVWHQ'LHGULFK:DIIHQJHJHQ GDV9RONRGHU0DFKWXQG2KQPDFKWGHV0LOLWlUV1HXH$VSHNWH]XU1LHGHUVFKODJXQJGHV9RONVDXIVWDQGHV LQ.OH‰PDQQ6W|YHU6²

50

  hEHUVLFKW%$UFK%   /HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH%HULFKW$XIWUlJH/DJH%HUOLQ%1'$UFKLY

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bezog die Organisation Gehlen bei der Untersuchung des Aufstandes jene inneren Entwicklungen ein, die zu den Unruhen geführt hatten. Nunmehr wurde auch die Bevölkerung als Akteur berücksichtigt. So führt der Bericht YRP  -XQL DQ GDVV GLH 8QUXKHQ ࡐNHLQ VSRQWDQHU $NW´ JHZHVHQ VHLHQ sondern Ergebnis eines sich seit dem Frühjahr 1952 steigernden Unmutes, der frühzeitig auf einen Legitimationsverlust des SED-Regimes hingewieVHQ KDEH$OV %HOHJ ZHUGHQ %HLVSLHOH IU 3URWHVWH XQG :LGHUVHW]OLFKNHLWHQ zwischen Frühjahr 1952 und den ersten beiden Monaten des Jahres 1953 angeführt, die möglicherweise von Quellen der Organisation Gehlen erfasst und für die Abfassung des Berichtes aus den Karteien zusammengetragen wurden.163 Bekräftigt wird diese Argumentation mit angeblich vorliegenden ࡐ%HULFKWHQDXV.DUOVKRUVW´DXVGHQHQGLH=XVSLW]XQJGHU/DJHEHUHLWV)HEUXDU und März 1953 zu erkennen gewesen sei. Dass derartige Ausarbeitungen WDWVlFKOLFKMHPDOVLQ3XOODFKJHOHVHQZXUGHQLVW²XQJHDFKWHWGHURSHUDWLYHQ Möglichkeiten – wenig glaubhaft, da die Berichterstattung der Sowjetischen Kontrollkommission nach Moskau die innere Krise in der DDR bis Mai 1953 kaum berücksichtigte.164hEHUGLH(QWZLFNOXQJHQLQGHQ:RFKHQXQPLWWHOEDU vor dem Aufstand liefert der Bericht nur allgemeine Angaben, da noch keine NRQNUHWHQ ,QIRUPDWLRQHQ LQ 3XOODFK YRUODJHQ ,P $EVFKOXVVEHULFKW ZHUGHQ GDQQ ]ZDQ]LJ 6WUHLNV XQG 8QUXKHQ DQJHIKUW GLH VLFK LP 9RUIHOG GHV  Juni ereignet hatten und im Zuge der Befragung von Demonstranten bekannt geworden waren.165 :DUXP GLH DOOJHPHLQH 8Q]XIULHGHQKHLW VFKOLH‰OLFK LQ HLQHQ $XIVWDQG XPschlug, bleibt im ersten Bericht noch vage. Dass ein Zusammenhang mit der Normenfrage bestand, wird zwar angedeutet, jedoch erst im Abschlussbericht zutreffend dargelegt.166 Einen zweiten wesentlichen Faktor,

GHUGLH(VNDODWLRQGHU3URWHVWHEHI|UGHUWHPDFKWHGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ LQGHU9HUXQVLFKHUXQJGHV6WDDWVXQG3DUWHLDSSDUDWHVDXV+LHUZDUHQGLH $XVZLUNXQJHQGHVࡐ1HXHQ.XUVHV´HQWVFKHLGHQGYRQGHPGLH2UJDQLVDWLRQ Gehlen weiterhin glaubte, er sei der SED-Führung am 28. Mai vom Sowjetischen Hochkommissar befohlen worden. 167 7URW] LKUHU UDVVLVWLVFKHQ hEHUIRUPXQJ ZHUGHQ GLH )ROJHQ GHV DQJHRUGQHWHQ .XUVZHFKVHOV IU GHQ 6WDDWVXQG3DUWHLDSSDUDWHV]XWUHIIHQGGDUJHOHJW Die öffentliche Selbstanklage und Selbsterniedrigung ist dem slawischen Volkscharakter schon seit altersher nicht fremd; sie ist vielmehr ein Bestandteil seines Wesens. Sie ist von den Sowjets zur sogenannten „Selbstkritik“

weiterentwickelt

worden.

Für

den

deutschen

und

west-

lichen Menschen kommt eine solche öffentliche Selbsterniedrigung aber der Vernichtung der Persönlichkeit gleich. Wer sie begeht, verliert jegliche Achtung seiner Mitmenschen. [...] Semjonow [zog] durch die abrupte Bekanntgabe der „neuen Linie“ [...] den bestehenden Staatsund Parteiapparat den Boden unter den Füssen weg. Als er die Vertreter des Regimes vom Minister bis zum Zellenleiter [sic!] aber auch noch zur

persönlichen,

öffentlichen

Selbsterniedrigung

zwang,

machte

er

sie zum Freiwild der empörten Massen. Dass ein Mann wie Semjonow einen so entscheidenden Fehler begehen konnte, ist erstaunlich. Semjonow

beging

offensichtlich

noch

einen

weiteren

Fehler.

Er

ist

hauptsächlich Diplomat und zu wenig Verwaltungsfachmann um zu wissen, dass ein aufgeblähter und schwerfälliger Apparat wie die staatliche und parteiorganisatorische Befehlsmaschinerie der SBZD nicht schnell und geschmeidig reagieren kann. [...] Semjonow kam wahrscheinlich mit seinen Maßnahmen des „Ventilöffnens“ zu spät.168

  .RQNUHWZHUGHQQXU3URWHVWHDXIGHP)OXJSODW]6FKRUIKHLGH]XU-DKUHVZHQGHHUZlKQW'LHDQGHUHQ Beispiele sind weder örtlich noch zeitlich genau zu fassen und daher nicht nachprüfbar. Organisation Gehlen, MelGXQJ1Uࡐ.XU]RULHQWLHUXQJ´6²965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW%DQG%ODWW² 164

Scherstanoj, Sowjetische Deutschlandpolitik, S. 513.

  $EVFKOXVVEHULFKW6²%$UFK%%ODWW²VRZLHGLH(UZlKQXQJGLHVHU3URWHVWHLQ$XVDUEHLWXQJ $QRQ\P%HULFKWࡐ'HU$XVJDQJVSXQNWIUGLH8QUXKHQLQ2VWEHUOLQ´XQGDWLHUW>$QIDQJ-XOL@6%1'$UFKLY 7361, Blatt 266. 166 Der Bericht vom 29. Juni verweist darauf, dass es eine am 1. Mai verkündete Normenerhöhung zu UnzufriedenKHLWXQWHUGHQ$UEHLWHUQIKUWH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ0HOGXQJ1Uࡐ.XU]RULHQWLHUXQJ´6965HJLVWUDWXU%XQGHVkanzleramt, Blatt 42. Ausschlaggebend war jedoch die nicht erfolgte Zurücknahme der am 28. Mai verkündeten NormenHUK|KXQJQDFKGHP(UODVVGHV1HXHQ.XUVHV$QIDQJ-XQLXQGGLHVLFKGDUDQHQW]QGHQGHQ3URWHVWHLQ2VWEHUOLQ ZLHGHU$EVFKOXVVEHULFKWULFKWLJGDUVWHOOW$EVFKOXVVEHULFKW6VRZLH6²%$UFK%%ODWWXQG²

52

Die Schlussfolgerung, dass das Zusammentreffen der Unzufriedenheit in der %HY|ONHUXQJ PLW GHP (UODVV GHV ࡐ1HXHQ .XUVHV´ VFKOLH‰OLFK GHQ $XIVWDQG KHUEHLJHIKUWKDEHVWDQGLP(LQNODQJPLWGHU]HLWJHQ|VVLVFKHQ3UHVVHXQG Rundfunkberichterstattung und lag dem Kanzleramt bereits aus anderen Quellen YRU+LQVLFKWOLFKGHU0RWLYHGLH]XP(UODVVGHVࡐ1HXHQ.XUVHV´IKUWHQEOLHE   $EVFKOXVVEHULFKW6%$UFK%%ODWW   2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ0HOGXQJ1Uࡐ.XU]RULHQWLHUXQJ´6²965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW %DQG%ODWW²

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die Organisation Gehlen aber bei ihrer bisherigen Argumentation. So stand ZHLWHUKLQIHVWGDVVGLHVHUࡐHLQHYRUZLHJHQGDX‰HQSROLWLVFKH=LHOVHW]XQJ´KDWWH Er strebt an, die westliche Konzeption einer politischen, wirtschaftlichen und insbesondere militärischen Einbeziehung der Bundesrepublik in ein von den USA dirigiertes, betont antisowjetisches System durch eine innerdeutsche Annäherung unter dem Deckmantel der fiktiven Einheitskonstruktion von Potsdam zu zerstören.169

Diese Einschätzung ist erstaunlich, da beide Berichte auf die prekäre wirtschaftliche und innenpolitische Situation sowie deren Rückwirkung auf GLH %HY|ONHUXQJ LP 9RUIHOG GHV$XIVWDQGHV HLQJHKHQ XQG VLH DOV 8UVDFKHQ GHV$XIVWDQGHVHUNDQQWHQ'LH9RUVWHOOXQJGDVVVROFKH(QWZLFNOXQJHQDOOHLQ die Stabilität der Regime im sowjetischen Machtbereich ernsthaft gefährden N|QQWHQ OLH‰ VLFK DEHU ZHLWHUKLQ QLFKW LQ GDV :HOWELOG GHU 2UJDQLVDWLRQ Gehlen einpassen. Entsprechend hebt der Abschlussbericht hervor, dass auch die offensichtliche krisenhafte Entwicklung in der DDR die Aufhebung der verschiedenen die radikale Zwangsbolschewisierung der Sowjetzonenrepublik zum Ziel habenden Maßnahmen vielleicht beschleunigt haben; die Veranlassung für dieses Einlenken der sowjetzonalen Parteiund Regierungsstellen waren sie sicher nicht.170

Für die Entstehung des Aufstandes war der Erlass des Neuen Kurses von zentraler Bedeutung. Wie aus der Wochenübersicht vom 10. Juni 1953 ersichtlich, lagen der Organisation Gehlen darüber keine Informationen vor. Im Abschlussbericht wurden später eingegangene Meldungen angeführt, die den Eindruck erwecken konnten, der Dienst hätte den Kurswechsel verfolgen können. Doch die Meldungen über eine Änderung der Wirtschaftspolitik, die Zurückstellung der vormilitärischen Ausbildung oder der Baustopp von 5VWXQJVSURMHNWHQODJHQIDVWDXVVFKOLH‰OLFKQDFKGHP-XQLLQGHU=HQWUDOH vor.171$EJHVHKHQYRQGHU]HLWOLFKHQ9HU]|JHUXQJ]HLJHQGLHVH%HLVSLHOHQXU

GDVVGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ9HUVDW]VWFNHGHU.XUVlQGHUXQJDXIJHIDQJHQ hatte, die zur nachträglichen Bestätigung herangezogen werden konnten. Die eigentliche Darstellung der Ereignisse in der DDR während des 9RONVDXIVWDQGHVHUVFK|SIWVLFKLQHLQHUPLWXQWHUPLQXWL|VHQ&KURQRORJLHGHU (UHLJQLVVH%UHLWHQ5DXPQLPPWGLH%HVFKUHLEXQJGHUlX‰HUHQ$EOlXIHGHU Kundgebungen in Ostberlin bis zum Nachmittag des 17. Juni ein. Erkenntnisse EHU5HDNWLRQHQLQQHUKDOEGHU6WDDWV3DUWHLXQG6LFKHUKHLWVDSSDUDWHVGHU ''5 VRZHLW VLH QLFKW DXV 3UHVVH XQG 5XQGIXQN EHNDQQW JHZRUGHQ ZDUHQ enthält der Bericht nicht.172 Hinsichtlich der Ausbreitung des Aufstandes über Berlin hinaus war es immerhin gelungen, Unruhen in 70 Orten festzustellen.173 $XV GHP *UR‰UDXP +DOOH/HLS]LJ0DJGHEXUJ HLQHU GHU Schwerpunktregion des Aufstandes, konnte die Organisation Gehlen recht ausführliche Angaben über Zahl und Herkunft der Demonstranten, den Ablauf der Kundgebungen und sowie den Einsatz des sowjetischen Militärs und der 9RONVSROL]HLPDFKHQ$OOHUGLQJVZDUHQVROFKH$QJDEHQ]XP7HLOGHU3UHVVH zu entnehmen.174 Weniger ausführliche Berichte lagen über die Ereignisse in der südwestlichen DDR und Brandenburg vor. Aus entfernteren Regionen, ZLH EHLVSLHOVZHLVH *|UOLW] JDE HV QXU 7HLOHUNHQQWQLVVH ZLH ࡐ*HIlQJQLV wird von Demonstranten erstürmt, Häftlinge werden befreit, Bürgermeister ZLUG VHLQHV $PWHV HQWKREHQ´ YRU175 $XV GLHVHQ $QJDEHQ OLH‰ VLFK HLQ ]X treffendes Bild über die unterschiedliche Intensität des Aufstandes ableiten, der im Gegensatz zur Entwicklung in Berlin in einigen Orten sogar zur YRUUEHUJHKHQGHQ (QWPDFKWXQJ GHV 6WDDWV XQG 3DUWHLDSSDUDWHV JHIKUW KDWWH(LQHWLHIHUJHKHQGH$QDO\VHGHU=LHOHXQG$NWHXUHGHV$XIVWDQGHVOLH‰ dieser Informationsstand aber nicht zu. Da detailliertere Angaben über die Unruhen nur aus den Industriezentren vorlagen, identifizierte der Bericht GLH ࡐYRP EUJHUOLFKHQ 6LFKHUKHLWVGHQNHQ IUHLH $UEHLWHUVFKDIW´ DOV 7UlJHU des Aufstandes. Die Beteiligung anderer Bevölkerungsteile wird mit dem 9HUZHLV DXI HLQH ࡐ9RONVHUKHEXQJ´ XQWHUVWHOOW GHU VLFK GLH 0LWWHOVFKLFKW QXU   $OVHLQ]LJH$XVQDKPHLVWGLHHUZlKQWH=XVDPPHQNXQIWYRQ5HGDNWHXUHQGHU''53UHVVHDP9RUPLWWDJ GHV-XQLDQ]XVHKHQDXIZHOFKHU+HUPDQQ$[HQGLHRIÀ]LHOOH,QWHUSUHWDWLRQGHU3DUWHLIKUXQJEHUGLH9RU JlQJHEHNDQQWJDE$EVFKOXVVEHULFKW6%$UFK%%ODWW 173 Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung kam es in mehr als 700 Orten im Umfeld des 17. Juni zu Unruhen. Kowalczuk, 17. Juni, S. 284.

