auch über die sächsische Kinder- und Jugendpolitik Die letzte

03.11.2017 - Wir müssen gemeinsam reden – auch über die sächsische Kinder- und. Jugendpolitik. Die letzte Bundestagswahl hat unser Land arg gerüttelt, besonders die sächsische ... Eine Entwicklung, auf die 2013 auch der Sächsische. Landkreistag in seinem „Kinder- und jugendpolitischen Papier“ ungewöhnlich ...
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Wir müssen gemeinsam reden – auch über die sächsische Kinder- und Jugendpolitik

Die letzte Bundestagswahl hat unser Land arg gerüttelt, besonders die sächsische Politik erschreckt und in Bewegung gebracht. Schnell war die Rede von künftig stärkeren Bemühungen im ländlichen Raum, bei Mobilität und Internet, in medizinischer Versorgung und Pflege oder bei Polizei und Schule. Junge Menschen kommen in den meisten dieser Felder als Interessenten, Nutzer oder Adressaten durchaus vor, aber wo ist das Bekenntnis dazu, dass auch in der Politik für junge Menschen, in der sächsischen Kinder- und Jugendhilfe (KJH), in der Vergangenheit massive Fehler gemacht wurden? Menschen, die mit diesem Arbeitsfeld wenig oder keine Berührung haben, könnten sich die Frage stellen, was außer Schule, Kita und Ordnungspolitik da noch sein müsste. Deshalb hier ein zugegeben kurzer und in jedem Fall unvollständiger Blick auf ein politisch vernachlässigtes Handlungsfeld: Unsere Kinder und Jugendlichen wachsen in Zeiten auf, die sie mit enormen Herausforderungen konfrontieren. Das Deutsche Jugendinstitut spricht vom „Ende der Normalbiografie“ und meint damit, dass die weitgehend problemlose Abfolge von Kindheit, Schule und Beruf heute nicht mehr die Regel ist. Und der demografische Wandel marginalisiert die Bedeutung der Gruppe der jungen Menschen weitgehend. Die berufliche Mobilität der Eltern erschüttert oder zerstört die sozialen Netzwerke der Kinder teils mehrfach. Geringe Einkommen und hohe Arbeitsbelastung nehmen Zeit in Anspruch, die früher auch Kindern zugutekam. 16,9% der Kinder Sachsens wachsen dauerhaft in Armut auf und haben so von Beginn an schlechtere Bildungschancen. Der schulische Leistungsdruck ist gestiegen, auf Kinder, aber auch ihre Eltern, gesundheitliche Problemlagen nehmen zu, öffentliche Freizeiträume fehlen, oder sind als Erfahrungsräume viel zu verzweckt und verregelt... die Liste ist länger. Diese Entwicklungen rufen nach einer langfristigen Strategie, in welche möglichst viele Perspektiven auf Kinder und Jugendliche einfließen, um sinnvolle Maßnahmen

zu ergreifen, damit junge Menschen in diesem Land gut leben und aufwachsen können. Im Gegensatz dazu haben sich in den vergangenen Jahren in der KJH Probleme angestaut, die öffentlich weitgehend unbemerkt, erhebliche Dimensionen angenommen haben: Geringschätzung dieses Politikfeldes haben zu finanziellen Kürzungen geführt, in deren Folge Strukturen insbesondere in den ländlichen Räumen zusammenbrachen und bis heute nicht wieder aufgebaut wurden, Fachkräfte fehlen aller Orten, zudem können viele Arbeitgeber in der KJH in Gehalt und Arbeitszeit nur schlecht punkten. Gern glänzt der Freistaat mit einer hohen Anzahl an Beschäftigten in der KJH im bundesdeutschen Vergleich. Häufig bleibt unerwähnt, dass die hohe Anzahl an Kita/Krippen in Sachsen dafür verantwortlich ist und das, obwohl Sachsen bundesweit hinsichtlich des Betreuungsschlüssels trotzdem auf dem vor/letzten Platz (Kita/Krippe) liegt. Seit Beginn der 2000er Jahre warnen Experten vor einem drohenden Zusammenbruch der KJH-Strukturen, der letztlich dazu führe, dass kein ausreichend qualifiziertes und bedarfsgerechtes Angebot für Kinder und Jugendliche zur Verfügung steht. Lediglich zwei Arbeitsfelder der KJH wuchsen: Familienberatungsstellen und Einrichtungen zur Förderung der Erziehung. In immer mehr Elternhäusern scheinen Probleme bezogen auf Kinder und Jugendliche Unterstützung von außen notwendig zu machen und das, obwohl die Gruppe derer, die „Probleme“ machen können, immer kleiner wird. Kürzungen werden hier durch einen Rechtsanspruch verhindert. Für alle anderen Arbeitsfelder, in denen kein individueller Rechtsanspruch besteht und für die es nur eine schwache oder keine politische Lobby gibt, wird es schwer, da von einem stets gleich großen oder gar kleineren Kuchen so immer weniger übrig bleibt. Diese Entwicklung lässt sich statistisch belegen, denn die meisten anderen Ausgabepositionen in der KJH Sachsens entwickelten sich im Bundesvergleich unterdurchschnittlich. Fachliche Warnungen oder wissenschaftliche Erhebungen führten nicht zum Einlenken. Trotzdem folgten weitere Einschnitte, die Sachsen nicht nur noch weiter hinter die gesamtdeutsche, sondern auch hinter die ostdeutsche Ausgabenentwicklung in diesem Bereich zurückwarf. Eine Entwicklung, auf die 2013 auch der Sächsische Landkreistag in seinem „Kinder- und jugendpolitischen Papier“ ungewöhnlich deutlich

