Bewegung, Lernen und Entwicklung. Ein praxisbezogener Dialog ...

Monsieur Robin. Emotionen wahrnehmen ................................................................................................... 366. Oliane (a). Sensomotorik und Emotionen im Konflikt: ...
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ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 43 Annette Orphal Bewegung, Lernen und Entwicklung

Ein praxisbezogener Dialog zwischen der Entwicklungspsychologie nach Henri Wallon und der Feldenkrais-Methode

Diese Veröffentlichung lag dem Promotionsausschuss Dr. phil. der Universität Bremen als Dissertation vor. Gutachter: Gutachterin:

Prof. Dr. Wolfgang Jantzen, Universität Bremen Prof. Dr. Birgit Herz, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover

Das Kolloquium fand am 11.05.2012 statt.

Annette Orphal

Bewegung, Lernen und Entwicklung Ein praxisbezogener Dialog zwischen der Entwicklungspsychologie nach Henri Wallon und der Feldenkrais-Methode

Berlin 2013

ICHS International Cultural-historical Human Sciences

ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.

Annette Orphal Bewegung, Lernen und Entwicklung © 2013: Lehmanns Media GmbH • Verlag • Berlin www.lehmanns.de • www.ich-sciences.de ISBN: 978-3-86541-660-5 Quelle Umschlagfoto: „Collège de France. Archives“ Druck: docupoint magdeburg • Barleben

Inhalt Inhalt .................................................................................................................................................... 5 Abbildungsverzeichnis.................................................................................................................. 7 Verzeichnis der Fallstudien ........................................................................................................ 9 Einführung....................................................................................................................................... 11 Anliegen und Danksagungen ................................................................................................... 25 Vorwort ............................................................................................................................................. 29 Übersicht ......................................................................................................................................... 33 1 Frühkindliche Entwicklung nach Henri Wallon .......................................................... 39 1.1 Ein funktionales Bild von Entwicklung ................................................................ 39 1.2 Wallons Blick auf menschliche Entwicklung: als Phänomenologe… ...... 41 1.3 … und als Psychologe ................................................................................................... 52 1.4 Hypothese und Leitfaden ........................................................................................... 60 2 Das Verwirrspiel der Funktionen in Theorie und Praxis ........................................ 63 2.1 Bewusstheit durch Bewegung: subjektive Begegnung mit einem Abstraktum .................................................................................................................................... 63 2.2 Differenzierung verschiedener Deutungsmuster: Funktion und Funktionalismus..................................................................................................................................... 72 2.3 Anochins Beitrag zum Verständnis funktioneller Systeme ......................... 80 2.4 Selbstregulation und Orientierung in der erzieherischen Praxis .......... 135 2.5 Systemogenese ............................................................................................................. 155 2.6 Orientierung und Funktionale Integration des Körperselbstbildes ..... 182 2.7 Regulation: Vermittlung verschiedener Zeitgefüge ..................................... 208 3 Psychomotorische Entwicklung nach Wallon: ein Prozess der Selbst-Organisation .............................................................................................................................................. 231 3.1 Dynamische Systeme und Dominantenbildung – Dialektik und Integration ............................................................................................................................................ 232 3.2 Dominantenbildung der Tätigkeit unter der Leitung subjektiver Aufmerksamkeit: Fragen an die Pädagogik ................................................................... 273

3.3 Selbstorganisation ...................................................................................................... 300 4 Einführung in Wallons Theorie psychomotorischer Entwicklung nach L’enfant turbulent ...................................................................................................................... 355 4.1 Zusammenfassender Rückblick ............................................................................ 355 4.2 L’activité préconsciente ou impulsive .................................................................. 360 4.3 Le stade émotif .............................................................................................................. 361 4.4 Le stade sensitivo-moteur: Zirkulärreaktionen ............................................... 378 4.5 Kritische Betrachtungen zur Acht-Monats-Angst ......................................... 389 4.6 Le stade sensitivo-moteur: Echo-Reaktionen ................................................... 418 4.7 Pädagogische Orientierungssuche zw. Zirkulärreaktion und Echo ...... 425 4.8 Le stade sensitivo-moteur: Entwicklung des Bewusstseins ...................... 434 4.9 Le stade projectif .......................................................................................................... 436 4.10 Denken im virtuellen Raum: Autonomie und Sozialisierung ................ 451 Literatur......................................................................................................................................... 453