  $EVFKOXVVEHULFKW6%$UFK%%ODWW   $EVFKOXVVEHULFKW6²%$UFK%%ODWW²   $EVFKOXVVEHULFKW6²%$UFK%%ODWW²VRZLH/HLWHU*9% +DQV:RUJLW]N\ DQ=HQWUDOH Bericht Aufträge Lage Berlin, 24.06.1953, S. 2–3, BND-Archiv 7361, Blatt 286–287.

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174 Beispielsweise die Darstellung des Aufstandes im Raum Halle: Wie ich mich schäme, Der Spiegel, 01.07.1953, S. 6–8.   $EVFKOXVVEHULFKW6%$UFK%%ODWW

55

zögerlich angeschlossen habe.176hEHUGLH=LHOHGHU$XIVWlQGLVFKHQJLEWGHU Bericht überhaupt keine Auskunft. Immerhin wird festgestellt, dass es einen ࡐhEHUJDQJ YRQ UHLQ |NRQRPLVFKHQ ]X SROLWLVFKHQ )RUGHUXQJHQ´ JHJHEHQ habe. Einem aufmerksamen Radiohörer oder Zeitungsleser hätten die Berichte der 2UJDQLVDWLRQ*HKOHQEHUGLH9RUJHVFKLFKWHXQGGHQ$EODXIGHV-XQLNDXP neue Erkenntnisse bieten können. Der Wert der vorgelegten Untersuchungen bestand allein in der ausführlichen Darlegung der militärischen Entwicklung. Die Einschätzungen über die sowjetische Deutschlandpolitik, die einer fundierten Grundlage entbehrten, sind eher als Bestätigung des in der Leitung der 2UJDQLVDWLRQ*HKOHQRKQHKLQEHVWHKHQGHQ%LOGHVVRZMHWLVFKHU$X‰HQSROLWLN anzusehen.

  $EVFKOXVVEHULFKW6²%$UFK%%ODWW²2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ0HOGXQJ1U ࡐ.XU]RULHQWLHUXQJ´6965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW%DQG%ODWW

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4 Manöverkritik Während der Unruhen des 17. Juni 1953 sorgte die Unfähigkeit der Organisation Gehlen, Nachrichten aus der DDR zu beschaffen, für Konflikte PLW GHP &,$6WDE 9LHU :RFKHQ VSlWHU EHULFKWHWH -DPHV &ULWFKILHOG MHGRFK QDFK:DVKLQJWRQGLH/HLVWXQJGHU$XINOlUXQJLQ3XOODFKVHLࡐHLQLJHUPD‰HQ ]XIULHGHQVWHOOHQGZHQQDXFKQLFKWKHUDXVUDJHQG´JHZHVHQHVVHLJHOXQJHQ ࡐDXVUHLFKHQGH ,QIRUPDWLRQHQ IU HLQ NRQWUROOLHUWHV 2UGHU RI %DWWOH /DJHELOG´ zu erheben.177 *HQHUDO 7UXVFRWW &KHI GHU &,$ LQ 'HXWVFKODQG EHUPLWWHOWH *HKOHQVHLQHQ'DQNIUGLHࡐJUR‰DUWLJHQ2UGHURI%DWWOH%HULFKWHLP1DFKJDQJ GHU(UHLJQLVVHYRP-XQLLQ%HUOLQ´178 Beide Einschätzungen beziehen sich auf die militärische Berichterstattung EHU GHQ 9RONVDXIVWDQG GLH ZLH JH]HLJW ]X GHQ 6WlUNHQ GHU 2UJDQLVDWLRQ Gehlen gehörte. Eingehende Meldungen aus anderen Bereichen wurden an den amerikanischen Stab weitergeleitet.179 Bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit spielten sie offensichtlich keine Rolle. Dass die Bewertung der amerikanischen Seite angesichts der schwierigen Nachrichtenbeschaffungslage später nicht kritischer ausfiel, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass auch die amerikanischen Geheimdienste in den 7DJHQ QDFK GHP  -XQL NDXP LQ GHU /DJH ZDUHQ ,QIRUPDWLRQHQ EHU GLH 9RUJlQJHLQGHU''5]XEHVFKDIIHQ180 Auch wenn die Ergebnisse der nachträglichen Informationsbeschaffung zufriedenstellend gewesen sein mögen, belastete das Ausbleiben zeitnaher   &KLHIRI%DVH3XOODFKDQ&KLHI((LQ5XIIQHU,QWHOOLJLHQFH3DUWQHUVKLS%DQG61$5$   7UXVFRWWDQ*HKOHQ%1'$UFKLY%ODWW,QZLHIHUQGLH0LWWHLOXQJYRQ7UXVFRWWDOV Ausdruck echter Wertschätzung zu lesen ist oder vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen der CIA und der Organisation Gehlen im Sommer 1953 nur eine freundliche Geste war, muss dahingestellt bleiben. 179 Die politischen Meldungen wurden als EGL-Meldungen an die CIA und den britischen Nachrichtendienst weitergeleitet, BND-Archiv 121285.   2VWHUPDQQ8SULVLQJVRZLH)X‰QRWH'LHVH3UREOHPHZDUHQ]XPLQGHVWLP1DFKJDQJGHU8QUXKHQDXFK LQQHUKDOEGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQEHNDQQWJHZRUGHQ,QGHPDQVHLQHQ9RUJHVHW]WHQJHULFKWHWHQ%HJOHLWVFKUHLEHQ ]XP(LQVDW]EHULFKWHUZlKQW*UDEHULQ%H]XJDXIGLH&,$GDVࡐHLJHQH9HUVDJHQZlKUHQGG8QUXKHQ´*UDEHUDQ /HLWHU$XINOlUXQJ %HJOHLWVFKUHLEHQ]XP(LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW

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Meldungen vorübergehend die Beziehungen zwischen der Organisation Gehlen und der CIA. Das militärische Aufklärungsnetz in der DDR war mit erheblichem finanziellem und logistischem Aufwand aufgebaut worden, XP HLQH P|JOLFKVW OFNHQORVH hEHUZDFKXQJ GHU VRZMHWLVFKHQ 6WUHLWNUlIWH auch in Krisenzeiten zu gewährleisten. Diese Erwartungen erfüllte die Organisation Gehlen während des 17. Juni nicht. Aus den Quellen lässt sich ablesen, dass der CIA-Stab den Nachrichtenausfall nicht hinnahm, sondern auf die Beibringung militärischer Erkenntnisse aus der DDR drängte XQG VLFK EHU HLQJHOHLWHWH 0D‰QDKPHQ XQG HU]LHOWH )RUWVFKULWWH EHL GHU :LHGHUKHUVWHOOXQJ GHU 9HUELQGXQJHQ EHULFKWHQ OLH‰ 181 Was zwischen der Leitung und dem CIA-Stab während des Aufstandes besprochen wurde, ist bei der gegenwärtigen Quellenlage nicht zu beantworten. Auch für die spätere Zeit finden sich in den vorhandenen Aufzeichnungen keine Hinweise auf eine Einsatznachbereitung. Dass aber entsprechende Gespräche stattgefunden haben müssen, belegt eine am 22. Juni erlassene Anweisung Gehlens. In den einzelnen Dienststellen durften die aufgetretenen 3UREOHPH QLFKW LP 5DKPHQ GHU EHVWHKHQGHQ HQJHQ $UEHLWVNRQWDNWH PLW GHQ &,$9HUELQGXQJVRIIL]LHUHQ EHVSURFKHQ ZHUGHQ *HKOHQ EHKLHOW VLFK die Klärung aller Fragen mit Critchfield persönlich vor.182 'LHVHV 9HUERW GHXWHW GDUDXI KLQ GDVV GLH ]X HU|UWHUQGHQ 3XQNWH EHU GDV 0D‰ HLQHU normalen Einsatznachbereitung hinausgingen. Ein weiteres Indiz dafür, GDVV HLQH XPIDVVHQGH LQWHUQH 3UREOHPGLVNXVVLRQ VWDWWJHIXQGHQ KDEHQ dürfte, ist das Drängen des CIA-Stabes auf Erstellung eines ausführlichen Einsatzberichtes. Bei der Abfassung war die Organisation Gehlen bemüht, HLQ P|JOLFKVW GLFKWHV 0HOGXQJVELOG YRU]XOHJHQ XQG GLH 9HU]|JHUXQJHQ in der Nachrichtenbeschaffung zu erklären.183 Es ist zu bezweifeln, dass GLH GRUW IRUPXOLHUWHQ 7KHVHQ QDFK GHQHQ HLQH %HULFKWHUVWDWWXQJ EHU GHQ 9RONVDXIVWDQG ࡐDX‰HUKDOE GHU QDFKULFKWHQGLHQVWOLFKHQ =XVWlQGLJNHLW´ GHU Organisation Gehlen gelegen habe und in Krisenfällen das Ausbleiben von 0HOGXQJHQ LQ GHQ HUVWHQ 7DJHQ DOV QRUPDO DQ]XVHKHQ VHL GLH XQJHWHLOWH Zustimmung des amerikanischen Stabes gefunden haben.184   ' 6LHJIULHG*UDEHU 7KHVHQ]XGHQMQJVWHQ(UHLJQLVVHQLQGHU2VW]RQH6 BND-Archiv 120100, Blatt 850.   G (EHUKDUG%OXP 3URWRNROO*UXSSHQOHLWHUEHVSUHFKXQJ6%1'$UFKLY%ODWW 183

Siegfried Graber, Erinnerungsbericht, S. 49, BND-Archiv Nachlass 4, Band 20.

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW

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Inwiefern die von der Organisation Gehlen erbrachten Erkenntnisse innerhalb des amerikanischen Sicherheitsapparates bei der Beurteilung des 17. Juni eine Rolle spielten, ist aus den vorliegenden BND-Quellen nicht schlüssig zu rekonstruieren. Einer von Critchfield vorgebrachten Beschwerde kann man LPPHUKLQHQWQHKPHQGDVVGLH%HULFKWHDXV3XOODFKLKUH(PSIlQJHUDX‰HU halb der CIA infolge organisatorischer Schwierigkeiten nicht erreichten. Die für das amerikanische Armeehauptquartier USAREUR bestimmten Meldungen ZXUGHQ ELV ]XP  -XQL  IHKOJHOHLWHW ² RIIHQEDU RKQH GDVV GLHV aufgefallen wäre. Daraus lässt sich ableiten, dass die amerikanischen Streitkräfte nicht auf die Erkenntnisse der Organisation Gehlen angewiesen waren, sondern auf andere Quellen zurückgriffen.185 In der amerikanischen %RWVFKDIW LQ %RQQ NDPHQ GLH %HULFKWH DXV 3XOODFK ]ZDU DQ ZXUGHQ DEHU aus unbekannten Gründen nicht nach Washington weitergeleitet, während Dienststellen in Berlin diese Meldungen nicht recht verwerten konnten. /HW]WHUHVZDUZHQLJHUDXIRUJDQLVDWRULVFKH3UREOHPHVRQGHUQDXIGLH4XDOLWlW GHU %HULFKWH ]XUFN]XIKUHQ 'LHVH VHLHQ IU 1LFKW0LOLWlUV ࡐQRW DOZD\V LQ XVDEOHIRUP´JHZHVHQGDKDXSWVlFKOLFKDXIEHUHLWHWHV5RKPDWHULDOXQGQLFKW die sonst üblichen zusammenfassenden Lageanalysen abgesetzt wurden.186 +LQVLFKWOLFKGHU&,$%HULFKWHUVWDWWXQJLVW]XPLQGHVWHLQH3DUDOOHOLWlWPLWGHQ LQ 3XOODFK DQJHIDOOHQHQ (UNHQQWQLVVHQ HUNHQQEDU 'LH LP &,$%HULFKW YRP 24. Juni enthaltenen Informationen über den Einsatz der sowjetischen Armee LP *UR‰UDXP %HUOLQ GHFNHQ VLFK PLW GHQ $QJDEHQ LP :RFKHQEHULFKW GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ YRP JOHLFKHQ 7DJ187 Ob diese Meldungen tatsächlich DXV3XOODFKVWDPPWHQOlVVWVLFKJHJHQZlUWLJQLFKWEHOHJHQ hEHU GHQ 8PIDQJ GHU ,QIRUPDWLRQHQ ZHOFKH GLH 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ DQ die Bundesregierung weiterleitete, liegen widersprüchliche Angaben vor. Gesichert ist, dass die wöchentlichen Lageberichte nach Bonn abgesetzt wurden. Daneben ist aus der Ablage des Kanzleramtes ersichtlich, dass am 25. XQG-XQL$XVDUEHLWXQJHQDXV3XOODFKHLQJLQJHQXQGGHU$EVFKOXVVEHULFKW zu einem unbekannten Zeitpunkt vorgelegt wurde. Zwei weitere Berichte unbekannten Inhalts, die allerdings erst in der zweiten Augusthälfte übersandt

