Bürgerbeteiligung: Erkenntnisse aus Theorie und Praxis Auftaktvortrag Ortwin Renn 24.02.2011
Teil I
Grundlagen
Die Lehren aus Stuttgart 21 Nachhaltigkeit setzt frühzeitige Bürgerbeteiligung voraus Beteiligung dient drei Zielen:
Bürgerinnen und Bürger durch Transparenz und Offenheit aktiv einzubinden.
Die Präferenzen und Wünsche der betroffenen Bevölkerung frühzeitig zu erfassen und mit zu berücksichtigen.
Öffentliche Planung so zu gestalten, dass mögliche Konfliktpunkte konstruktiv, sachgerecht und zukunftsweisend aufgelöst werden können.
Warum mehr Bürgerbeteiligung?
Größere Unsicherheit über Entscheidungsfolgen und komplexe Wirkungszusammenhänge.
Vertrauensverlust in die Problemlösungskapazität der Politik, in die Gerechtigkeit der Wirtschaft und in die Unabhängigkeit der Wissenschaft.
Mehr Legitimation durch Transparenz, Kommunikation und Rückkopplung.
Einbindung des systematischen, erfahrungsbasierten und lokalen Wissen.
Konfliktbewältigung durch Einbezug der Anliegen.
Neue Governance Struktur: Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
Vier Systeme der Gesellschaft Ökonomische System Ökonomisches System
Soziale System Soziales System
(Re)produktion und Tausch
Verständigung und Beziehung
System von Wissen, Kultur und Religion
Politische System Politisches System
Wahrheit, Sinn, Deutung
kollektiv verbindliche Entscheidungen
Systembezogene Lösungen Ökonomisches System Verhandeln von Interessen
Experten-System
Effizienz
Einigung über Wissen,
Soziales System
Fairness und Sozialverträglichkeit
gegenseitiges Verstehen,
(Wahrheitsansprüche)
Einsichten, Effektivität
(Werte und Präferenzen)
Legalität
Politisches System Legitimation (Normen und Programme)
Systembezogene Lösungen Modelle und Simulationen
Ökonomisches System Verhandeln von Interessen
Mediation und Schlichtung
Experten-System
Effizienz
Einigung über Wissen,
Soziales System
Fairness und Sozialverträglichkeit
gegenseitiges Verstehen,
(Wahrheitsansprüche)
Einsichten, Effektivität
(Werte und Präferenzen)
Legalität
Politisches System Wissenschaftliche Kommissionen
Legitimation (Normen und Programme)
Bürgerbeteiligung
Lösungen für komplexe Themen
Analytisch-deliberative Partizipation (US-National Research Council 1996)
Zwei zentrale Bestandteile I
Analytische Komponente
Einbezug interdisziplinären Sachverstandes
Gemeinsame Anstrengung zum “Fact Finding”
Klare Gütekriterien zur Überprüfung der Fakten
Vollständige Transparenz über alle Quellen
Zwei zentrale Bestandteile II
Deliberative Komponente
Systematische Erhebung von Werten und Präferenzen
Fairer Ausgleich von Interessen (Abkehr von Positionen)
Erweiterung der Perspektive (Verständigung/Respekt)
Entscheidungsfindung nach sorgfältiger und transparenter Abwägung von Argumenten
Teil II
Umsetzung
Zentrale Fragen der Umsetzung
Einbezug (Inclusion)
Wer: org. Gruppen, betroffene Personen, Beteiligte Was: Optionen, Modifikationen, Teilaspekte Ebene: kommunal, regional, national, international Kontext: Raum, Zeit, Mandat, Verbindlichkeit
Schließung (Closure) Was zählt: faktische Grundlagen Was wiegt: Wettbewerb der Argumente Wie wird entschieden: Abstimmung, Konsens, Mehrheits- und Minderheitsvoten
Formate der Beteiligung (Partizipationsleiter) Bürgerprojekte, Selbstverwaltung Runde Tische, Mediation, Schlichtung Konsensuskonferenz, World Cafe, Bürgergipfel, Zukunftswerkstatt, Delphi Bürgerforen, Planungszellen, Online-Partizipation Bürgertelefon, Ombudsperson, Web2.0 Anhörung, Planspiele, Interviews, Fokusgruppen, Umfragen Flyer, Artikel, webbasierte Infos, Ausstellungen, Medienarbeit