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Anochin 1978, S. 175 ................................................................................................... 89 Abb. 2: Tittel 1990, S. 64 ......................................................................................................... 104 Abb. 3: Anochin 1978, S. 166 ................................................................................................. 217 Abb. 4: Anochin 1978, S. 170 ................................................................................................. 217 Abb. 5: Russell 1999, S. 52 ...................................................................................................... 267 Abb. 6: Spitzer 2004, S. 90 ...................................................................................................... 282 Abb. 7: Storch et al. 2006, S. 84 ............................................................................................ 283 Abb. 8: Storch et al. 2006, S. 85 ............................................................................................ 303 Abb. 9: Berthoz 1997, S. 111 ................................................................................................. 324 Abb. 10: Shelhav 1999, S. 14 .................................................................................................. 326 Abb. 11: Russell 1999, S. 87 f. ............................................................................................... 348 Abb. 12: subjektive Bezugsräume ....................................................................................... 350 Abb. 13: Bewusstheit durch Zirkulärreaktionen (organisches Lernen) ............ 379

Vollständige Quellenangaben sind im Literaturverzeichnis zu finden.

Verzeichnis der Fallstudien Amélie Den Sinn mit dem Körper zur Sprache bringen ....................................................... 420 Angèle Anstoß zu Lagewechseln – sichere Basis für Raumerkundung ........................ 296 Antoine Subjektive Aufmerksamkeit braucht Halt .................................................................. 287 Arthur Wie man vom Liegen ins Sitzen kommt ...................................................................... 121 Céline Wenn die Angst in den Knochen sitzt ........................................................................... 411 Clara Dem Laufen Beine machen ................................................................................................ 107 Clélia Stemmende Füße, richtungsweisend für intentionales Handeln ..................... 312 Eric Aus der Rückenlage in den aufrechten Gang ............................................................. 384 Lina und Alex Wege zeigen zur Selbsterkundung ................................................................................ 428 Lisa Fremdeln befremdet ............................................................................................................ 400 Madame Tahin Emotionen zum Ausdruck bringen ................................................................................ 368 Mélanie Beugen und Strecken im Gleichgewicht ...................................................................... 334 Monsieur Robin Emotionen wahrnehmen ................................................................................................... 366 Oliane (a) Sensomotorik und Emotionen im Konflikt: Acht-Monats-Angst? .................... 173 Oliane (b) Die eigene Einstellung finden .......................................................................................... 186 Thomas Selbstorganisierendes Lernen braucht soziale Interaktion ............................... 288 Van, 20 Monate alt, vietnamesischer Herkunft Mit der Haltung auch die Kultur wahren .................................................................... 397

Henri Wallon und das Problem der frühen Entwicklung – eine Einführung in das Buch von Annette Orphal Wolfgang Jantzen

Von frühkindlicher Entwicklung zu reden, bedeutet heute mit der Bindungsforschung zu beginnen. Deren Entwicklung, vor allem durch Bowlby und Ainsworth, lieferte entscheidende Impulse für die Theorie der frühkindlichen Entwicklung, die inneren und äußeren Momente der Entwicklung systematisch zu verbinden, d.h. in Relationen zu denken. In sicheren oder unsicheren Relationen erworbene Kompetenzen, abhängig von der Feinfühligkeit der Mutter in den betreffenden dialogischen Interaktionen, wandern in Form innerer Arbeitsmodelle nach innen. Entwicklung erweist sich als ständiger Prozess einer wechselseitigen Neuabstimmung von Resonanz und Reziprozität zwischen Mutter und Kind, als transaktionaler Prozess im Sinne der dialektischen Psychologie (Sameroff 1978), als doppelte Kontingenz im Sinne Luhmanns, also als Prozess, in welchem ein kultureller Raum zwischen Mutter und Kind sowohl vorausgesetzt ist als auch entsteht. Diese kontingente wechselseitige Neuabstimmung wird u.a. in den empirischen Forschungen und theoretischen Überlegungen der Gruppe um Colwyn Trevarthen (2012) thematisiert unter dem Titel sich entwickelnder „Intersubjektivität“. In vergleichbarer Hinsicht argumentiert Schore (2001), dass die ersten Abstimmungen von Mutter und Kind Prozesse wechselseitiger Resonanzerzeugung sind. Julia Kristeva hebt darüber hinaus die Existenz eines präsemiotischen Raumes hervor, der Chora, innerhalb der es nachgeburtlich zu einem Austausch von diskreten Quantitäten von Energie kommt. „Discrete quantities of energy move through the body of the subject who is not yet constituted as such and, in the course of this development, they are arranged according to the various constraints imposed on this body – always already involved in a semiotic process – by family and by social structures. In this way the drives, which are ‘energy’ charges as psychical ‘marks’, articulate what we call a chora: a nonexpressive totality formed by the drives and their stases that is as full of movement as is it regulated” (Kristeva 1984, 25).