  &KLHIRI%DVH3XOODFKDQ&KLHI((LQ5XIIQHU,QWHOOLJHQFH3DUWQHUVKLS%DQG61$5$

worden waren, wurden noch im gleichen Jahr wieder vernichtet. 188 Andere 0HOGXQJHQGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQEHUGHQ9RONVDXIVWDQGVLQGGHU]HLWQLFKW nachweisbar. Aus einer internen Aufzeichnung vom 17. Juni geht jedoch hervor, dass Gehlen persönlich für die Unterrichtung des Kanzleramtes sorgte.189 Graber betonte später, das Kanzleramt sei zumindest über die militärischen Entwicklungen in der DDR laufend unterrichtet worden. 190 Es ist allerdings zweifelhaft, dass er persönliche Kenntnis über die Meldungsweitergabe an die Bundesregierung haben konnte. Die gesamte Berichterstattung nach Bonn wurde über das Leitungsbüro Gehlens abgewickelt. Dass Graber die Unterrichtung des Kanzleramts unterstrich, hatte möglicherweise einen anGHUHQ*UXQG$QJHVLFKWVGHUIUGHQ$SULODYLVLHUWHQhEHUQDKPHGHU Organisation Gehlen in den Bundesdienst war die erstmals in seiner Rede vor 0LWDUEHLWHUQGHU$X‰HQVWHOOHQDP-XOLJHWURIIHQH$XVVDJHYLHOOHLFKWQXUHLQH Art moralische Aufrüstung seiner Zuhörer.191 Der zeitliche Zusammenhang zwischen den eingehenden Agentenmeldungen und der nachweisbar einsetzenden Berichterstattung legt nach gegenwärtiger Aktenlage den Schluss nahe, dass die politische Führung in Bonn wohl tatsächlich erst eine Woche QDFKGHP-XQL%HULFKWHDXV3XOODFKHUKLHOW192 Aus Sicht des Kanzleramtes dürfte es in der Sache nicht sehr er heblich gewesen sein, ob Lageeinschätzungen des Gehlen-Dienstes vorlaJHQ RGHU QLFKW 0LW GHP %XQGHVDPW IU 9HUIDVVXQJVVFKXW] XQG GHP Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst verfügte die Bundesregierung über zwei Nachrichtendienste, die eingehend und zeitnah über die Lage in der DDR zu berichten vermochten.193 Flankiert wurde diese Berichterstattung durch das

  $NWHQLQKDOWVYHU]HLFKQLV965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW%DQGRKQH%ODWW]lKOXQJ   *HKOHQVROOGDV.DQ]OHUDPWࡐ]7WHOHIRQLVFK´XQWHUULFKWHWKDEHQG (EHUKDUG%OXP %HULFKWHUVWDWWXQJ wegen besonderer Lage, 17.06.1953, BND-Archiv 7361, Blatt 261.   ' 6LHJIULHG*UDEHU 7KHVHQ6%1'$UFKLY%ODWW 191 Andere Quellen, in denen eine Unterrichtung des Kanzleramtes thematisiert wird, gehen ebenfalls auf Graber ]XUFNXQGULFKWHWHQVLFKDQHLQHQJU|‰HUHQ0LWDUEHLWHUNUHLV(LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW 192 Die am 29. Juni übersandte Kurzorientierung liefert weitere Indizien, dass es sich um den ersten zusammenfassenden Bericht handelt. Erstens sind keine Bezüge zu früheren Unterrichtungen erkennbar, zweitens berücksichtigt die Darstellung alle Aspekte des Aufstandes, die möglicherweise bereits Gegenstand vorheriger Meldungen hätten sein N|QQHQXQGGULWWHQVZLUGGLH9RUODJHHLQHUZHLWHUHQࡐDXVIKUOLFKHQ8QWHUVXFKXQJ´DQJHNQGLJW2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ 0HOGXQJ1Uࡐ.XU]RULHQWLHUXQJ´6965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW%DQG%ODWW

  &KLHIRI%DVH3XOODFKDQ&KLHI((LQ5XIIQHU,QWHOOLJLHQFH3DUWQHUVKLS%DQG61$5$   hEHUVLFKW6²%$UFK%%ODWW²VRZLH&,$,QWHOOLJLHQFH0HPRUDQGXP ࡐ,QGLFDWLRQVRI6RYLHW,QWHQWLRQVLQ(XURSH´DEJHGUXFNWLQ2VWHUPDQQ8SULVLQJ6²KLHU6

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  )UGLH%XQGHVUHJLHUXQJJDOWGLH''5DOV,QODQGZHVKDOEGDV%XQGHVDPWIU9HUIDVVXQJVVFKXW]DXFK |VWOLFKGHU(OEHDXINOlUWH%I9XQG2UJDQLVDWLRQ*HKOHQE]ZGHUVSlWHUH%1'EHPKWHQVLFKELV(QGHGHU 1950er Jahre um eine Zuständigkeitsabgrenzung.

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Gesamtdeutsche Ministerium, das Bundespresseamt sowie das Auswärtige Amt.194 'HU 9HUIDVVXQJVVFKXW] VHW]WH DOOHLQ DP  -XQL  GUHL %HULFKWH an das Kanzleramt ab, die durch Ausarbeitungen am Folgetag sowie einer ersten umfassenden Analyse des Aufstandes am 20. Juni ergänzt wurden. Am 2. Juli lag der Abschlussbericht aus Köln vor.195 Die Berichterstattung des Heinz-Dienstes setzte am 18. Juni ein, ist jedoch im Kanzleramt nicht vollständig überliefert. Diese umfassende zeitnahe Unterrichtung dürfte dazu beigetragen haben, dass die später übersandten Ausarbeitungen der 2UJDQLVDWLRQ*HKOHQLP*HJHQVDW]]XP9HUIDVVXQJVVFKXW]XQGGHP+HLQ] Dienst im Kanzleramt nur wenig Beachtung fanden. Deren Analysen wurden YRQ 6WDDWVVHNUHWlU 2WWR /HQ] JHOHVHQ XQG DQVFKOLH‰HQG DQ +DQV *ORENH zur Kenntnisnahme übersandt.196 Die beiden Ende Juni 1953 übersandWHQ %HULFKWH DXV 3XOODFK ZXUGHQ QXU YRQ *ORENH ]XU .HQQWQLV JHQRPPHQ während der Abschlussbericht nur Sichtungsvermerke von dessen Mitarbeiter und Leiter des für Nachrichtendienste zuständigen Referates im Kanzleramt, Karl Gumbel, aufweist.197 Abgesehen von der zeitnahen Unterrichtung durch andere Dienste, zu denen die Organisation Gehlen in scharfer Konkurrenz stand, unterscheidet sich die %HULFKWHUVWDWWXQJGHV%I9KLQVLFKWOLFKGHU4XDOLWlWGHUHUKREHQHQ,QIRUPDWLRQHQ wie auch in den Bewertungen deutlich von den Schlussfolgerungen der 2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ:lKUHQGVLFKGLH$QDO\VWHQLQ3XOODFKEHPKWHQGLH Ereignisse in der DDR in den Kontext der vermuteten deutschlandpolitischen .RQ]HSWHGHUVRZMHWLVFKHQ6WDDWVXQG3DUWHLIKUXQJHLQ]XRUGQHQXQGDXV HLJHQHQ 4XHOOHQ QXU EHU PLOLWlULVFKH 9RUJlQJH EHULFKWHQ NRQQWH IRNXV VLHUWH GDV %I9 DXI GLH LQQHQSROLWLVFKHQ 9RUJlQJH LQ GHU ''5 XQG HUNOlUWH GHQ9RONVDXIVWDQG]XWUHIIHQGYRUGHP+LQWHUJUXQGGHUJHVHOOVFKDIWOLFKHQXQG

wirtschaftlichen Lage.198 'HU 9HUIDVVXQJVVFKXW] YHUIJWH ² GHQ %HULFKWHQ QDFK ]X XUWHLOHQ ² DXJHQVFKHLQOLFK EHU DXVVDJHNUlIWLJH 9HUELQGXQJHQ LQ die SED, das Ministerium für Staatssicherheit und die Blockparteien. Das ermöglichte eine realistische Einschätzung der Lage. Auffällig ist zudem, GDVV GDV %I9 QDFK 9HUKlQJXQJ GHV $XVQDKPH]XVWDQGHV .RQWDNWH ]X Quellen in Ostberlin aufrechterhalten konnte. So enthält der am Abend des 17. Juni abgefasste Bericht detaillierte Angaben über eine am Nachmittag VWDWWJHIXQGHQH 6LW]XQJ GHV 1'3'3DUWHLYRUVWDQGHV XQG HLQH 6FKLOGHUXQJ GHU9RUJlQJHLP6WDDWVVHNUHWDULDWIU6FKLIIIDKUWGDVYRPVSlWHUHQ&KHIGHU Staatssicherheit, Ernst Wollweber, geleitet wurde.199 Am 18. Juni berichtete GHU9HUIDVVXQJVVFKXW]EHU0D‰QDKPHQGHU6('%H]LUNVOHLWXQJ%HUOLQXQG JDEbX‰HUXQJHQHLQHV)XQNWLRQlUVGHV=HQWUDONRPLWHHVZLHGHU200 Die zahlreichen Angaben über den Ablauf der Kundgebungen und die Stimmung in Ostberlin lassen den Schluss zu, dass neben den politischen Gewährsleuten noch andere Quellen aus dem Ostsektor berichtet hatten. Den gegenwärtig vorliegenden Quellen nach zu urteilen, scheinen die Schwächen des Gehlen-Dienstes im Kanzleramt keine nachteilige Reaktionen hervorgerufen zu haben.201 In den Gesprächen zwischen Gehlen und Globke, die sich nach dem Aufstand erstmals am 7. Juli wieder trafen, wurde den 1RWL]HQ *HKOHQV QDFK ]X XUWHLOHQ GDV 7KHPD QLFKW HUZlKQW $XFK LQ GHQ Aufzeichnungen über die weiteren Begegnungen spielte die Lage in der DDR entweder keine oder nur eine ungeordnete Rolle. 202 Dies legt den Schluss nahe, dass die Bundesregierung an den Ergebnissen der DDR-Spionage DXV 3XOODFK NHLQ YRUUDQJLJHV ,QWHUHVVH KDWWH ]XPDO VLH DXI GLHVHP *HELHW

194 Die Ablage des Bundeskanzleramtes zum 17. Juni besteht aus einem im Bundesarchiv offenen und bislang in GHU965HJLVWUDWXUGHV.DQ]OHUDPWHVJHKHLPHQ7HLOXQGHQWKlOWDOOHHLQVFKOlJLJHQ%HULFKWH1LFKWYHUWUHWHQLVWGLH 8QWHUULFKWXQJGHV$XVZlUWLJHQ$PWHV'HVVHQ(LQVFKlW]XQJHQVLQGLQGHQSXEOL]LHUWHQ$NWHQ]XU$XVZlUWLJHQ3ROLWLN GHU%XQGHVUHSXEOLN'HXWVFKODQG%DQG,6²]XPLQGHVWLQ7HLOHQJUHLIEDU

  %I9:HLWHUH(QWZLFNOXQJXQG(UHLJQLVVHLQ%HUOLQ965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW Band 1, Blatt 18-22.

  $P-XQLOHJWHGHU9HUIDVVXQJVVFKXW]LQVHLQHP0RQDWVEHULFKWHLQHZHLWHUH]XVDPPHQIDVVHQGH$QDO\VH EHUGHQ9RONVDXIVWDQGYRUGLHQHEHQGHP.DQ]OHUDPWDOOHQ0LQLVWHULHQXQGREHUVWHQ%HK|UGHQGHU%XQGHVUHSXEOLN]XJHVWHOOWZXUGH,QIRUPDWLRQHQGHV%XQGHVDPWHVIU9HUIDVVXQJVVFKXW]%$UFK%%ODWW 1015–1061. 196 In zwei Fällen gingen die Berichte auch an Globke und wurden dann Lenz vorgelegt. Die Möglichkeit, dass die Berichte der Organisation Gehlen aus besonderen Geheimhaltungsgründen Lenz vorenthalten wurden scheidet DXVGDLKPDQGHUH%HULFKWHDXV3XOODFKYRUODJHQ/HQ],P=HQWUXPGHU0DFKW6   6LFKWXQJVYHUPHUNH.DUO*XPEHO965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW%DQG%ODWW

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  'LHLQGHU/LWHUDWXUDQJHIKUWH%HKDXSWXQJGDV%I9ZUGHlKQOLFKZLHGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQYRQHLQHP LQV]HQLHUWHQ$XIVWDQGDXVJHKHQEDVLHUWDXIHLQHU1RWL]GHVEULWLVFKHQ1DFKULFKWHQGLHQVWHVÀQGHWDEHULQGHQ%HULFKWHQGHV9HUIDVVXQJVVFKXW]HVNHLQH%HVWlWLJXQJ.RZDOF]XN-XQL6)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6

  %I9:HLWHUH(QWZLFNOXQJGHU(UHLJQLVVHLQ%HUOLQ965HJLVWUDWXU%XQGHVNDQ]OHUDPW Band 1, Blatt 23-27.   ,QHLQHP9HUPHUNEHUHLQ*HVSUlFKPLW*ORENHDPÀQGHWVLFKHLQH1RWL]YRQ*HKOHQGDVV $GHQDXHUHLQHQࡐEHVRQGHUHQ'DQNIUGDVELVKHU*HOHLVWHWH´KDEHDXVULFKWHQODVVHQXQGDQHLQHU=XVHQGXQJGHU ࡐZLFKWLJVWHQSROLWLVFKHQ0HOGXQJHQ´LQWHUHVVLHUWVHL'DVVVLFKGLHVHbX‰HUXQJDXIGLH''5%HULFKWHUVWDWWXQJGHU Organisation Gehlen bezieht, ist nicht erkennbar. Gesprächsnotiz Globke und Gehlen, 22.07.1953, BND-Archiv 1197, Band 1, Blatt 78. Die Signatur BND-Archiv 1197, Band 1 unterliegt einer archivischen Schutzfrist und wurde nur für die UHK freigegeben. 202 Auch in allen weiteren Gesprächsnotizen aus dem Sommer 1953 fehlen jegliche Bezüge zur DDR und zum 17. Juni. BND-Archiv 1197, Band 1.

