Aufstand der braven Bürger

denken, Proteste und Demonstrationen hätten seit den 1960er Jahren abgenommen. Gerade mit der Anti-Atombewegung und Stuttgart 21 hat sich das deutlich verändert.“ Inzwischen haben ... gültige Unterschriften für ein Bürgerbegehren gegen den kostspieligen Umbau des Stuttgarter. Bahnhofs übergeben. Notwendig ...
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Aufstand der braven Bürger Krawatten, Faltenröcke und graue Haare - die Protestkultur hat sich gewandelt Jetzt machen sie mobil. Die Jungen, die Alten, Frauen und Männer, Kindergärtnerinnen und Oberärzte. Sie tragen ihren Unmut auf die Straße und kämpfen zusammen für ihre Ziele. Demonstrationsmüdigkeit war gestern. Heute heißt es: Wir sind das Volk und wir haben Rechte. Das bestätigt auch Demonstrationsforscher Simon Teune vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: „Es ist eine spannende Wahrnehmung, dass viele Menschen denken, Proteste und Demonstrationen hätten seit den 1960er Jahren abgenommen. Gerade mit der Anti-Atombewegung und Stuttgart 21 hat sich das deutlich verändert.“ Inzwischen haben Demonstrationen wieder zugenommen. „Nicht umsonst spricht und liest man vermehrt vom 'Wutbürger'“, sagt Politikwissenschaftler und Soziologe Christian Rennert. „Die Menschen tragen ihren Frust wieder auf die Straße.“ Die Anlässe und Zusammenhänge von Demonstrationswellen sind allerdings nicht eindeutig. Laut Professor Nils Diederich, Experte für Innenpolitik der Freien Universität Berlin, beeinflussen zwei Faktoren das Demonstrationsverhalten. Einerseits sei die Verbindung der Bürger zu Parteien lockerer geworden. Die Loyalität für bestimmte Parteigruppierungen sei gesunken, was auch das Verhalten der Menschen verändere. „Andererseits tritt das eigene Interesse gegenüber einer Gruppensolidarität in den Vordergrund. Die Menschen schauen, ob es sie selbst betrifft und entscheiden dann, ob sie sich engagieren oder nicht“, so Diederich. Demonstriert wird mehr für lokale Interessen, da Erfolge erreichbarer sind. So geschehen beim Projekt „Stuttgart 21“. Bereits im Jahr 2007 wurden mehr als 61.000 gültige Unterschriften für ein Bürgerbegehren gegen den kostspieligen Umbau des Stuttgarter Bahnhofs übergeben. Notwendig waren 20.000. Der Antrag auf Zulassung des Bürgerentscheids wurde jedoch abgelehnt. Dennoch erlangte die lokale Thematik bundesweit so viel Aufmerksamkeit, dass ein vorläufiger Baustopp des neuen Bahnhofes erreicht wurde. Sah man vor einigen Jahren fast ausschließlich die deutsche Jugend Fahnen schwenken, fallen nun die vielen grauen Schöpfe in der Masse auf. „Lange Zeit waren Jugendliche sehr dominierend, aber bei den letzten großen Protesten spielten sie nur noch eine untergeordnete Rolle“, so Simon Teune. „Die früher politisch Aktiven haben die Straßen wieder für sich entdeckt, unter anderem Anhänger der berühmten 68er Generation. Auch Leute, die vorher nie politisch interessiert oder engagiert waren, finden ihren Platz in der Menge.“ Die neue Welle des Protestes begann bereits mit dem G8-Gipfel 2007. Mehr als zehntausend Menschen demonstrierten gegen dessen politische Willkür und zogen damit mehr mediale Aufmerksamkeit auf sich, als das Gipfeltreffen selbst. „Demonstrationen sind heute ein politisches Instrument, um Aufmerksamkeit in den Medien zu erzeugen“, so Diederich. Dabei wird das allgemeine Bild maßgeblich von den Medien beeinflusst. „In Berlin findet

beispielsweise jeden Tag ein Duzend Demos statt, über die es keine Berichterstattung gibt“, erzählt der Experte. Proteste entwickeln sich zudem wellenförmig und verstärken sich gegenseitig. Zeigen Demonstrationen Erfolge, werden die Menschen animiert, auch für andere Thematiken einzutreten. „Waren es vor vier Jahren nur 20 Menschen, die sich gegen genmanipulierte Nahrungsmittel positionierten, so sind es heute 20.000, die in Berlin auf die Barrikaden gehen. Vor allem auf Grund des Erfolges der Atomdebatte“, erläutert Demonstrationsforscher Teune. Auffällig ist, dass vor allem gebildete Schichten diese Form der politischen Beteiligungen nutzen. Die soziale Kluft ist nach wie vor groß und die Themen werden stark von der gut situierten Mittelschicht bestimmt. So herrscht vor allem bei schlecht positionierten Menschen Demonstrationsfrust. Das bestätigt auch Soziologe Rennert: „Der Glaube an die demokratische Politik ist bei vielen gewichen.“ Außerdem sitzen vielen Menschen noch die erfolglosen Demonstrationen von 2004 gegen Hartz IV im Kopf. Akteure wie Gewerkschaften oder Kirchen – die den Protest hätten anheizen können – sind nicht tätig geworden sind. „Man hat gelernt, dass nicht jede Demonstration Erfolg bringt“, sagt Diederich. „Sehr viele Menschen, die in einer aussichtslosen Lage sind, kommen aber gar nicht erst auf Idee, sich dagegen zu wehren.“ Wichtig sind heutzutage auch Informationsaustausch und Mobilisierung via Internet. Dazu trägt vor allem die Aktualität bei – was morgen erst in der Zeitung steht, ist sofort im Netz. „Dennoch sind 'offline'-Verbindungen wichtig. Zum Beispiel persönliche Gespräche und die gemeinsame Entscheidung zu Demos zu gehen“, erläutert Teune. „Die klassische Form von Protesten ist immer noch am wirkungsvollsten.“ Eine Prognose für den weiteren Verlauf der neuen „Generation Demonstration“ kann nur schwer getroffen werden. „Alle gesellschaftlichen Vorgänge sind verbunden mit dynamischen Wechselwirkungen. Die Weiterentwicklung hängt vor allem von politischen und sozialen Ereignissen ab. Und nicht zuletzt von unserem Bildungssystem“, so Diederich. „Lehrer sollten ihren Schülern klar machen, für eigene Interessen einzutreten. Wenn sie wissen, wie sie partizipieren können, dann ist es denkbar, dass sich die Szene in den nächsten Jahren deutlich wandelt“, sagt der Experte hoffnungsvoll.