12 Entwicklung findet folglich in “sozialen Systemen” statt, die durch Kommunikation in doppelter Kontingenz entstehen, so in der Terminologie von Luhmann. Die kommunikative Resonanz zwischen den psychischen Systemen und dem sozialen System generiert Sinn, so in der Sprache der Systemtheorie (Schützeichel 2003). Was aber ist Sinn, welche resonanzfähigen Strukturen zwischen den Akteuren sind anzunehmen, die eine Chora hervorbringen, ein soziales System, ein Chronotop (Bachtin), eine Semiosphäre (Lotman), also einen kulturellen Raum, der von den Individuen ebenso geschaffen wird, wie er sie übergreift? Welche resonanzfähigen Strukturen sind also vorauszusetzen, damit Intersubjektivität entsteht? Zuvor ein kleiner methodologischer Ausflug: In Rekonstruktion Foucaults Theorie hebt Thomas Lemke Foucaults dezidierte Absicht hervor, Marxens „Kritik der Politischen Ökonomie“ eine „Kritik der Politischen Anatomie“ zur Seite zu stellen, und zitiert hierzu Foucault selbst “I often quote concepts, texts and phrases from Marx, but […] without saying so, without quotation marks, and because people are incapable of recognising Marx’s texts I am thought to be someone who doesn’t quote Marx. When a physicist writes a work of physics, does he feel it necessary to quote Newton and Einstein?” (Foucault 1980, p. 52, zitiert nach Lemke 2000, 1).

Merkwürdig, dass ein vergleichbarer Rückgriff auf große Theorien in der Psychologie nicht üblich zu sein scheint, mit Ausnahme der Psychoanalyse, aber hier keineswegs immer. So behandelt Schore im Rahmen des dritten Bandes seines Werkes über „Affektregulation“ zwar ausführlich Freuds „Entwurf einer Psychologie“ (Freud 1950) als Vorläufer der modernen Neuropsychoanalyse (Schore 2003, Kap. 6); bei der Rekonstruktion ebenso wie beim erneuten Aufgreifen und Weiterführen des Entwurfs ist jedoch von allem die Rede, nur nicht von René Spitz und seinen drei explizit in dieser Tradition verfassten Arbeiten (Spitz 1945, 1972, 1974). Die erste dieser Arbeiten steht zudem neben der psychoanalytischen in einer psychologischen Tradition, welche nicht bloß kognitive Aspekte, wie die klassische Entwicklungspsychologie (u.a. auch Piaget), sondern motivationale ebenso wie körperliche Aspekte umfassend mit einbezieht. Von gleichem Range wie Marx für Foucault, wie Newton und Einstein für die Physik, wäre hier systematisch ebenso auf Vygotskij wie auf Wallon zurückzugreifen.