aufmerksam machte und der Landespolitik ein harsches Zeugnis ausstellte: eine wirkungsvolle KJH mit einer fundierten, belastbaren und auskömmlichen Finanzierungsstruktur sei nicht mehr gegeben. Eine derart geschrumpfte Fachlandschaft ist kaum mehr in der Lage, qualitativ hochwertige Arbeit mit und für junge Menschen zu leisten. Fachkräfte werden durch befristete und/oder Teilzeitstellen zu mehreren Jobs gezwungen, die Unsicherheit der eigenen Existenz am Ende eines jeden Jahres ist alles andere als bindend und motivierend. Neben der eigentlichen pädagogischen Arbeit kamen weitere Arbeiten hinzu, weil auch das Geld für Buchhaltung oder Reinigungskraft gestrichen ist. Zusätzliche Aufgaben ohne zusätzliche Ressourcen, familienunfreundliche Arbeitszeiten und unangemessene Entlohnung bilden einen Mix, der das Fehlen von Fachkräften mehr als begründet und einen Teufelskreis in Gang setzt: weniger Fachkräfte, verringerte Öffnungszeiten/Schließung von Einrichtungen, weniger Struktur, weniger Beweis für die Leistungen einer gelingenden Kinder- und Jugendarbeit beim Aufwachsen von jungen Menschen, weniger Mittel... Die Strukturen der Jugendarbeit haben derart gelitten, dass es in vielen Gegenden kaum noch Freizeitangebote oder -einrichtungen gibt. Fatal - insbesondere angesichts der Forderungen nach Zusammenarbeit mit Schulen oder der kürzlich beschlossenen und wichtigen Ausweitung der Schulsozialarbeit. Letztere ist auf Kooperation und Vernetzung mit einem funktionierenden Gemeinwesen angewiesen, denn wer soll für die jungen Menschen nach dem Unterrichtsende die von der Schulsozialarbeit empfohlene Beratung oder Freizeitbeschäftigung im Verein übernehmen? Jugendarbeit hätte angesichts der Lebenslagen und der durch den Sachsen-Monitor festgestellten Einstellungen junger Menschen mehr Aufgaben denn je. Warum also nicht jetzt, wo unser Land noch einmal grundsätzlich nachdenkt, auch eine eigenständige sächsische Kinder- und Jugendpolitik in Angriff nehmen und umsetzen, was im aktuellen Koalitionsvertrag als „Eigenständige Jugendpolitik“ schon als Ziel definiert wurde? Eine Politik für alle Kinder und Jugendlichen, die deren Bedarfe und Interessen in allen Politikbereichen in den Mittelpunkt rückt. Mobilität im ländlichen Raum ist für die junge Generation kein Thema, das beim Schulbus (der zumeist nur

in Orientierung an den Unterrichtszeiten fährt, und danach eben nicht mehr) endet, sondern wichtig auch für das unabhängige Treffen von Freunden, das Engagement im Verein oder das Training. Eine Politik, die eine Finanzierung von Angeboten der Jugendarbeit entwickelt, die sich an den konkreten Herausforderungen und den daraus erwachsenden Bedarfen in den jeweiligen Regionen unseres Landes orientiert und nicht pauschal an der Anzahl der Köpfe. Sie hätte Fachkräfte zum Ziel, die in einem attraktiven und geschätzten Handlungsfeld arbeiten und eine hohe Fachlichkeit bieten. Eine Politik, die Kinder und Jugendliche an den sie betreffenden Entscheidungen z. B. in der Stadtentwicklung, beim ÖPNV, aber auch in Schule, Kultur, Sport oder im Jugendclub sinnvoll beteiligt. Partizipation ist nicht nur für junge Menschen gut, sondern würde durch Transparenz und gelebte Demokratie unsere Gesellschaft auf allen Ebenen stärken. Sachsen benötigt eine solche eigenständige Kinder- und Jugendpolitik sowie den ständigen Blick aller Entscheidungsträger auf Kinder und Jugendliche, auf jene, die einmal in diesem Land Familien gründen werden und Verantwortung für dieses Land haben, es mit Respekt und Weitsicht entwickeln und vor Gefahren schützen sollen. Unser Land muss investieren, und das vor allem in Herz und Hirn.