Gemeinsame Entscheidungen, Bürger sind (Mit-)Entscheidungsträger oder Träger der Projekte Präferenzen der Bürger, Zweiweg-Kommunikation ist möglich, Entscheidung bleibt bei den Behörden
Einweg-Kommunikation
Formate des analytisch-deliberativen Verfahrens Nicht organisierte Bürger(innen): BürgerKonferenzen, Planungszellen, Bürgerforum, Deliberative Pollling
Deliberation
Organisierte Gruppen: Runde Tische, Foren, Mediation (bei Konflikt)
Gruppendelphi, Wertbaumverfahren Workshops, Konsensuskonferenz, Anhörung, Planspiele, Gutachten
Analyse
Spielregeln
Neutrale Moderation Freiwilligkeit der Teilnahme Ergebnisoffenheit des Verfahrens Alle Informationen liegen „auf dem Tisch“ Selbstbestimmtheit der Verhandlungen der Parteien Zeitlicher Rahmen festgelegt , aber nicht zu eng Ziel: Optionen zu finden oder neu zusammenzustellen, die von allen Beteiligten akzeptiert werden können
Was kann (darf) man erwarten?
Fokus auf „echte“ Konflikte statt auf Scheinkonflikte
Verständigungsmöglichkeiten auch bei Mischung von Wissen, Interessen, Präferenzen und Bewertungen
Ermöglichung von Respekt und Verständnis für die Positionen der anderen
Potenzial für die kreative Erkundung neuer Optionen und Handlungsvorschläge
Möglichkeit von Konsens oder Kompromiss
Verbesserung der Akzeptanz von kollektiv bindenden Entscheidungen (höhere Verfahrens-Legitimation)
Möglichkeit eines langfristig wachsenden Systemvertrauens
Teil III
Praktische Ergebnisse
Empirische Metastudien I
Beierle and Cayford (2002) 850 Beteiligungsverfahren in den USA untersucht Alle im Bereich Umwelt und Infrastruktur Davon rund 70% erfolgreich (gemessen an Zufriedenheit der Teilnehmer und der Organisatoren) Aber: Outcome (bessere Problemlösung) lässt sich nicht messen Erfolgsfaktoren: Konstruktive Einstellung aller Beteiligter Klares Mandat und Zeitvorstellung Professionelle Begleitung und Betreuung
Empirische Metastudien II
US National Research Council (2008) Übersicht über bestehende Metastudien aus den USA und Europa Alle im Bereich Umwelt und Infrastruktur Hohe Erfolgsquoten (zwischen 70-85%) Erfolgsfaktoren: Ausreichende Ressourcen Klares „Commitment“ der Auftraggeber Konstruktive Haltung der Beteiligten Hohe Transparenz, aber geringe Medienöffentlichkeit Angepasste Formate an Aufgabenstellung
Empirische Metastudien III
Dialogik/Universität Stuttgart (Goldschmidt u.a. 2008) Vier gesamteuropäische Dialogprojekte mit mehr als 1200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern Kombination von nationalen und internationalen Formaten (inklusiv on-line) Extrem hohe subjektive Zufriedenheit der Mitwirkenden (mehr als 87%) Evaluierungskriterien:
Fairness: ++ Kompetenz: + Transparenz: + (0) Effizienz: 0 Legitimität: +
Nachgewiesene Erfolgskriterien
Bereitschaft und geeignete Rahmenbedingungen für gegenseitige Lernprozesse Klares Mandat und ausreichendes, aber gleichzeitig begrenztes Zeitbudget Offene Dialogführung Transparenz der Beteiligungsverfahren gegenüber Außenstehenden Potentiale für neue win-win oder normativ überlegene Lösungen Anschlussfähigkeit an legale Entscheidungsprozesse Rückkopplung der Entscheidungen an alle Beteiligte
Teil IV
Beteiligung und Dialoge Fallbeispiele
Welche Beispiele gibt es?