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Denn diese sind es, die mit Freud und Piaget einen vergleichbaren Hintergrund für die Psychologie liefern. Und eben an diesem Henri Wallon setzt Spitz’ erste Arbeit in den Traditionen des „Entwurfs“ an. Hinweise auf Vygotskij finden wir öfters, meistens auf den von den amerikanischen Herausgebern zusammengestückelten Text „Mind in Society“, auf die USamerikanische Ausgabe von „Denken und Sprechen“ oder auf den einen oder anderen Zeitschriftenaufsatz. Eine systematische Befassung mit Vygotskij erfolgt nahezu nicht, auch nicht im Rahmen der ISCAR (International Society for Cultural and Activity Research), deren letzter Weltkongress in Rom 2011 in dieser Hinsicht ein wahres Trauerspiel war. Und soweit sie erfolgt, so z.B. in der umfangreichen Rekonstruktion von Vygotskijs Ansatz durch Valsiner & van der Veer (1991), ist sie getrübt durch fehlende Aufarbeitung sowohl des neurowissenschaftlichen wie des philosophischen Kontextes. Diese mangelhafte Rekonstruktion von Vygotskijs Denken zeigt sich auch dort, wo entwicklungspsychologisch explizit auf ihn Bezug genommen wird, so etwa in den Arbeiten von Tomasello (2002, 2009). Hinweise auf Wallon hingegen finden sich in der aktuellen entwicklungspsychologischen Debatte nahezu überhaupt nicht. Was diesen betrifft, ist, meines Wissens, Trevarthen der einzige Autor innerhalb der modernen Entwicklungspsychologie, der Wallon ausdrücklich würdigt, jedoch nur im Hinblick auf dessen Begriff von Empathie (Trevarthen 1993). Doch fehlt mir bei Trevarthen, dessen Arbeiten ich außerordentlich schätze, jener umfassende philosophische Hintergrund bei Vygotskij oder Wallon (aber auch bei Spitz), welcher entscheidend für weit reichende methodologische Überlegungen für das Ganze eines Faches ist, selbstverständlich aber auch für die methodologische Anlage der Entwicklungspsychologie. Es verwundert daher nicht, dass Trevarthen hier der Einbezug des Aufbaus von Körperselbst und Bewegungen in die Grundlagen von Wallons Theorie entgeht und entsprechende Spuren in der Psychologie Vygotskijs ebenfalls bis heute nicht aufgegriffen wurden: So z.B. die in Vygotskijs Vorlesung über das Säuglingsalter vom Dezember 1932 eingegangenen Überlegungen über die frühe motorische Realisation verschiedener Ebenen, ersichtlich der engen Zusammenarbeit mit N.A. Bernstein geschuldet (Vygotskij 1987, 118ff), der andererseits selbst mehrfach Vygotskijs Einfluss auf seine Theorie des Aufbaus der Bewegungen würdigt (Feigenberg 2005).

14 Natürlich hat dies Gründe in Zugänglichkeit des jeweiligen Werks auf Grund von Sprachbarrieren, aber viel entscheidender sind die Denkbarrieren, wie sie in meinem eigenen Falle mir den Zugang zu Wallon erst verspätet eröffneten. Bereits 1987 haben wir (Georg Feuser und ich) in unserem „Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie“, das bis 1993 erschien, einen Artikel von Garcia über die Psychologie von Henri Wallon publiziert und ebenfalls in Übersetzung, für die wir damals 300,-- DM Lizenzgebühren bezahlt haben, Wallons Artikel „Die Psychologie des Descartes“. Und eben jene Arbeit – neben der nicht zu unterschätzenden Sprachbarriere des Französischen – hielt mich lange davon ab, mich ausführlicher mit Wallon zu beschäftigen. Denn zur gleichen Zeit stieß ich auf die Bedeutung von Spinoza für Vygotskij, und die ausführliche Befassung mit diesem Philosophen trat, im strikten Gegensatz zum Cartesianismus, in den Vordergrund. Obgleich ich ahnte, dass auf Dauer eine gründliche Beschäftigung mit Wallon unumgänglich war, begann ich sie erst ab 1998, als die Arbeiten an einem geplanten Buch zur „Neuropsychologie der geistigen Behinderung“ mich zu einer systematischen Auseinandersetzung nötigten.1 Hilfreich war dabei die Entdeckung des von Voyat 1984 auf Englisch publizierten Buches „The World of Henri Wallon“ und natürlich das in (schlechter, wie sich herausstellte) deutscher Übersetzung vorliegende Buch über „Die psychische Entwicklung des Kindes“ (Wallon 1949/1973) und letztlich auch meine unterdessen doch sehr rudimentär gewordenen Französischkenntnisse. Auf diesem Hintergrund wagte ich im Sommersemester 1999 ein Seminar zu Wallons Psychologie, bei dem ich das Glück hatte, auch auf einige TeilnehmerInnen mit guten Französisch-Kenntnissen zu stoßen. Hier entstand die Arbeit von Katrin Servet (1999/2000) über Wallons Konzeption der kindlichen Entwicklung; Jörg Bauers Arbeit über „Neuropsychologie und Psychologie des Körperselbstbildes“ mit einem eigenen Abschnitt über Wallon entstand in diesem Kontext (Bauer 2001) und ebenso die bis heute leider unpublizierte Diplomarbeit von Gerda Mardones (2000) zu „Graphomotorische Entwicklung bei behinderten und nichtbehinderten Kindern im frühen präoperationalen Entwicklungsstadium“, die in theoretischer Hinsicht wesentlich auf den Arbeiten von Wallon und seiner Mitarbeiterin Liliane Lurçat fußt.