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DXI DQGHUH $SSDUDWH ]XUFNJUHLIHQ NRQQWH 'LH DXV 3XOODFK EHUPLWWHOWHQ Einschätzungen der sowjetischen Deutschlandpolitik hingegen – wie valide sie auch gewesen sein mögen – dürften in Regierungskreisen als Bestätigung der eigenen Auffassungen wahrgenommen worden sein. Die Annahme, GDVV GLH LQQHQSROLWLVFKHQ 5HIRUPHQ LQ GHU ''5 DXI HLQH 9HUKLQGHUXQJ der Westbindung der Bundesrepublik und eine Störung des Wahlkampfes abziele, deckte sich mit der persönlichen Einschätzung Adenauers, der auch GHU 7KHVH HLQHV LQV]HQLHUWHQ $XIVWDQGHV DQIlQJOLFK DXIJHVFKORVVHQ JHgenüber stand.203 Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, die Unterrichtungen DXV 3XOODFK KlWWHQ GLH :DKUQHKPXQJ GHV .DQ]OHUV JHSUlJW ZlUH HLQH hEHUVFKlW]XQJGHV(LQIOXVVHVGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ=XPHLQHQNRQNXUrierte ihre Berichterstattung mit den Einschätzungen der Ministerien und anderen Nachrichtendienste.204 Zum anderen verfügte sie zwar mit dem Kontakt ]ZLVFKHQ *HKOHQ XQG *ORENH EHU HLQHQ PXWPD‰OLFKHQ HQJHQ DEHU ZHGHU ständigen noch exklusiven Zugang zur Staatsführung. Denkbar ist vielmehr, GDVVVLFKGHU7HQRUGHU%HULFKWHDQGHQ9RUVWHOOXQJHQGHV.DQ]OHUVRULHQWLHUW haben könnte, aber auch das lässt sich gegenwärtig nicht beweisen. Einer QDFKWUlJOLFKHQ8QWHUVXFKXQJGHU)UDJHZHOFKH8UVDFKHQGHP9RONVDXIVWDQG QXQJHQDX]XJUXQGHODJHQPD‰GLH%XQGHVUHJLHUXQJLP6RPPHUNHLQH vorrangige Bedeutung mehr bei. Im Fokus der Aufmerksamkeit stand der Wahlkampf. Der Aufstand und seine Niederschlagung durch die sowjetischen 7UXSSHQWUXJHQGD]XEHLGDVVGDVYRQGHU5HJLHUXQJ$GHQDXHUYHUIROJWHLQnenpolitisch umstrittene Ziel der Westbindung breitere öffentliche Akzeptanz fand und wohl auch den Wahlsieg beförderte.205 $QGHUHUVHLWV UlXPWH *HKOHQ NQDSS GUHL‰LJ -DKUH VSlWHU LPSOL]LW HLQ GDVV GLH %HULFKWHUVWDWWXQJ EHU GHQ 9RONVDXIVWDQG GHU 5HSXWDWLRQ VHLQHV Dienstes im Kanzleramt zumindest nicht förderlich gewesen sei. Ein Faktor, GHU GLH hEHUQDKPH LQ GHQ %XQGHVGLHQVW ELV  YHU]|JHUW KDEH VHL GLH ࡐHUVFKZHUWH >@ QDFKULFKWHQGLHQVWOLFKH $UEHLW´ LP 8PIHOG GHU 8QUXKHQ

203

Lenz, Im Zentrum der Macht, S. 639-648.

  'LHYRQGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQEHUPLWWHOWHQ%HXUWHLOXQJHQEHUGLH=LHOHGHVࡐ1HXHQ.XUVHV´XQGGHU VRZMHWLVFKHQ'HXWVFKODQGSROLWLNGHFNHQVLFKEHLVSLHOVZHLVHLQGHQ7DJHQYRUGHP-XQLPLWGHQ%HXUWHLOXQJHQ GHV$XVZlUWLJHQ$PWHV9RUWUDJHQGHU/HJDWLRQVUDW0H\QHQ %HUOLQ :HVW DQ$XVZlUWLJHV$PW1HXHUXVVLVFKH3ROLWLNLQGHU6RZMHW]RQHLQ$NWHQ]XU$XVZlUWLJHQ3ROLWLNGHU%XQGHVUHSXEOLN'HXWVFKODQG%DQG 6²VRZLH$XI]HLFKQXQJHQGHV*HVDQGWVFKDIWVUDWV.UDSI3DULVLQHEHQGD6²   /HPNH.RQUDG$GHQDXHU6FKZDU]$GHQDXHU6

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gewesen.206 In diesem Zusammenhang ist auch eine Akzentverschiebung der Berichterstattung im Nachgang der Unruhen zu sehen. Ab Mitte Juli setzte die Organisation Gehlen vermehrt Berichte über die innenpolitische Entwicklung in der DDR nach Bonn ab. Eine solch eingehende Unterrichtung EHU GLH SROLWLVFKHQ 9RUJlQJH LQ 2VWEHUOLQ KDWWH HV YRU GLHVHP =HLWSXQNW nicht gegeben. Als Motiv kann der Organisation Gehlen das Bestreben unterstellt werden, im Nachgang der Unruhen die eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.207$OOHUGLQJVZDUGLHVHU0D‰QDKPHNHLQ(UIROJEHVFKLHGHQ 7HQRUGHU0HOGXQJHQGLHVLFKDXI*HZlKUVOHXWHLP8PIHOGGHU6RZMHWLVFKHQ Hochkommission oder der Regierungskreise beriefen, war die Feststellung HLQHU6FKZlFKXQJGHU3RVLWLRQ8OEULFKWVXQGGLH(LQVHW]XQJHLQHU5HJLHUXQJ unter Führung bzw. Beteiligung der Blockparteien.208 Die Entwicklung in der ''5YHUOLHILQMHQHQ7DJHQDEHUJHQDXHQWJHJHQVHW]W'DV6('5HJLPHXP Walter Ulbricht ging innenpolitisch gestärkt aus den Unruhen hervor. In den BND-Quellen finden sich nur zwei zeitgenössische Beurteilungen EHU GLH HLJHQH /HLVWXQJ ZlKUHQG GHV 9RONVDXIVWDQGHV 'HU /HLWHU GHU DDR-Beschaffung, Graber, sprach am 9. Juli 1953 während einer zentralen (LQVDW]DXVZHUWXQJ LQ 3XOODFK GDYRQ GHU 'LHQVW KDEH ࡐGLH 1'6FKODFKW LP -XQL  ]X JHZLQQHQ YHUVXFKW XQG DXFK JHZRQQHQ´209 Ganz anders UHVPLHUWH(EUXOI=XEHUJHJHQEHUVHLQHQ$X‰HQVWHOOHQPLWDUEHLWHUQ Ein Nachrichtendienst, der sich ausschließlich auf [Überwachungsquellen] abstützt, berichtet Historie und versagt als Ratgeber seiner Staatsführung genau

im

entscheidenden

Moment.

[...]

Ein

Nachrichtendienst,

dessen

  5HLQKDUG*HKOHQ'HU$XIEDXXQGGLH,QWHJUDWLRQGHV%XQGHVQDFKULFKWHQGLHQVWHVLQ.ODXV*RWWR +J 'HU 6WDDWVVHNUHWlU$GHQDXHUV3HUV|QOLFKNHLWXQGSROLWLVFKHV:LUNHQ+DQV*ORENHV6WXWWJDUW6²KLHU6 207 Ab dem 1. Juli 1953 trugen die Wochenberichte der Organisation Gehlen den Hinweis, dass Aussagen EHUSROLWLVFKH9RUJlQJHࡐQXULQVRZHLWNRQNUHWZLHGHUJHJHEHQZHUGHQ N|QQWHQ DOVGXUFKLKUH(UZlKQXQJNHLQH *HIlKUGXQJGHU4XHOOHQHLQWULWW´'LHVHU=XVDW]GUIWHDOOHUGLQJVQLFKWQXUDXIGLH6RUJHXPGLH4XHOOHQ]XUFN]Xführen sein, sondern vielmehr auf das Bestreben, die eigenen politischen Lageeinschätzungen im Bedarfsfall modiÀ]LHUHQ]XN|QQHQ'LH$XVVDJHYRQ.XUW:HL‰LQVHLQHU$XVDUEHLWXQJ]XP-XQLDXVGHQHU-DKUHQ GDVVGLHVH(LQVFKUlQNXQJQRWZHQGLJJHZRUGHQZlUHZHLOGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQࡐEHUPHKUHUH6SLW]HQYHUELQGXQJHQLQ)KUXQJVJUHPLHQGHU6RZMHW]RQHYHUIJWH´NDQQQDFKJHJHQZlUWLJHP.HQQWQLVVWDQGQLFKWEHVWlWLJW ZHUGHQ'HU-XQL6%$UFK%%ODWW 208 Insgesamt wurden zwischen dem 15. und 31. Juli sieben solcher Meldungen abgesetzt. BND-Archiv 152039. 'LH3URJQRVHQLQGHQ:RFKHQEHULFKWHQJLQJHQLQGLHJOHLFKH5LFKWXQJ%$UFK%   (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW

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Berichterstattung im entscheidenden Augenblick aussetzt, verliert seinen Sinn und seine Daseinsberechtigung.210

Diese Bewertung wurde Jahre später von Udo Ritgen 211 geteilt, der im Sommer 1953 Mitarbeiter der politischen Beschaffung war. Der 17. Juni habe gezeigt, dass die Organisation Gehlen seinerzeit noch weit davon entfernt gewesen sei, ein Auslandsnachrichtendienst zu sein: Wir [hatten] das Gefühl, mit den bisherigen gepflogenen nachrichtendienstlichen Methoden, die auf die Zukunft ausgerichtete Zielsetzung nicht realisieren zu können.212

Der Widerspruch in diesen Einschätzungen ist neben psychologischem und taktischem Kalkül auch auf unterschiedliche Ansichten über die Aufgabe und das Selbstbild der Organisation Gehlen zurückzuführen. Graber begründete sein positives Urteil damit, dass es nachträglich gelungen war, die PLOLWlULVFKHQ9RUJlQJHZlKUHQGGHV-XQLPLWHLJHQHQ4XHOOHQUHNRQVWUXieren zu können. Allerdings räumte er ein, dass diese Leistung nicht mit den 0D‰VWlEHQ HLQHV HFKWHQ 1DFKULFKWHQGLHQVWHV JHPHVVHQ ZHUGHQ N|QQH213 =XEHU ZLH DXFK 5LWJHQ OHJWHQ LKUHQ hEHUOHJXQJHQ GLH$QQDKPH ]XJUXQGH die Organisation Gehlen sei durchaus ein Nachrichtendienst, der allerdings während des 17. Juni versagt hätte. Inwiefern diese Schlussfolgerungen von der Führung der Organisation Gehlen geteilt wurden, lässt sich nach Aktenlage nicht sagen.214 Legt man die erkennbaren Reaktionen des CIAStabes und des Kanzleramtes als Ausgangspunkt für mögliche grundsät]OLFKH hEHUOHJXQJHQ ]XJUXQGH VR GUIWH DXV 6LFKW GHV *HKOHQ6WDEHV

keine Notwendigkeit für eine grundsätzliche Revision der bisherigen DDRAufklärung bestanden haben. Die Leistungsfähigkeit auf dem militärischen Sektor war trotz erwiesener Schwächen im Nachgang ausreichend unter Beweis gestellt worden, während dem Kanzleramt unterstellt werden kann, GDVVHVVLFKPLWGHU%HULFKWHUVWDWWXQJDXV3XOODFK]XIULHGHQJDE Der Schwerpunkt der Einsatznachbereitung lag entsprechend auf vielen RUJDQLVDWRULVFKHQ 1HXHUXQJHQ GLH LP )DOO HLQHU *UHQ]VFKOLH‰XQJ LQ %HUOLQ die Meldungsübermittlung aus der DDR sicherstellen und beschleunigen VROOWHQ 3ULRULWlW EHVD‰HQ GHU $XVEDX GHV )XQNHUQHW]HV XQG GDV $QOHJHQ von Nachrichtenschleusen in Grenznähe. Gleichzeitig wurden Anordnungen HUODVVHQZHOFKHGLHhEHUPLWWOXQJYRQ0HOGXQJHQDXVGHQ$X‰HQVWHOOHQDQ die Zentrale und die interne Weitergabe vereinfachen sollten. Zu diesem =ZHFN HQWVWDQGHQ XPIDQJUHLFKH 0D‰QDKPHNDWDORJH IU GHUHQ 8PVHW]XQJ Unterstützung beim CIA-Stab beantragt wurde.215 :HQLJHURIIHQVLYJLQJGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQGLHVWUXNWXUHOOHQ3UREOHPHGHU Nachrichtenbeschaffung an. Grundsätzlich wurde das auf flächen deckende PLOLWlULVFKH hEHUZDFKXQJ DXVJHULFKWHWH $JHQWHQQHW] QLFKW LQ )UDJH JH stellt.216'HVVHQ3RWHQWLDOHVROOWHQDOOHUGLQJVEHVVHUJHQXW]WZHUGHQ1HEHQ LKUHP HLJHQWOLFKHQ$XIWUDJ ZDUHQ DOOH 4XHOOHQ DQJHKDOWHQ EHU ࡐDOOJHPHLQ LQWHUHVVLHUHQGH´9RUJlQJH]XEHULFKWHQXQGGDEHLQDFKGHQ(UIDKUXQJHQGHV 17. Juni auch die Lage der Bevölkerung zu berücksichtigen, ohne allerdings ࡐODQJDWPLJH6WLPPXQJVEHULFKWH´DE]XIDVVHQ217 Ebenfalls beabsichtigt war die Neurekrutierung von aussagekräftigen Quellen LQGHQELVODQJXQWHUUHSUlVHQWLHUWHQ$XINOlUXQJV]ZHLJHQ:LUWVFKDIWXQG3ROLWLN +LHUVLQGDEHUQXUSXQNWXHOOH0D‰QDKPHQ]XHUNHQQHQGLHDOV(UJlQ]XQJGHU bestehenden Agentennetze anzusehen sind. Im ökonomischen Sektor sollten YHUVWlUNW%HWULHEHXQG9HUZDOWXQJVHLQULFKWXQJHQDX‰HUKDOE2VWEHUOLQVLQGLH hEHUZDFKXQJ HLQEH]RJHQ ZHUGHQ ZLH DXFK HLQH VWlUNHUH$XVULFKWXQJ DXI

  $QRQ\P %9( 6FKUHLEHQDQ)LOLDOH$DEJHGUXFNWLQ)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6 211 Udo Ritgen (DN Ritter), 1916–2010, vor 1945 Major der Wehrmacht, 1953 Eintritt in die Organisation Gehlen, 1953–1956 Mitarbeiter der Abteilung Gegenspionage (bis 1954 gleichzeitig politische Aufklärung), 1956–1969 MitarEHLWHULP6WUDWHJLVFKHQ'LHQVW2VWDXINOlUXQJ²0LWDUEHLWHUGHUPLOLWlULVFKHQ$XVZHUWXQJ3HQVLRQLHUXQJ   8GR5LWJHQ)RUWVHW]XQJGHVEHUXÁLFKHQ/HEHQVODXIHV $EVFKULIW >LP)ROJHQGHQ(ULQQHUXQJVEHULFKW@ S. 8, BND-Archiv Nachlass 28, Band 7.

