Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaft

Das vorliegende E-Book folgt der Ausgabe: Hermann Paul, Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaften, erschienen in der Vereinigung ...
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Hermann Paul

Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaften

Celtis Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Editorische Notiz: Das vorliegende E-Book folgt der Ausgabe: Hermann Paul, Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaften, erschienen in der Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter Co., Berlin, Leipzig 1920. – Der Text ist neu gesetzt und typografisch modernisiert. Die Orthografie bleibt unverändert, nur offenkundige Fehler des Setzers sind korrigiert. Über die Seitenkonkordanz zur Ausgabe von 1920 wird in den eckigen Klammern informiert.

Alle Rechte vorbehalten © für diese Ausgabe 2014 Celtis Verlag, Berlin www.celtisverlag.de ISBN 978-3-944253-03-9

Inhalt Vorrede | 4 Kapitel I | 5 Kapitel II | 22 Kapitel III | 44 Kapitel IV | 62

Vorrede. Die vorliegende Schrift ist die Ausführung eines lange gehegten Planes. Dieselbe ist leider nicht ganz so ausgefallen, wie sie mir vorgeschwebt hat. Die Schuld liegt zum Teil daran, daß ich seit mehr als fünf Jahren bei meinen Arbeiten durchaus auf fremde Augen angewiesen bin. Deshalb mußte ich namentlich darauf verzichten, mich mit abweichenden Ansichten ausein­ anderzusetzen. Der Kundige wird leicht merken, daß ich in prinzipiellem Gegensatze zu Wun dt und nach anderer Richtung hin zu R icke r t stehe. Münch en, 5. November 1919. H. Paul.

I. Um eine zuverlässige Unterlage für unsere Ausführungen zu gewinnen, ist es unvermeidlich, bis auf die letzten Gründe aller unserer Erkenntnis zurückzugehen. Wir können uns natürlich hier nicht mit allen im Laufe der Jahrhunderte von den Philosophen aufgestellten Anschauungen und Argumentationen auseinandersetzen. Doch muß ich den Standpunkt dar­ legen, den ich als wohlbegründet anerkenne, und von dem aus allein mir eine unanfechtbare Hinüberleitung zur Einzelforschung möglich scheint. Den Ausgangspunkt für alle unsere Erkenntnis bildet der Inhalt unseres Bewußtseins. Nach der naiven Anschauung, zu der zunächst jedermann gelangt, ist ein Teil dieses Inhalts nur Zustand unseres Selbsts, ein anderer dagegen wird als Dingen außer uns anhaftend gefaßt. So entsteht die Vor­ stellung von der räumlich ausgedehnten materiellen Welt. Wir fühlen uns durch die Erfahrung gezwungen, dieselbe als etwas von unserem eigenen Dasein Unabhängiges zu betrachten, dessen Wirkungen wir uns nicht ent­ ziehen können, das wir aber auch durch unsern Willen innerhalb gewisser Grenzen zu beeinf lussen imstande sind. Anderseits gewahren wir einen fortwährenden Wechsel unseres Bewußtseinsinhaltes, wobei aber das früher Vorhandene durch das später Auftretende nicht einfach ausgelöscht wird, sondern, wenn auch zunächst schwindend, doch bis zu einem gewis­ sen Grade zurückgerufen werden kann. Der so bei allem Wechsel bleibende Zusammenhang zwischen den verschiedenen Bewußtseinsinhalten erzeugt die Vorstellung von einem gemeinsamen Träger derselben, die Vorstellung des Ich. Weiterhin gewahren wir neben unserem eigenen Körper andere ähnliche, von denen entsprechende Tätigkeiten ausgehen, was uns zu der Annahme bringt, daß die fremden Körper der Sitz ähnlicher unter sich zusammenhängender Bewußtseinsvorgänge sind wie die unsrigen. | 5

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Als gesichertes Ergebnis der philosophischen Kritik betrachte ich es, daß allerdings die naive Anschauung irrt, wenn sie unsere Vorstellungen von den Dingen außer uns einfach zu Eigenschaften derselben macht. Vielmehr sind diese Vorstellungen auch durch unsere leibliche und gei­ stige Organisation bestimmt. Jedoch stehen sie gleichzeitig in bestimmter Abhängigkeit von den Dingen außer uns, und darum ist es erlaubt, aus Beziehungen unserer Vorstellungen zueinander auf Beziehungen zwischen den Dingen selbst zu schließen. Dies ist die Voraussetzung, unter der allein eine Wissenschaft von der Materie, eine Naturwissenschaft möglich ist. Der Materie und den Vorgängen an derselben stehen die seelischen Zustände und deren Veränderungen als etwas durchaus Andersartiges gegenüber. Wenn von Philosophen und Nichtphilosophen beides oft als identisch betrachtet worden ist, so kann man dies nur als einen Glaubens­ satz gelten lassen. Tatsache ist, daß wir nicht imstande sind, das eine aus dem andern abzuleiten. Anderseits besteht doch eine Wechselwirkung zwischen beiden, die stets durch unsern Leib vermittelt ist. Das naive Be­ wußtsein unterscheidet nicht streng zwischen körperlichen und geistigen Vorgängen. So spricht man z. B. im gemeinen Leben von leiblichen und seelischen Schmerzen, was dadurch begünstigt wird, daß die Erregung der sogenannten leiblichen Schmerzen gewöhnlich von einem bestimmten Körperteil ausgeht, weshalb die Empfindung selbst in denselben verlegt wird. Aber wir müssen genau zweierlei auseinander halten, die Vorgänge, die sich an unserem Leibe als einem Teile der Materie vollziehen, und die damit verknüpften seelischen Empfindungen. Jedes muß für sich beobachtet werden. Die Wissenschaft von den seelischen Zuständen und Vorgängen steht daher der Naturwissenschaft1 als etwas Selbständiges ge­ 1 Ich gebrauche die Bezeichnung „Naturwissenschaft“ immer nur = Wissen­ schaft von der Materie. Ich bemerke dies ausdrücklich, weil das Wort vielfach in einem schillernden Sinne gebraucht wird, wonach auch die Psychologie darunter begriffen wird, nämlich annähernd für das, was ich im weiteren Verlauf meiner

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