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Die im Kontext dieses Buchprojekts als zentral auftauchende Problematik des Leib-SeeleProblems verhinderte dann den Abschluss, obgleich ich zweimal den gesamten Stoff in Vorlesungen vorgestellt habe sowie ein weiteres Teilkapitel zur Auseinadersetzung mit der Theorie von Gerald Edelman (Jantzen 2003) verfasst habe. Dabei wird es wohl auch bleiben, da danach die Herausgabe des enzyklopädischen Handbuches „Behinderung, Bildung, Parti-

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In diesem Seminar saß auch Annette Orphal. Und hier entstand die Anregung für ihre spätere Doktorarbeit, die nun vorliegt. Bevor ich hierauf in Kürze eingehe, muss unbedingt Wallons Konzeption in einem ihrer wesentlichen Kernstücke, der frühen Sensomotorik und der Aneignung des Körperselbst rekonstruiert werden. Ich benutze hierzu eine an anderer Stelle publizierte Modellvorstellung: Wallons Basismodell der Repräsentation

Legende: EC = Exterozeption; IC = Interozeption; PC = Propriozeption; PC’ selbstbezogene PC; PC* weltbezogene PC [PC’ ↔ PC* = funktionelle Alternanz]; ball.Bew. [gepunkteter Pfeil] = ballistische Bewegung; Oszil. = Oszillation; E = Emotionen; K = Körper; Ψ = Psyche; P = posturale Funktionen; P/PC = perzeptorisch- posturale Plastizität; Wahrn. = Wahrnehmung der Außenwelt über die Weltperipherie; W’ = Wahrnehmung über die propriozeptiven Wahrnehmungsorgane der Körperperipherie; Bew. = Bewegung; t = Weltzeit (aus Jantzen 2007, 69)

zipation“ in den Vordergrund trat. Die Frage des Leib-Seele-Problems habe ich dort ausführlich in meinem Beitrag für den Wissenschaftstheorieband unseres Handbuches aufgegriffen (Jantzen 2010).

16 Die Grunddimension jeder körperlich-psychischen Entwicklung ist der Tonus. Dieser wird von Wallon als basaler organismischer Organisationsprozess verstanden. Hierauf beruhen die psychischen Einstellungen (attitude) sowie alle Bewegungen des viszeralen Apparates. Ähnlich Bernsteins Auffassung 2 wird Tonus nicht mechanistisch als Elastizität definiert, wie sonst in der Physiologie üblich, sondern als ein Einstellungen generierendes System. Ballistische Bewegungen schaffen erste Verknüpfungen mit der Welt: „das erste Auftreten einer Gebärde oder Tätigkeit (ist) vor allem das Ergebnis innerer Faktoren“ (Wallon 1973, 19). Resultate dieser Verknüpfungen treten als Propriozeptionen gekoppelt an die jeweiligen Interozeptionen und Exterozeptionen ins innere Feld. Jede neue Verbindung verändert das innere Feld und damit die Repräsentation und gründet neben der „posture“ (Haltung) die „attitude“ (psychische Einstellung). Die Emotionen selbst entstehen, auf den Tonus bezogen, als (zeitlich getriggerte) Autosignalisation an der Kreuzung von posturalen und viszeralen Stammhirnfunktionen (also an der Vermittlungsstelle von Realität des Organismus und Realität der Außenwelt). Sie entwickeln sich erfahrungsbedingt über die Verknüpfung der Exterozeption mit Bewegungen und den Niederschlag dieser Erfahrung in der perzeptiv-posturalen Plastizität (Basis der Repräsentation). Ganz ähnlich argumentiert Vygotskij in seinem Vortrag über das Säuglingsalter (1987). Externe Situationen werden zunehmend über eigene Handlungen beeinflusst. Basis dieser Entwicklung ist die reziproke Erwiderung durch andere Personen im unmittelbaren emotionalen Austausch mit dem Neugeborenen. Emotionen sind zunächst das einzige Ausdrucksmittel des Säuglings in Beziehung auf seine Umgebung und verlangen soziale Reziprozität. Deshalb ist die emotionale Kommunikation der ersten beiden Monate, so Wallon, die erste Form jeglicher Kommunikation. Aus der entsprechenden affektiven Motorik entwickelt sich die Sensomotorik (Vygotskij 1987, 110 mit Bezug auf Wallon 1925). „Das primäre Verschmolzensein von Subjekt und Objekt“ wird aufgebrochen (Leont’ev 1999/2000, 11).

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Tonus ist bei Bernstein „die zentral gesteuerte Einstimmung aller funktionellen Parameter jedes Muskelelements und seiner effektorischen Nervenfasern“, also des neuromuskulären Apparates (1987, 209).