  'RKQH7LWHO LP)ROJHQGHQ(UIDKUXQJVEHULFKW %$UFK%%ODWW VRZLH +RUVWYRQ0HOOHQWKLQ DQ -DPHV&ULWFKÀHOG /HVVRQV/HDUQHGIURP8SULVLQJ LQ5XIIQHU,QWHOOLJHQFH3DUWQHUVKLS%DQG6²1$5$

  'LHVHUVHLVR*UDEHULQGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQࡐQXULQ$QVlW]HQ´YHUWUHWHQ' 6LHJIULHG*UDEHU  7KHVHQ6²%1'$UFKLY%ODWW²(LQH=XVDPPHQIDVVXQJGLHVHU$XVIKUXQJHQ ÀQGHWVLFKDXFKLP(LQVDW]EHULFKW6²%DUFK%%ODWW²

  *UDEHUEHWRQWHGDVVHLQ$XIJHEHQࡐGHULQGLHVHU)RUPQRFKQLHGDJHZHVHQHQ)URQWDXINOlUXQJ´]XJXQVWHQHLQHVQDFKULFKWHQGLHQVWOLFKHQ$XINOlUXQJVDSSDUDWHVHLQ)HKOHUVHL' 6LHJIULHG*UDEHU 7KHVHQ 09.07.1953, S. 2, BND-Archiv 120100, Blatt 849.

214 Den überlieferten Aufzeichnungen über Besprechungen der Leitung mit Abteilungsleitern und dem CIA-Stab nach zu urteilen, kam es in diesem Rahmen zu keinen Diskussionen. BND-Archiv 1107.

217 Graber erinnert sich, dass die von ihm angeregte verstärkte Beobachtung der Stimmung in der Bevölkerung nicht umgesetzt worden sei. Siegfried Graber, Erinnerungsbericht, 1994, S. 50, BND-Archiv Nachlass 4, Band 20.

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zivile Wirtschaftsbereiche beabsichtigt war.218 Wichtiger als die Ausweitung des Wirtschaftsnetzes war der Ausbau der politischen Beschaffung. Die Notwendigkeit der Rekrutierung von politischen Gewährsleuten wurde vor allem YRQ GHQ $X‰HQVWHOOHQ EHWRQW GLH ZlKUHQG GHV  -XQL QLFKW LQ GHU /DJH waren, die geforderten Informationen zu beschaffen.219'LHVHV3UREOHPZXUGH während des Aufstandes auch in der Zentrale zur Sprache gebracht. 220 Für diesen Zweck beantragte die Organisation Gehlen Anfang Juli 1953 bei der CIA einen monatlichen Zuschuss von 15.000 DM.221'LH$X‰HQVWHOOHQZXUGHQ DQJHZLHVHQ ࡐEHVRQGHUHV$XJHQPHUN DXI GLH 0|JOLFKNHLWHQ ]XU SROLWLVFKHQ 1DFKULFKWHQJHZLQQXQJ´ ]X OHJHQ 'LH HLJHQHQ 3RWHQWLDOH GLHV PLW 4XHOOHQ innerhalb des SED- und des Staatsapparates bewerkstelligen zu können, ZXUGHQ DOOHUGLQJV JHULQJ HLQJHVFKlW]W 'LH 5HNUXWLHUXQJ VROOH ࡐLQ HUVWHU /LQLH EHU>@]HQWUDOH3RVLWLRQHQLQGHU:LUWVFKDIW´YHUVXFKWZHUGHQ222 'LH(LQVDW]QDFKEHUHLWXQJZLHDXFKGLH8PVHW]XQJGHUVNL]]LHUWHQ9RUKDEHQ KDWWHQ DXJHQVFKHLQOLFK NHLQH EHVRQGHUH 3ULRULWlW $P  -XOL  IDQG LQ 3XOODFK HLQH ]HQWUDOH (LQVDW]EHVSUHFKXQJ VWDWW DQ GHU GLH /HLWHU GHU $X‰HQVWHOOHQ XQG 9HUWUHWHU GHU =HQWUDOH WHLOQDKPHQ 9LHO 5DXP IU HLQ JHKHQGH'LVNXVVLRQHQERWVLFK²GHU7DJHVRUGQXQJQDFK]XXUWHLOHQ²QLFKW 223 Bis zum Nachmittag waren Referate der Auswertungsabteilung vorgesehen, GLH GHQ .HQQWQLVVWDQG EHU GLH $XINOlUXQJ GHU 5RWHQ $UPHH 9RONVSROL]HL und Wirtschaftspolitik zusammenfassten. Nur die letzten beiden Stunden GHV7DJHV ZDUHQ (UIDKUXQJVEHULFKWHQ GHU$X‰HQVWHOOHQ YRUEHKDOWHQ ZREHL LP 8QWHUVFKLHG ]X GHQ 9RUWUlJHQ DP 9RUPLWWDJ GLH 0|JOLFKNHLW IU GLUHNWH Nachfragen nicht vorgesehen war. Eine halbstündige Abschlussdiskussion musste genügen, um Lehren aus den Ereignissen der vergangenen drei   8QWHUDQGHUHPZXUGHGDV0LQLVWHULXPIU+DQGHOXQG9HUVRUJXQJXQGGDV0LQLVWHULXPIU$UEHLWLQGLUHNWHU .RQVHTXHQ]DXVGHQ(UIDKUXQJHQGHV9RONVDXIVWDQGHVLQGLHhEHUZDFKXQJHLQEH]RJHQ: :LUWVFKDIWVDXINOlrung), Die wirtschaftliche Aufklärung, S. 4, BND-Archiv 3196.   *9%DQ=HQWUDOH%HULFKW$XIWUlJH/DJH%HUOLQ%1'$UFKLYVRZLH%9( (EUXOI=XEHU  DQ*D\ 6LHJIULHG*UDEHU %ULHI6%$UFK%%ODWW   $XIHLQHU]HQWUDOHQ%HVSUHFKXQJDP-XQLlX‰HUWHGLH$XVZHUWXQJ.ULWLNDQGHQࡐQRFKQLFKWYROODXIEHIULHGLJHQGHQ´/HLVWXQJHQGHUSROLWLVFKHQ%HVFKDIIXQJGLHNDXP0HOGXQJHQYRUOHJHQNRQQWHG>(EHUKDUG%OXP@ 3URWRNROO*UXSSHQOHLWHUEHVSUHFKXQJ6%1'$UFKLY%ODWW 221

Besprechungsnotiz Budget-Fragen, 02.07.1953, BND-Archiv 1107, Blatt 292–296.

  (UIDKUXQJVEHULFKW6%$UFK%%ODWWVRZLH' 6LHJIULHG*UDEHU 7KHVHQ6 BND-Archiv 120100, Blatt 850.   %LVDXIGLH7DJHVRUGQXQJXQGGDV$EVFKOXVVUHIHUDWVLQGNHLQH$XI]HLFKQXQJHQEHUGLHVH=XVDPPHQNXQIW YRUKDQGHQ/DJHYRUWUDJXQGEHVSUHFKXQJ%$UFK%%ODWW²

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Wochen zu ziehen. Die Behebung der aufgetretenen organisatorischen Mängel besprachen in den kommenden Monaten die einzelnen Abteilungsleiter. Der Stab Gehlen brachte sich in diese Diskussionen nicht ein. 224 Erst Mitte 1RYHPEHUHUIROJWHGDQQGLHhEHUVHQGXQJHLQHV$EVFKOXVVEHULFKWHVGHUGLH ࡐPHKUPRQDWLJHQ8QWHUVXFKXQJHQ]XHLQHP$EVFKOXVV´EUDFKWH'HP'XNWXV GHU $XIDUEHLWXQJ QDFK ]X XUWHLOHQ KDWWHQ GLH DQJHRUGQHWHQ 0D‰QDKPHQ GHQ &KDUDNWHU YRQ (PSIHKOXQJHQ GLH ]XNQIWLJ ࡐ%HUFNVLFKWLJXQJ ILQGHQ PVVHQ´225 ,Q ZHOFKHP$XVPD‰ VLFK GLH HUNDQQWHQ VWUXNWXUHOOHQ XQG RUJDQLVDWRULVFKHQ 6FKZDFKVWHOOHQ GHU ''56SLRQDJH VFKOLH‰OLFK EHKREHQ wurden, bedarf weiterer Forschung. Udo Ritgen stellte für die problembehaftete politische Beschaffung rückblickend fest, dass nach dem 17. Juni ࡐGLH HLQJHIDKUHQHQ 2UJ6WUXNWXUHQ NHLQHQ :DQGHO GHU HLQJHIDKUHQHQ 1DFKULFKWHQJHZLQQXQJ´]XJHODVVHQKlWWHQ226 Eine durchgreifende Reorganisation wurde ohnehin durch die im Herbst 1953 EHJLQQHQGH JH]LHOWH 9HUKDIWXQJ YRQ 0LWDUEHLWHUQ GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ durch das Ministerium für Staatssicherheit erschwert. Erstmals seit seinem Bestehen musste der Dienst ernsthafte Einbrüche in seine Netze in der DDR KLQQHKPHQ 'LH$XVZLUNXQJHQ GLHVHV$QJULIIV OLH‰HQ GLH (UIDKUXQJHQ GHV 17. Juni rasch in den Hintergrund treten.227

  $XVGHU'LHQVWVWHOOHZXUGHDP-XQLDQ*HKOHQGHU9RUVFKODJKHUDQJHWUDJHQHLQH]HQWUDOH Untersuchungsgruppe zu bilden, die sowohl eine Einsatznachbereitung wie auch die Berichterstattung koordinieren VROOWH*HKOHQOHKQWHGLHVHQ9RUVFKODJPLW9HUZHLVDXIGLHLQGHU$XVZHUWXQJVDEWHLOXQJEHUHLWVEHJRQQHQHLQKDOW liche Aufbereitung ab. An einer darüber hinaus gehenden zentralen Untersuchung bestand offenbar kein Interesse. D 'LHQVWVWHOOH DQ /HLWXQJ ࡐ5HYROWHLQGHU6%='´%1'$UFKLY%ODWW²VRZLH GHUKDQGVFKULIWOLFKH9HUPHUN*HKOHQVDXI%ODWW   G (EHUKDUG%OXP $QVFKUHLEHQ(UIDKUXQJVEHULFKW%$UFK%%ODWW 226

Udo Ritgen, Erinnerungsbericht, 1983, S. 7, BND-Archiv Nachlass 28, Band 7.

  'DUDXIZHLVWDXFKGDV$QVFKUHLEHQKLQࡐ'LHhEHUVHQGXQJGLHVHU=XVDPPHQVWHOOXQJHUIROJWLQHLQHP $XJHQEOLFNLQGHPDOOH)KUXQJVVWHOOHQYROOGDPLWEHVFKlIWLJWVLQGVLFKPLWGHQJHJHQZlUWLJHQ3UREOHPHQGHU1' 2IIHQVLYHGHV*HJQHUV]XEHIDVVHQ'LHVH'LQJHKDEHQIUGHQ$XJHQEOLFNVHOEVWYHUVWlQGOLFK9RUUDQJ>«@:HQQ GLH=XVDPPHQIDVVXQJWURW]GHPMHW]WEHUVDQGWZLUGVRGHVKDOEZHLO>«@HLQ9HUORUHQJHKHQGHU(UIDKUXQJHQ>«@ XQ]ZHFNPlVVLJHLQVSlWHUHVhEHUVHQGHQGHU=XVDPPHQVWHOOXQJDXFKQLFKWYRQ1XW]HQ ZlUH ´G (EHUKDUG %OXP $QVFKUHLEHQ(UIDKUXQJVEHULFKW%DUFK%%ODWW=XGHQ0I6$NWLRQHQJHJHQGLH 2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ)ULFNH(QJHOPDQQ.RQ]HQWULHUWH6FKOlJH6²²

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5 Zur Frage einer Beteiligung an den Unruhen Unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 behauptete die SED-Führung, die Erhebung sei von westlichen Organisationen KHUEHLJHIKUWZRUGHQ,P$XIWUDJGHU3DUWHLIKUXQJYHUVXFKWHGDV0LQLVWHULXP IU6WDDWVVLFKHUKHLWGLHYHUPHLQWOLFKHQ+LQWHUPlQQHUGHVࡐ7DJ;´DXVILQGLJ zu machen. Im Fokus der Ermittlungen standen zunächst die Ostbüros von 63'XQG'*%VRZLHGDV*HVDPWGHXWVFKH0LQLVWHULXP228 Der Organisation Gehlen wurde eine Beteiligung während der Sommermonate 1953 nur indirekt unterstellt.229 Erst mit Beginn der Schauprozesse gegen in der DDR verhaftete Mitarbeiter der Organisation Gehlen im Herbst des Jahres, wurde GLHVHU 9RUZXUI NRQNUHWLVLHUW XQG LQ GHU 3UHVVH EUHLW KHUDXVJHVWHOOW 2EZRKO dem MfS Dokumente der Organisation Gehlen vorlagen, aus denen eindeutig hervorging, dass den Agenten während des 17. Juni jegliche Form einer Beteiligung an den Unruhen untersagt war, fand dieses Entlastungsmaterial in GHQ3UR]HVVHQDXVSURSDJDQGLVWLVFKHQ*UQGHQNHLQH%HUFNVLFKWLJXQJ230