ca. 125 durchgeführte Verfahren im Bereich Umweltplanung seit 1985 bis heute Ähnliche Verfahren in der Stadt- und Landschaftsplanung Abfallwirtschaftliche Fragestellungen, wie Standortsuche, Sicherung und Sanierung von Altlasten in ca. ¾ der Fälle Geringerer Anteil Naturschutz, Einrichtung von Schutzgebieten, Verkehrsinfrastruktur, MobilfunkMaste, Ansiedlung von Industrieanlagen
Eigene Fallbeispiele Ölplattformen in der Barentsee Fischerei-Politik in der EU Abfallkonzept für den Nordschwarzwald Stadtplanung Esslingen Lärmminderung in Ravensburg REGENA: Gemeinsamer Gewerbeflächenpool in der Region Neckar-Alb
Wie stehen die Bürger zu verschiedenen möglichen Lärmminderungsmaßnahmen?
Fasst man die Antwortkategorien „bin sehr dafür“ und „bin eher dafür“ zusammen, so ergibt sich nachfolgendes Stimmungsbild. So sind immerhin 81% für ein LKW-Durchfahrtsverbot, wohingegen sich nur 17% für eine deutliche Erhöhung der Parkgebühren aussprechen.
LKW-Durchfahrtsverbot Ausbau des ÖPNV Mehr Platz für Fahrradfahrer Mehr verkehrsberuhigte Bereiche Mehr Geschwindigkeitskontrollen Tempo 30 Bau von Tunnels und Lärmschutzwänden Einführung einer City Maut Parkgebühren verdoppeln 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Ergebnisse der Leitfadeninterviews Kommunikation in der Umsetzung „Da würde ich mir schon wünschen, dass man von offizieller Seite schaut, was ist passiert, gibt es Dinge, die umgesetzt wurden. Das wäre für mich wichtig, dass man nach einer gewissen Zeit noch mal draufschaut und guckt, was ist umgesetzt worden. Dann hätte ich auch das Gefühl, jemand guckt sich das auch mal an. Das wäre für mich schon wichtig.“ (I08: 23)
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Im Sinne der Zukunftsfähigkeit von Bürgerbeteiligungsverfahren ist es wichtig, dass den Teilnehmern nach Abschluss der Beteiligung aufgezeigt wird, welche Maßnahmen umgesetzt wurden, und vor allem welche Maßnahmen aus welchen Gründen nicht umgesetzt werden konnten
Zentrale Aspekte der Umsetzung
Früherkennung von Themen, bei denen eine Bürgerbeteiligung angemessen und notwendig ist
Auswahl der passenden Formate für das Planungsverfahren
Kombination aus Kommunikation, Rückkopplung von Präferenzen und aktiver Gestaltung
Anschlussfähigkeit an legale Entscheidungsprozesse
Evaluation der Prozesse
Zusammenfassung I
Beteiligung benötigt ein klares Mandat, ausreichende aber begrenzte Zeiträume und professionelle Planung/Begleitung
Für Infrastrukturplanungen bietet sich das Modell des analytischdeliberativen Diskurses an: Analytischer Wissensdiskurs: Faktengrundlage
Deliberativer Reflexionsdiskurs: Abwägung nach Fairness, Legitimität, Effektivität, Effizienz, Nachhaltigkeit und Akzeptabilität
Zusammenfassung II
Bürgerbeteiligung ist kein Ersatz für die repräsentative Demokratie sondern eine Bereicherung Es ist notwendig, geeignete Verfahren nach Maßgabe des Problemzuschnitts, der Kontextbedingungen und des Mandats maßzuschneidern Die eingesetzten Formate müssen an den Bedürfnissen und Vorerfahrungen der Beteiligten ausgerichtet werden Erfolgsfaktoren sind: Commitment der Organisatoren, ausreichende Ressourcen, professionelle Betreuung, Anschlussfähigkeit und „guter“ Willen von allen Seiten
Zitat
„Wer den Bürgern zutraut, dass Sie Ihre eigenen Belange vernünftig regeln können, wird selten enttäuscht. Aber den Politkern fehlt es meist an diesem Zutrauen.“ John Dryzek
DIALOGIK gemeinnützige GmbH
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