Autor Christian Kurzke, Studienleiter an der Evangelischen Akademie Meißen Wencke Trumpold, Geschäftsführerin Kinder- und Jugendring Sachsen e.V. Tagungshinweis Die Evangelische Akademie Meißen hat gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendring Sachsen e.V. alle Interessierten zu der Veranstaltung „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ am 06.11.2017 eingeladen, um miteinander Perspektiven für die sächsische Kinderund Jugendpolitik zu besprechen. Weitere Informationen: http://bit.ly/2yVsFgE.

Literatur Arbeitsgemeinschaft Jugend- und Freizeitstätten Sachsen e.V. 2016: Positionspapier: Jugendarbeit in Sachsen als Ort der Integration und Aushandlung stärken.

Bock-Famulla, Kathrin/ Strunz, Eva / Löhle, Anna 2017: Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2017. Transparenz schaffen – Governance stärken. Verlag BertelsmannStiftung Bundesarbeitsgemeinschaft der Jugendämter 2016: Kommune als Ort der Jugendpolitik. Jugendarbeit in den Fokus stellen. Bundesjugendkuratorium 2009: Zur Neupositionierung von Jugendpolitik: Notwendigkeit und Stolpersteine. Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend 2013 (Hrsg.): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland CDU und SPD 2014: Sachsens Zukunft gestalten – Koalitionsvertrag 2014 bis 2019 zwischen der CDU Sachsen und der SPD Sachsen Geschäftsstelle „Zentrum Eigenständige Jugendpolitik“ 2014: Eigenständige Jugendpolitik. Dialogprozess, Leitlinien, Herausforderungen. Berlin Jugendstiftung Sachsen 2016: Abenteuer Jugendzeit. Schwerpunkte und Handlungsfelder einer Eigenständigen Jugendpolitik in Sachsen. Kaufhold, Gudula / Pothmann, Jens 2016: Gefährdungseinschätzungen bei Jugendlichen – ein Blick in die 8a-Statistiken der Jugendämter. In: Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe. Heft Nr. 2/16, S. 16-19 Kurzke, Christian 2012: Sozialarbeit vs. Handwerk. Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendarbeit sowie -politik in Sachsen. In: Lindner, Werner (Hrsg.) 2012: Political (Re-)Turn? – Impulse zu einem neuen Verhältnis von Jugendarbeit und Jugendpolitik. Springer VS, S. 121-136 Landesarbeitskreis Mobile Jugendarbeit Sachsen e. V. / Sächsischen Landjugend e. V. 2017: Jugendarbeit im ländlichen Raum Sachsens Liga der Freien Wohlfahrtspflege Sachsen 2015: Stellungnahme zum Vierten Sächsischen Kinder- und Jugendbericht Reimann, Ulrike 2013: Die Geister, die ich rief… Was haben Glaubenssätze mit dem Fachkräftemangel in der offenen Jugendarbeit zu tun? In: Offene Jugendarbeit 2 / 2013, S. 14-22 Reißig, Birgit (2013): Das Ende der »Normalbiografie«. In: DJI-Impulse. Ausgegrenzt, benachteiligt, marginalisiert. Junge Menschen zwischen Inklusion und Exklusion. Nr. 104, H. 4, S. 4-6 Sächsische Expert/innengruppe 2014: Stellungnahme der Sächsischen Expert/innengruppe zum Vierten Kinder- und Jugendbericht in Sachsen Sächsischer Landkreistag 2013: Kinder- und jugendpolitisches Papier. Sächsisches Staatsministerium für Soziales 2003 (Hrsg.): Zweiter Sächsischer Kinderund Jugendbericht. Dresden Sächsisches Staatsministerium für Soziales 2009 (Hrsg.): Dritter Sächsischer Kinderund Jugendbericht. Dresden Sächsisches Staatsministerium für Soziales 2016 (Hrsg.): Eckpunktepapier des Landesjugendhilfeausschusses zur Eigenständigen Jugendpolitik in Sachsen

Schöne, C. 2007: Offene Kinder- und Jugendarbeit im Wandel. Oder: Nichts ist so beständig, wie die Veränderung. In: CORAX. Magazin für Kinder- und Jugendarbeit. 2/2007, S. 15-16 Rohde, B. 2009: Der Dritte Sächsische Kinder- und Jugendbericht. Der Dritte Sächsische Kinder- und Jugendbericht in der Perspektive der Jugendarbeit. In: CORAX. Magazin für Kinder- und Jugendarbeit. 2/2009, S. 8-9

Der Aufsatz ist erschienen in: Sächsische Zeitung, 03.11.2017, Seite 17. DDV Mediengruppe GmbH & Co.KG, Dresden