  )ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6   ,QGHU''53UHVVHZXUGHGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQLQ=XVDPPHQKDQJPLWGHP9RONVDXIVWDQGELV+HUEVW 1953 nur in einem Artikel erwähnt. Die Annahme einer Beteiligung begründet sich nur auf der Feststellung, dass die 2UJDQLVDWLRQ*HKOHQXQWHUDPHULNDQLVFKHU)KUXQJDUEHLWH$GHQDXHUV%DQGLWHQVWUHLFKHJHJHQGLH9HUV|KQXQJ Neues Deutschland, 23.06.1953, S. 2.   )ULFNH(QJHOPDQQ.RQ]HQWULHUWH6FKOlJH6VRZLHGLHV7DJ;²

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$XFK LQ GHU hEHUOLHIHUXQJ GHV %XQGHVQDFKULFKWHQGLHQVWHV ILQGHW VLFK NHLQ einziger Hinweis, der auf eine Beteiligung hindeutet. Soweit bislang erkennbar, schloss die Organisation Gehlen im Gegensatz zu anderen ameriNDQLVFKÀQDQ]LHUWHQ(LQULFKWXQJHQDNWLYH:LGHUVWDQGVDUEHLWLQGHU''5JUXQGsätzlich aus.231 Angestrebt wurde lediglich eine Betätigung in den Bereichen 3URSDJDQGDXQGSV\FKRORJLVFKH.ULHJVIKUXQJGLHDOOHUGLQJVHUVWLQGHQ Anfängen steckten und noch einer eingehenden Untersuchung bedürfen. 6HOEVW ZHQQ PDQ YRQ ELVODQJ QRFK QLFKW EHNDQQWHQ 3URJUDPPHQ DXVJHKHQ ZROOWH LVW LP )DOOH GHV 9RONVDXIVWDQGHV HLQH %HWHLOLJXQJ WURW]GHP GHÀQLWLY zu verneinen: Da die Organisation Gehlen erst am Nachmittag des 17. Juni den Aufstand überhaupt wahrnahm und überdies von einer sowjetischen 8UKHEHUVFKDIWEHU]HXJWZDUVLQGYRUEHUHLWHQGH0D‰QDKPHQDXV]XVFKOLH‰HQ $XVGHQ4XHOOHQOl‰WVLFKDX‰HUGHPDEOHVHQGDVVGLH/HLWXQJGHU2UJDQLVDWLRQ Gehlen sehr besorgt war, dass sich ihre Agenten durch regimekritische bX‰HUXQJHQ RGHU JDU +DQGOXQJHQ GHU *HIDKU HLQHU 9HUKDIWXQJ DXVVHW]HQ könnten. Bereits vor Ausbruch des Aufstandes erging angesichts der innenSROLWLVFKHQ /LEHUDOLVLHUXQJ LQIROJH GHV ࡐ1HXHQ .XUVHV´ DQ DOOH $X‰HQVWHOOHQ $QZHLVXQJGDIU]XVRUJHQGDVVGLH9/HXWHLQGHU''5QLFKWࡐDXVGHQ/|FKHUQ DXIWDXFKHQ´232 Die Anordnung wurde vermutlich am 17. Juni erneuert. Ein entVSUHFKHQGHU +LQZHLV ÀQGHW VLFK LQ HLQHP DQ GLH &,$ JHULFKWHWHQ 6FKUHLEHQ ZRQDFKࡐGDVJHVDPWH3HUVRQDOGHU2UJDQLVDWLRQIUK]HLWLJJHZDUQWZXUGHVLFK QLFKWDQ'HPRQVWUDWLRQHQ]XEHWHLOLJHQ´233'DVVGLHVH0D‰QDKPHGHU&,$]XU Kenntnis gebracht wurde, kann nochmals als Beleg gelten, dass von Seiten der Amerikaner kein Auftrag an die Organisation Gehlen ergangen war, ihre Netze

  (LQHP%HULFKWGHV&,$6WDEHVLQ3XOODFKQDFK]XXUWHLOHQRUGQHWHVLFKGLH/HLWXQJGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ einer 1952 getroffenen Festlegung der Bundesregierung unter, wonach aktive Widerstandsarbeit keine Unterstüt]XQJGHV.DQ]OHUDPWHVÀQGHW$XVGLHVHP*UXQGOHKQWHVLHHLQH%HWHLOLJXQJDQGHQDPHULNDQLVFKHQ3URJUDPPHQ DE$QRQ\P &,$6WDE3XOODFK +LVWRU\RIWKH*HKOHQ,QWHOOLJHQFH2UJDQL]DWLRQ6HSWHPEHULQ5XIIQHU ,QWHOOLJLHQFH3DUWQHUVKLS%DQG,6²1$5$%HUQG6W|YHUGHUVLFKDXI*UXQGODJHDPHULNDQLVFKHU4XHOOHQ PLWGHU3UD[LVGHUDPHULNDQLVFKHQ/LEHUDWLRQ3ROLF\EHVFKlIWLJWKDWOLHIHUWHEHQIDOOVNHLQH$QKDOWVSXQNWHGDVVVLFK GLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQDQ6DERWDJHDNWLRQHQEHWHLOLJWHRGHUGHUDUWLJH3ODQXQJHQYHUIROJWH6W|YHU%HIUHLXQJYRP .RPPXQLVPXV'LHLQGHU2UJDQLVDWLRQ*HKOHQEHVWHKHQGHQ6WD\%HKLQG3URJUDPPHZDUHQDXVVFKOLH‰OLFKIUGHQ )DOOHLQHVEHZDIIQHWHQ.RQÁLNWVYRUJHVHKHQXQGVLQGGDKHUIUGHQ-XQLQLFKWYRQ,QWHUHVVH=XP9HUKlOWQLV XQGGHQ6WUDWHJLHQGHU%XQGHVUHJLHUXQJJHJHQEHUGHUDPHULNDQLVFKHQ/LEHUDWLRQ3ROLF\6WHIDQ&UHX]EHUJHU Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949–1969, Düsseldorf 2008, S. 155–177.    /HLWXQJ ' 6LHJIULHG*UDEHU DQDOOH'LHQVWHLQKHLWHQ$QZHLVXQJ-HW]LJH0D‰QDKPHQGHU2VW]RQHQ 0DFKWKDEHU6%$UFK%%ODWW    /HLWHU$XINOlUXQJ DQ 9HUELQGXQJVRIÀ]LHU&,$ 0HPRUDQGXP6%$UFK% %ODWWhEHUVHW]XQJDXVGHP(QJOLVFKHQ

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LP6LQQHHLQHU7HLOQDKPH]XPRELOLVLHUHQ$XFKDXIGHU(EHQHGHU$X‰HQVWHOOHQ sind einschlägige Anweisungen nachweisbar. Die Generalvertretung G warnte am 17. Juni ihre nachgeordneten Dienststellen vielmehr: Jegliche Beteiligung an Aktionen, ja überhaupt jegliches Hervortreten unserer Mitarbeiter ist mit allen Mitteln zu verhindern. Nachrichtendienst gehört nie auf die Strasse und nirgends in die Öffentlichkeit. Äußerungen, dass man nicht nur dagegen gewesen sei, sondern auch etwas dagegen getan habe, sind tödlich – gerade jetzt.234

Sofern ein Kontakt zwischen den westlichen Führungsstellen und den Agenten in der DDR noch bestand, wurde diese Anordnung auch weiterJHEHQ 'HU /HLWHU GHU %HUOLQHU $X‰HQVWHOOH $ PHOGHWH DQ VHLQH YRU gesetzte Dienststelle: Alle haben sich gemäß den Anweisungen vernünftig verhalten und sich nicht exponiert. Bleibt zu hoffen, dass sie auch gegenwärtig aus freien Stücken verschlossen bleiben und ihrem Herzen nicht Luft verschaffen.235

*HJHQHLQH%HWHLOLJXQJGHU*HZlKUVOHXWHDQGHQ8QUXKHQVSULFKWDX‰HUGHP GLHJHULQJH=DKOGHUELV(QGH-XOLEHNDQQWJHZRUGHQHQ9HUOXVWH236 Nach internen Erhebungen der Organisation Gehlen wurden zwölf Quellen Opfer YRQ9HUKDIWXQJHQZlKUHQGVLFKGUHLZHLWHUHLQGHQ:HVWHQDEVHW]HQPXVVWHQ 6HW]WPDQGLHVH=DKOLQV9HUKlOWQLV]XGHQ(QGH-XQLLQGHU''5GXUFK MfS und sowjetischer Geheimpolizei vorgenommenen Massenverhaftungen vermeintlicher und tatsächlicher Demonstrationsteilnehmer, so wird deutlich, dass es sich bei den genannten Ausfällen um Ausnahmen gehandelt haben muss, die auf eine Enttarnung zurückzuführen sind, die entweder unabhängig YRQGHQ8QUXKHQHUIROJWHQRGHU(UJHEQLVGHU]DKOUHLFKHQ9HUKDIWXQJHQZDU237

  /HLWHU*9* +DQV/XW] DQQDFKJHRUGQHWH'LHQVWVWHOOHQ$QZHLVXQJ(QWZLFNOXQJGHU/DJHLQGHU2VW]RQH 6%$UFK%%ODWW   89/HLWHU(DQ=HQWUDOH%ULHI%$UFK%%ODWW

Es sind bislang überhaupt nur zwei Fälle nachweisbar, bei denen eine GLUHNWH 9HUELQGXQJ ]XP 9RONVDXIVWDQG JHJHEHQ LVW %HLGH VLQG GHP 1HW] GHU *HQHUDOYHUWUHWXQJ + ]X]XRUGQHQ 'HU $JHQWHQIXQNHU ࡐ;HU[HV´ PXVVWH DP  -XQL QDFK :HVWEHUOLQ IOLHKHQ ZHLO VHLQH )UDX DOV ࡐ5lGHOVIKUHULQ´ der Demonstrationen in Leipzig verhaftet worden war.238 Der zweite Fall EHWUDI )ULHGULFK .DUO 6FKRUQ GHVVHQ 5ROOH ZlKUHQG GHV 9RONVDXIVWDQGV LQ der Forschung bereits ausführlich dargelegt worden ist. Schorn stand mit antikommunistischen Widerstandsgruppen in Westberlin in Kontakt und ZXUGHYRP0I6PLWGHP=LHODQJHZRUEHQEHUGHUHQ7lWLJNHLW]XEH richten sowie Kontakt zu anderen westlichen Diensten aufnehmen. Während GHV9RONVDXIVWDQGHVJHK|UWHHU]XU6WUHLNOHLWXQJLQ0HUVHEXUJXQGZDUDQGHU Erstürmung der dortigen Stasi-Kreisdienststelle beteiligt. Er setzte sich nach Westberlin ab und rief zusammen mit anderen Streikführern das Komitee ࡐ -XQL´ LQV /HEHQ /HLWHQGH 0LWJOLHGHU GLHVHU 9HUHLQLJXQJ ZXUGHQ VSlWHU vom MfS entführt und im Juni 1954 in einem Schauprozess vor dem Obersten Gericht als vermeintliche Hintermänner des 17. Juni abgeurteilt. Schorn sollte Hauptangeklagter werden, entging jedoch mehreren Entführungsversuchen der Staatssicherheit.239 Mit der Organisation Gehlen kam Schorn Anfang 1953 in Kontakt. Im Februar wurde er von einer Westberliner Filiale der Generalvertretung H DOVSRWHQWLHOOH4XHOOHRGHU.XULHULQ3XOODFK]XUhEHUSUIXQJHLQJHUHLFKW,P 0lU] HUIROJWH GLH RIIL]LHOOH $QPHOGXQJ GHV $JHQWHQ 9240 Obwohl Schorn als Angestellter der Finanzverwaltung der Leuna-Werke eine gute Wirtschaftsquelle gewesen wäre, erhielt er vorrangig einen militärischen Spionageauftrag. Diese Entscheidung ist vermutlich darauf zurückzufühUHQ GDVV GLH 'LHQVWVWHOOH VHLQHV 90DQQIKUHUV LQ :HVWEHUOLQ NHLQHQ Auftrag für Wirtschaftsaufklärung hatte. Es scheint, dass sich Schorn im $XIWUDJ GHV 0I6 YRQ GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ DQZHUEHQ OLH‰ GD HU VHLQH Kontakte zur Staatssicherheit verschwieg.241 Schorns Aussage – die er nach

  *9%DQ=HQWUDOH%HULFKW%$UFK%%ODWW   (LVHQIHOGXD +J 'LHYHUGUlQJWH5HYROXWLRQ6)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6²² .RZDOF]XN-XQL6²,ONR6DVFKD.RZDOF]XNXQG7RP6HOOR +J )UHLQIUHLHV/DQGPLWIUHLHQ Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, Berlin 2006, S. 72–76.

  (LQVDW]EHULFKW6%$UFK%%ODWW   .DUWHLNDUWH6FKRUQ$QPHOGXQJ9%1'$UFKLY2SHUDWLY9%ODWWXQG   %LV]XP-XOLZXUGHQLQGHU''5PHKUDOV0HQVFKHQZHJHQYHUPHLQWOLFKHURGHUWDWVlFKOLFKHU7HLOnahme an Kundgebungen allein durch das MfS in Gewahrsam genommen. Weitere Festnahmen erfolgten durch VRZMHWLVFKH6LFKHUKHLWVNUlIWH)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6²

72

  $QODJHD]XU$QPHOGXQJGHV9>/HEHQVODXI@XQGDWLHUW>0lU]@%1'$UFKLY2SHUDWLY 9%ODWW

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%HNDQQWZHUGHQVHLQHU0I69HUELQGXQJHQVSlWHULP:HVWHQPDFKWH²GDVV HU ࡐGHP RVW]RQDOHQ 66' QXU IDEUL]LHUWH XQG JHIlOVFKWH %HULFKWH JHEUDFKW hatte), die vorher in Westberlin aufgestellt wurden und somit die Abwehr des 66' EHZXVVW LUUHIKUWHQ´ WULIIW ]XPLQGHVW IU VHLQH 7lWLJNHLW DOV $JHQW GHU Organisation Gehlen nicht zu.242 9RQVHLQHU5ROOHZlKUHQGGHV-XQLHUIXKUGLH2UJDQLVDWLRQ*HKOHQ erst nach dessen Flucht in den Westen. Obwohl Schorn den Unterlagen zufolge bereits am 20. Juni 1953 im Berliner Flüchtlingslager Am Sandwerder HLQJHWURIIHQZDUXQGVHLQHP9HUELQGXQJVRIIL]LHUHLQHQXQPLWWHOEDUHQ%HULFKW über die Ereignisse in Merseburg hätte geben können, ist nach Aktenlage weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt jemals eine gezielte Befragung erfolgt. Nach seiner Flucht als Quelle unbrauchbar, wurde er im -XOLࡐVWLOOJHOHJW´XQG]XP$XJXVWDEJHVFKDOWHW 243 Aus der Akte geht nicht hervor, dass Schorn je wieder mit der Organisation Gehlen oder dem %1'LQ9HUELQGXQJJHWUHWHQLVW (LQH %HWHLOLJXQJ 6FKRUQV DP 9RONVDXIVWDQG LP $XIWUDJ GHU 2UJDQLVDWLRQ Gehlen ist angesichts der allgemeinen Anweisung an die Gewährsleute DXV]XVFKOLH‰HQ$XFKGLH(UWHLOXQJHLQHVEHVRQGHUHQ$XIWUDJHVLVWNDXPZDKUscheinlich, da er als unerprobte Quelle erst drei Monate für die Organisation Gehlen arbeitete und überdies wenig vertrauenswürdig erschien. Er galt als ࡐVSUXQJKDIW XQG XQDXVJHJOLFKHQ´ ZDV VHLQHQ 90DQQ)KUHU GD]X EHZRJ LKQDOVIUࡐ1'$UEHLWQLFKWJHHLJQHW´]XTXDOLIL]LHUHQ 244$XV3HUVSHNWLYHGHV MfS war die Rolle Schorns während des 17. Juni 1953 in zweifacher Hinsicht ärgerlich. Nicht nur, dass sich einer ihrer Zuträger an exponierter Stelle an der Erhebung gegen das SED-Regime beteiligt hatte, mit der Flucht Schorns in den Westen verlor das MfS auch eine Gegenspionageverbindung in den 3XOODFKHU'LHQVW Im Gegensatz zur Organisation Gehlen kann die versuchte Einflussnahme DQWLNRPPXQLVWLVFKHU :LGHUVWDQGVJUXSSHQ XQG GHU 2VWEURV YRQ 63' XQG DGB auf den Ablauf der Ereignisse am 17. Juni 1953 in der DDR als geVLFKHUW JHOWHQ (LQH +HUEHLIKUXQJ GHV $XIVWDQGHV LVW DXV]XVFKOLH‰HQ GD alle Beteiligten vom Ausbruch des Aufstandes überrascht wurden. Gleichwohl

verfolgten alle diese Organisationen mit unterschiedlicher Intensität das =LHOGXUFK6DERWDJHXQG3URSDJDQGDDNWLRQHQGHQ:LGHUVWDQGLQGHU''5 Bevölkerung zu stärken. Sie wurden dabei im Sinne der Befreiungspolitik YRQ DPHULNDQLVFKHQ 'LHQVWHQ XQWHUVWW]W 'HU 9RONVDXIVWDQG RIIHQEDUWH GLH Grenzen dieser Strategie: Denn angesichts eines drohenden bewaffneten Konflikts mit der Sowjetunion schreckte der amerikanische Sicherheitsapparat vor einer Unterstützung der Aufständischen zurück.245 'LH )UDJH LQ ZHOFKHP $XVPD‰ XQG PLW ZHOFKHQ 0LWWHOQ YHUVXFKW ZXUGH auf die Dynamik der Demonstrationen Einfluss zu nehmen, beschäftigte auch die Organisation Gehlen. In Berichten an die Zentrale, die aus den 7DJHQ QDFK GHP $XIVWDQG VWDPPHQ ILQGHQ VLFK +LQZHLVH GDVV GHUDUWLJH %HVWUHEXQJHQ ZHVWOLFKHU 6WHOOHQ YHUIROJW ZXUGHQ$X‰HUGHP LVW HLQ ]XVDPmenfassender Bericht überliefert, der wahrscheinlich zur Unterrichtung der Leitung anfertigt wurde.246 Diese Ausarbeitung geht vermutlich auf Ebrulf =XEHU ]XUFN GHU EHUHLWV ]XYRU EHU GLHVH )UDJHQ QDFK 3XOODFK EHULFKWHW hatte. Ob diese Unterrichtung auf Eigeninitiative zurückzuführen ist oder DXI:HLVXQJGHU=HQWUDOHHUIROJWHOlVVWVLFKQLFKWDEVFKOLH‰HQGEHXUWHLOHQ Möglicherweise verbarg sich dahinter die Absicht, die Einflussmöglichkeiten dieser Organisationen in der DDR zu untersuchen. Für Zuber dürfte die in den DDR-Medien am 17. Juni erhobene Behauptung ausschlaggebend gewesen sein, der Aufstand sei von westlichen Stellen herbeigeführt worden.247 $P  -XQL PHOGHWH HU QDFK 3XOODFK GDVV GLH 'HPRQVWUDWLRQHQ LQ 2VWEHUOLQ VLFK ࡐGXUFK VRIRUWLJH (QWIODPPXQJ GHU /HLGHQVFKDIWHQ VHLWHQV :HVWEHUOLQHU 3DUWHLHQ *HZHUNVFKDIWHQ XQG VRQVWLJHU 2UJDQLVDWLRQHQ´ LQ HLQHQ9RONVDXIVWDQGYHUZDQGHOWKlWWHQ248 Als einzigen Beleg nannte er die 9HUWHLOXQJ YRQ )OXJEOlWWHUQ GXUFK GLH 9HUHLQLJXQJ 3ROLWLVFKHU 2VWIOFKWOLQJH   6W|YHU%HIUHLXQJYRP.RPPXQLVPXV6²:ROIJDQJ%XVFKIRUW'DV2VWEURGHU63'9RQGHU Gründung bis zur Berlin-Krise, Oldenburg 1991, S. 98–108, Margret Bouvier: Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR, Bonn 1996, S. 295–302.   $QRQ\P>(EUXOI=XEHU"@$QJHEOLFKH9RUEHUHLWXQJHQXQG6WHXHUXQJGHU8QUXKHQDPGXUFK ZHVWOLFKH6WHOOHQXQGDNWLYH%HWHLOLJXQJZHVWOLFKHU2UJDQLVDWLRQHQDQGHQ8QUXKHQXQGDWLHUW>-XOL@%1' Archiv 1172, Blatt 147–161. Sowohl Sprachduktus als auch die angeführten Quellen deuten auf Zuber als Autor hin. $OV(QWVWHKXQJV]HLWWUDXPNDQQ(QGH-XQL$QIDQJ-XOLDQJHQRPPHQZHUGHQ'DVVSlWHVWHHUZlKQWH'DWXP ist der 24. Juni 1953.

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247 Im zusammenfassenden Bericht werden Rundfunk- und Zeitungkommentare aus der DDR als Belege angeführt. Am 21. Juni 1953 berichtete er an die Zentrale, dass einer seiner Quellen in einem Ostberliner Ministerium GLHLQGHQ''50HGLHQHUKREHQH%HKDXSWXQJVWW]HQZUGH%9( (EUXOI=XEHU DQ*D\ 6LHJIULHG*UDEHU %ULHI %$UFK%%ODWWVRZLH$QJHEOLFKH9RUEHUHLWXQJHQXQGDWLHUW>-XOL@%1'$UFKLY

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242

Zitat nach Kowalczuk, 17. Juni, S. 202.

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932 249 +HOPXW .OHLNDPS GHU DOV 9HUWUHWHU GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ in Berlin Gespräche mit politischen Repräsentanten und Westberliner 6LFKHUKHLWVEHK|UGHQ IKUWH lX‰HUWH VLFK EHU GDV ZHVWOLFKH (QJDJHPHQW zurückhaltender:

diese aber von einem Generalstreik abgehalten haben will. 2529RUVWHOOEDULVW auch die von der gleichen Quelle geschilderte Beratung zwischen der KgU und den erwähnten Ostbüros in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1953, die unter dem Eindruck der ersten Kundgebungen in Ostberlin stand:

Irgendwelche neuen politischen Erkenntnisse aus der Lage sind bisher noch

(Es) wurden Flugblätter hergestellt und verschickt. Auf diesen Flugblättern

nicht eingelaufen. Man versucht natürlich mit allen Mitteln, die Schuld

wurden die Ereignisse vom 16.6.1953 in Ost-Berlin stark übertrieben

an den Geschehnissen dem Westen unterzuschieben, was allerdings all-

wiedergegeben und die Regierung der SBZD als praktisch „bereits ge-

seits ein gewisses Lächeln hervorruft. Ich glaube, dass unsere östlichen

stürzt“ bezeichnet. Die versammelten Vertreter der erwähnten westberliner

Sowjetfreunde selbst noch nicht wissen, wie sie die Lage, die ihnen das

Organisationen einigten sich darauf, über „Verbindungsorgane“ auf die für

Konzept verdorben hat, nun weiterführen sollen.

17.6.1953 in Ostberlin vorgesehenen Demonstrationen Einfluss zu nehmen

250

und eine Steuerung an bestimmten Schwerpunkten zu versuchen.253

Die später entstandene Ausarbeitung listet verschiedene Einzelerkenntnisse DXVGHP8PIHOGGHU2VWEURVYRQ63'XQG'*%VRZLH.J8XQG8I-VRZLHGHP Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen auf, die mit Augenzeugenberichten ZlKUHQGGHU'HPRQVWUDWLRQHQVRZLH5XQGIXQNXQG3UHVVHEHULFKWHUVWDWWXQJ DXV GHU ''5 HUJlQ]W ZDUHQ 9RQ GHQ DXIJHIKUWHQ %HLVSLHOHQ JHKHQ QXU drei auf Berichte aus erster Hand zurück. Die übrigen Angaben beruhen auf Aussagen von unbekannten Gewährsmännern, mithin auf Hörensagen von Mitarbeitern der Organisation Gehlen. Das Fehlen einer Bewertung deutet GDUDXI KLQ GDVV VLFK GHU $XWRU KLQVLFKWOLFK GHU 9HUOlVVOLFKNHLW GHU ]XVDPmengetragenen Informationen wohl unsicher war. In ihrer Substanz könnten die Erkenntnisse trotz der schwer zu beurteilenden 9DOLGLWlW]XWUHIIHQGVHLQ'HU%HULFKWHQWKlOW$QJDEHQYRQHLQHUࡐ]XYHUOlVVLJ EHXUWHLOWHQ 4XHOOH YRQ XQEHNDQQWHP *HZlKUVPDQQ´ GLH YRQ *HVSUlFKHQ GHU 63' XQG '*%2VWEURV PLW 9HUWUDXHQVOHXWHQ DXV GHU ''5 ZLVVHQ ZROOWH EHL GHQHQ HLQH 9RUEHUHLWXQJ YRQ 6WUHLNV LQ GHQ 7DJHQ YRU GHP  Juni erfolgt sein soll.251 Dies findet in dieser Form in der Literatur bislang keine Bestätigung. Dass Begegnungen stattfanden, stimmt hingegen mit den bX‰HUXQJHQ GHV 63'2VWEUROHLWHUV 6WHSKDQ 7KRPDV EHUHLQ GHU DP 17. Juni mit Arbeitern aus dem Hennigsdorfer Stahlwerk in Kontakt stand,

'LH +HUVWHOOXQJ YRQ )OXJEOlWWHUQ LQ :HVWEHUOLQ DP 9RUDEHQG GHV  -XQL VRZLH GHUHQ VSlWHUH 9HUWHLOXQJ LVW EHNDQQW254 Die weiteren Einlassungen erscheinen gleichfalls plausibel, da sich unter den Demonstranten auch 9HUWUDXHQVOHXWH GHU 2VWEURV EHIDQGHQ XQG HKHPDOLJH 63'0LWJOLHGHU als Streikführer in Erscheinung traten.255 2E GLHV DXI GLH JH]LHOWH 3ODQXQJ zurückzuführen ist, muss ebenso dahingestellt bleiben, wie die erwähnte (QWVHQGXQJYRQ9/HXWHQGHU2VWEURVXQGGHU.J8LQGLH5HJLRQHQZlKUHQG GHU1DFKWDXIGHQ-XQLXPIUGHQNRPPHQGHQ7DJHLQHQ*HQHUDOVWUHLN auszurufen.256 $XVVFKODJJHEHQG IU GLH $XVEUHLWXQJ GHV 9RONVDXIVWDQGHV war nach gegenwärtiger Forschungslage vor allem die Berichterstattung des RIAS.257 )KUWGHU%HULFKWELV]XGLHVHP3XQNWYHUPHLQWOLFKH3ODQXQJHQDQGLH]XQlFKVW QXU 9HUVXFKH HLQH ,QVWUXPHQWDOLVLHUXQJ GHV LQ GHU ''5 ]X 7DJH WUHWHQGHQ

252

Buschfort, Ostbüro, S. 94.

  $QJHEOLFKH9RUEHUHLWXQJHQXQGDWLHUW>-XOL@6%1'$UFKLY%ODWW   )ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6²6W|YHU%HIUHLXQJYRP.RPPXQLVPXV6²   )ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6²%XVFKIRUW2VWEUR6   $QJHEOLFKH9RUEHUHLWXQJHQXQGDWLHUW>-XOL@6²%1'$UFKLY%ODWW²

  %9( (EUXOI=XEHU DQ*D\ 6LHJIULHG*UDEHU %$UFK%%ODWW   ࡐ)HXHUYHUVLFKHUXQJ%HUOLQ´ +HOPXW.OHLNDPS DQࡐ6:8´ 'LHQVWVWHOOH %HULFKWEHU%HVSUHFKXQJHQ am 19.06.1953, 20.06.1953, S. 1–2, hier S. 2, BND-Archiv 120826, Blatt 1527–1528, hier 1528.

257 Im Widerspruch zur gängigen Darstellung verweist Fricke darauf, dass die Bedeutung des RIAS nicht überschätzt werden dürfe und macht dies am Entstehen lokaler Forderungsprogramme fest, die sich von den über den RIAS verbreiteten Forderungen der Ostberliner Bauarbeiter unterschieden. Dass die Berichterstattung des Senders selbst über die Ereignisse in Ostberlin mobilisierend wirkte, stellt er nicht in Frage. Fricke, Zur Geschichte, S. 41–42, 45.

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Unmutes belegen, so werden im Weiteren Augenzeugenberichte angeführt, die den Erfolg dieser Absichten in Frage stellten. So verstanden es die Westberliner Agitatoren, die den marschierenden Arbeiterkolonnen am 17.6.1953 beigegeben wurden, [...] nicht, mit den demonstrierenden Arbeitern Kontakt zu bekommen. Sie wurden schnell isoliert und konnten deshalb die Lenkung der Aktionen nicht an sich reißen.258

Andere Demonstrationsteilnehmer machten westberliner Jugendliche, die PLWGHU.J8LQ9HUELQGXQJJHVWDQGHQKDEHQVROOHQDOV8UKHEHUJHZDOWtätiger Ausschreitungen aus. Derartige militante Aktionen gehörten zur Strategie dieser Organisation. Ob sie am 17. Juni im Auftrag oder aus eigener Initiative handelten, lässt der Bericht offen.259 Eine realistische Einschätzung der westlichen Bemühungen um den 17. Juni findet sich im Bericht von zwei Gewährsleuten aus dem Gesamtdeutschen Ministerium: Diese Demonstrationen der ostdeutschen Bevölkerung wurden seitens West-Berlins und der Bundesrepublik ähnlich dilettantenhaft ausgewertet, wie überhaupt der Kampf um die Einheit Deutschland geführt wird. Von  Vorbereitungen irgendeiner Art seitens des Westens kann überhaupt keine Rede sein, da solche hätten mehr spürbar werden müssen. Bezeichnend ist doch schließlich gewesen, dass selbst die Alliierten dieser gegebenen Situation nicht zu begegnen wussten. Zweifellos ist es möglich, dass nach Bekanntwerden der Demonstrationen westliche Stellen nachgeholfen haben; doch ist der Ursprung in der ehrlichen Verbitterung der Bevölkerung zu suchen.260

  $QJHEOLFKH9RUEHUHLWXQJHQXQGDWLHUW>-XOL@6%1'$UFKLY%ODWW   $QJHEOLFKH9RUEHUHLWXQJHQXQGDWLHUW>-XOL@6%1'$UFKLY%ODWW]XU5ROOHGHU.J8 DP-XQL)ULFNH(QJHOPDQQ7DJ;6²(QULFR+HLW]HU'LH.DPSIJUXSSHJHJHQ8QPHQVFKOLFKNHLW .J8 :LGHUVWDQGXQG6SLRQDJHLP.DOWHQ.ULHJ ² HUVFKHLQWLP%|KODX9HUODJ   $QJHEOLFKH9RUEHUHLWXQJHQXQGDWLHUW>-XOL@6%1'$UFKLY%ODWW

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Schlussbemerkung $P %HLVSLHO GHV 9RONVDXIVWDQGHV YRP  -XQL  ]HLJHQ VLFK GLH Möglichkeiten und Grenzen der DDR-Spionage der Organisation Gehlen recht deutlich. Abgesehen von der Militärspionage verfügte der Dienst daPDOV ZHGHU EHU GLH VWUXNWXUHOOHQ 9RUDXVVHW]XQJHQ IU HLQH$XINOlUXQJ GHU SROLWLVFKHQZLUWVFKDIWOLFKHQXQGJHVHOOVFKDIWOLFKHQ(QWZLFNOXQJHQQRFKPD‰ er diesen Fragen besondere Bedeutung bei. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die sowjetische Deutschlandpolitik. Deren vermutete Konzepte prägten nicht nur die Bewertung der Entwicklung in der DDR, sondern sie wurden vor DOOHPPLW%OLFNDXILKUH$XVZLUNXQJHQDXIGLH$X‰HQSROLWLNGHU%XQGHVUHSXEOLN DQDO\VLHUW ,P 9RUIHOG GHV $XIVWDQGHV JODXEWH GLH 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ LP 9HUVXFK GHU VRZMHWLVFKHQ )KUXQJ GLH SUHNlUH /DJH LQ GHU ''5 GXUFK einen Kurswechsel zu stabilisieren, eine deutschlandpolitische Initiative der sowjetischen Führung zu erkennen, die sich gegen die von der Regierung Adenauer verfolgte Westbindung der Bundesrepublik richtete. 'HU9RONVDXIVWDQGEUDFK²ZLHIUDOOH1DFKULFKWHQGLHQVWHLQ:HVWXQG2VW – auch für die Organisation Gehlen überraschend aus. Ob die Unruhen im 9RUIHOG KlWWHQ HUNDQQW ZHUGHQ N|QQHQ LVW EHL GHU KLVWRULVFKHQ %HZHUWXQJ weniger von Bedeutung als vielmehr die Frage nach einer zutreffenden Einordnung der Ereignisse und der daraus resultierenden Berichterstattung. In dieser Hinsicht war der 17. Juni für die Organisation Gehlen kein 5XKPHVEODWW$XIJUXQGGHU9RUDQQDKPHQYHUPXWHWHPDQLQ3XOODFKKLQWHUGHU Erhebung in Ostdeutschland politische Absichten der sowjetischen Führung. Die dem 17. Juni tatsächlich zugrunde liegenden politischen, wirtschaftlichen XQG JHVHOOV FKDIWOLFKHQ 8UVDFKHQ NRQQWHQ QXU PLW HLQLJHU 9HU]|JHUXQJ annähernd zutreffend eingeordnet werden. Dies erfolgte erst, nachdem sich GLHYHUPXWHWHVRZMHWLVFKH8UKHEHUVFKDIWQLFKWEHOHJHQOLH‰XQGGHQLQQHUHQ 9RUJlQJHQ LQ GHU ''5 EHL GHU /DJHEHXUWHLOXQJ PHKU $XIPHUNVDPNHLW JHschenkt wurde. 'HQ $EODXI XQG GLH 1LHGHUVFKODJXQJ GHV 9RONVDXIVWDQGHV NRQQWHQ WURW] HLQHVQDKH]XIOlFKHQGHFNHQGHQ$JHQWHQQHW]HVLQGHU''5YRQ3XOODFKQLFKW beobachtet werden. Als die Organisation Gehlen am Nachmittag des 17. Juni

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DXI GLH 9RUJlQJH DXIPHUNVDP ZXUGH EUDFK LQIROJH GHU *UHQ]VFKOLH‰XQJ der Kontakt zu den Gewährsleuten in der DDR für etwa eine Woche ab. So war nur eine nachträgliche Rekonstruktion der Ereignisse möglich. Was die 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ VFKOLH‰OLFK EHU GHQ $XIVWDQG LQ (UIDKUXQJ EUDFKWH basierte vorwiegend auf den Erkenntnissen des auf Militärspionage ausgerichteten Agentennetzes. Da es keine aussagekräftigen Quellen gab, die eine tiefer gehende Analyse der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen =XVDPPHQKlQJH]XOLH‰HQEHVFKUlQNWHVLFKGLH%HULFKWHUVWDWWXQJEHUGHQ Aufstand in diesen entscheidenden Bereichen auf nur kursorische Angaben. 7URW]GLHVHUGHIL]LWlUHQ,QIRUPDWLRQVJUXQGODJHNRQQWHVLFKGHU*HKOHQ'LHQVW LP 6RPPHU  QLFKW ]X HLQHU YROOVWlQGLJHQ 5HYLVLRQ VHLQHU 7KHVH HLQHV YRQ |VWOLFKHU 6HLWH LQV]HQLHUWHQ $XIVWDQGHV HQWVFKOLH‰HQ 6HKU GLFKW XQG ]XWUHIIHQGKLQJHJHQEHULFKWHWHGLH3XOODFKHU$XINOlUXQJQDFKWUlJOLFKEHUGLH PLOLWlULVFKHQ9RUJlQJHZlKUHQGGHV9RONVDXIVWDQGHV Eine Beteiligung der Organisation Gehlen am 17. Juni – wie von der DDR3URSDJDQGD EHKDXSWHW ² NDQQ GHILQLWLY DXVJHVFKORVVHQ ZHUGHQ 'DJHJHQ spricht schon die Interpretation der Unruhen als ein von Moskau herbeigeführWHU$XIVWDQGGDVVSlWH5HDJLHUHQDXIGLH9RUJlQJHXQGQLFKW]XOHW]WHLQ DOOHQ$JHQWHQHUWHLOWHV9HUERWVLFKGXUFKUHJLPHNULWLVFKHbX‰HUXQJHQRGHU 7DWHQ GHU *HIDKU HLQHU 9HUKDIWXQJ DXV]XVHW]HQ (V H[LVWLHUW ZHLWHUKLQ NHLQ 'RNXPHQWGDVDOV%HOHJIUHLQHDNWLYH5ROOH3XOODFKVJHOWHQN|QQWH 'LH)HKOZDKUQHKPXQJGHV9RONVDXIVWDQGHVZLHDXFKGLHRUJDQLVDWRULVFKHQ 6FKZLHULJNHLWHQGHU$XINOlUXQJZDUHQQLFKWQXUHLQ3UREOHPGHU2UJDQLVDWLRQ Gehlen, sondern sie betrafen auch andere westliche Nachrichtendienste. 'RFK ZLH GLH %HULFKWHUVWDWWXQJ GHV 9HUIDVVXQJVVFKXW]HV ]HLJW NDQQ GLHVH (LQVFKlW]XQJQLFKWYHUDOOJHPHLQHUWZHUGHQ1LFKWQXUGDV%I9VRQGHUQHWZD DXFKGDV2VWEURGHU63'VRZLH²VROHJWHVGLH)RUVFKXQJLQ]ZLVFKHQQDKH – andere geheimdienstlich gegen die DDR arbeitenden Organisationen, wie die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, verfügten über Möglichkeiten, die (QWZLFNOXQJHQLQGHU''5YRUXQGZlKUHQGGHV9RONVDXIVWDQGHV]XYHUIROgen und die Fähigkeit, die Lage zutreffend einzuschätzen.261 Diese augenfällige Diskrepanz hinsichtlich Expertise und operativen Möglichkeiten der Organisation Gehlen und der anderen deutschen Dienste dürfte auf unterschiedliche Erkenntnisinteressen bei der Analyse der Entwicklung in der DDR zurückzuführen sein. Soweit bislang erkennbar, hielt

sich die Kritik der CIA wie auch des Kanzleramtes an den Leistungen der 3XOODFKHU$XINOlUXQJ LQ GRFK UHFKW EHVFKHLGHQHQ *UHQ]HQ 'HU DPHULNDQL sche Dienst erhielt nachträglich, was ihn vorrangig interessierte: ein dichtes Meldungsbild über die militärischen Entwicklungen. Die Bundesregierung, welche die Organisation Gehlen als Auslandsnachrichtendienst zu übernehmen EHDEVLFKWLJWH VFKlW]WH GHQ 3XOODFKHU 'LHQVW RIIHQEDU QXU LQ ]ZHLWHU /LQLH wegen seiner Erkenntnisse über die DDR. Für die Berichterstattung über die 9RUJlQJH|VWOLFKGHU(OEHNRQQWHVLHDXIDQGHUH,QVWLWXWLRQHQ]XUFNJUHLIHQ Dieser konkurrierenden Unterrichtung dürfte es zu verdanken sein, dass die YRQ3XOODFKQDFK%RQQEHUPLWWHOWHQ)HKOHLQVFKlW]XQJHQNHLQHEOHLEHQGHQ 6SXUHQKLHUOLH‰HQ 'DUDQ VFKOLH‰W VLFK GLH QRFK ]X NOlUHQGH )UDJH DQ ZHOFKH %H deutung die Organisation Gehlen als potentieller bundesdeutscher $XVODQGVQDFKULFKWHQGLHQVW GHU ''5$XINOlUXQJ EHUKDXSW EHLPD‰ Einstweilen muss auch offen blieben, ob die 1953 dominierende militärische Informationserhebung etwa auf einen Mangel an Entfaltungsmöglichkeiten unter der Ägide der CIA zurückzuführen ist. Gegenwärtig spricht nicht viel dafür. Aus der Einsatznachbereitung ist nicht zu erkennen, dass der amerikanische Dienst seine bereits vorhandene Unterstützung beim Ausbau der klar defizitären Aufklärungszweige verweigert oder geschmälert hätte. Zudem bestand weiterhin die erklärte Absicht, die Organisation Gehlen der Bundesregierung als Auslandsnachrichtendienst mit umfassenden .RPSHWHQ]HQ]XU9HUIJXQJ]XVWHOOHQ:HOFKHLQWHUQHQ)DNWRUHQKDEHQGLH /HLVWXQJVIlKLJNHLW3XOODFKVDOVRHLQJHVFKUlQNW"+DWWHGLHPLOLWlULVFKJHSUlJWH Organisation Gehlen überhaupt ein Eigeninteresse an ziviler Aufklärung HQWZLFNHOW XQG YHUIJWH VLH EHU GLH GDIU QRWZHQGLJH ([SHUWLVH" 'DQDFK VLHKW HV JHJHQZlUWLJ QLFKW DXV ZLH DP %HLVSLHO GHV 9RONVDXIVWDQGHV EHLP GHU]HLWLJHQ 6WDQG GHU $NWHQHUVFKOLH‰XQJ JH]HLJW ZXUGH ,P 6RPPHU  IKUWHQ GLH 'HIL]LWH GHU 2UJDQLVDWLRQ *HKOHQ QLFKW ]X JU|‰HUHQ )ULNWLRQHQ Der Dienst konzentrierte sich auf die Beseitigung organisatorischer Mängel. Eine grundsätzliche Revision der defizitären DDR-Aufklärung blieb aus.

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Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968 Wilhelm-Röpke-Str. 6c 35032 Marburg [email protected] www.uhk-bnd.de

Druck und Bindung: Bundesnachrichtendienst Gestaltung: David Löhr

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2. überarbeitete Auflage, Marburg, Juni 2013 ISBN 978-3-9816000-0-1