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Carey JW, Quirk JJ (1970) The Mythos of the Electronic Revolution. Am Scholar. 39:395–424. 4. Conway F, Siegelman J (2005) Dark Hero of the Information ...
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HAUPTBEITRAG / ASYNCHRON − HISTORISCHE BEGEGNUNGEN

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Asynchron – einige historische Begegnungen zwischen Informatik und Medienwissenschaft Claus Pias

Die Informatik ist Dialogpartner und Gegenstand von Medienwissenschaft zugleich. Dialogpartner ist sie, weil es für medienwissenschaftliches Arbeiten unabdinglich ist, vergangene wie aktuelle Forschungs- und Entwicklungsansätze der Informatik zu kennen, ohne diese selbst (anwendungsorientiert) praktizieren zu müssen. Gegenstand ist sie, weil der medienwissenschaftliche Ansatz ein historischer ist, d.h. sich mit den Veränderungen von (wissenschaftlichem) Wissen, ästhetischen Standards und gesellschaftlichen Praktiken in Bezug zu wechselnden Technologien beschäftigt. Auch die Medienwissenschaft sagt: ,,dank Informatik“, blickt dabei jedoch nicht auf die Gegenwart, sondern führt von der Vergangenheit her an sie heran. Dazu gehört, dass Medienwissenschaft die Informatik nicht als Gegebenheit hinnimmt, sondern über ihre Existenz ebenso staunen darf, wie über jede historische Begebenheit. Und dazu gehört auch, dass die Medienwissenschaft ihre eigene wissenschaftliche Herkunft im Zusammenhang mit informatischen Technologien betrachten muss. Solche Behauptungen sind nicht unbedingt selbstverständlich. Zum geläufigen Bild der Medienwissenschaft gehört, dass sie zumeist mit klassischen Massenmedien wie Radio, Film oder Fernsehen bzw. mit Publizistik, Kommunikationswissenschaft und Journalismus assoziiert wird. Viele Studienanfänger, die sich für einen der mittlerweile kaum noch zu überblickenden BindestrichStudiengänge in ,,Medien-...“ interessieren, wollen etwas ,,mit“ oder ,,in den Medien“ machen und sind deshalb verblüfft, dass Medienwissenschaft ein philosophisch-philologisches Forschungsdesign mit

dementsprechenden Standards besitzt (und eben nicht bspw. Mediengestaltung, Medieninformatik oder Medienkunst ist). Beides hat seine Gründe. Einerseits standen die Gründungen medienwissenschaftlicher Studiengänge, Institute oder gar ganzer Fakultäten in den 1990er-Jahren unter der Prämisse der Gegenwartsbezogenheit. Der wirtschaftliche Aufschwung der ,,Neuen Medien“ ließ es strategisch ratsam erscheinen, das ,,Jetzt“ der Medien zu betonen, durch das sie sich als politisch förderungswürdig ausweisen sollten. Das hat die Vermutung genährt, dass Medienwissenschaft eine berufsqualifizierende Angelegenheit sein könnte – eine Ausbildung, die Arbeitsplätze schafft. Und man hat sich angesichts der Vorschußlorbeeren selten ernsthaft bemüht, diese Unterstellung zu dementieren. Andererseits existierten bereits ältere institutionalisierte Formen der Beschäftigung mit Medien. Die eine ist die Publizistik, die während des ersten Weltkriegs als Abspaltung aus den Wirtschaftswissenschaften entstand. Sie trat zunächst als ,,Zeitungswissenschaft“ auf, benannte sich in den 1920er-Jahren in ,,Publizistikwissenschaft“ um und verallgemeinerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur ,,Kommunikationswissenschaft“. Aus berufspragmatischen Gründen waren ihre Methoden empirisch-sozialwissenschaftlich, DOI 10.1007/s00287-007-0210-4 © Springer-Verlag 2007 Claus Pias Erkenntnistheorie und Philosophie der Digitalen Medien, Institut für Philosophie, Universität Wien, Universitätsstraße 7, 1010 Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

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und nicht zuletzt aus politischen Gründen feierte sie erhebliche Erfolge. Denn die ,,Macht der Medien“, die sie diagnostizierte, konnte sowohl als Entschuldungsstrategie des NS (,,Manipulation bis zur Unmündigkeit“) als auch zur Rechtfertigung atemberaubender Medienberatungshonorare gewendet werden. Die andere Institution ist die ,,Filmund Fernsehwissenschaft“, die erst nach 1968 entstand. In der Kopplung von Ästhetik, Technik und Ideologiekritik, aber auch im Hinblick auf medienpraktische Arbeit entdeckte sie das Politische des Alltags und des Pop und erhob bis dato minder reputierte Phänomene in den Rang ernstzunehmender wissenschaftlicher Gegenstände (wie beispielsweise Heiratsanzeigen, Flugblätter, Italowestern, Pornos oder Fernsehserien). Ihre Methoden sind jedoch dezidiert nicht empirisch-sozialwissenschaftlich, sondern zumeist hermeneutisch-werkorientiert oder philologisch. In beiden Fällen spielte der Computer als Medium praktisch keine Rolle. Dies war bei der Entstehung eines neuen Typs von Medienwissenschaft Mitte der 1980er-Jahre ganz anders, auf dessen Formulierung die zunehmende Computerisierung selbst erheblichen Einfluss hatte. Warum dies so war, und warum es in Deutschland (erst) zu diesem Zeitpunkt geschah, wird jedoch nur durch eine Betrachtung der historischen Beziehungen zwischen Informatik und Medienwissenschaft verständlich. Eine solche Geschichte könnte ihren Anfang bei der Kybernetik und bei Norbert Wiener nehmen. Dessen Buch ,,The Human Use of Human Beings“ [8] entstand als allgemeinverständlicher Folgeband seiner ,,Cybernetics“ [7] und verstand sich als Spekulation über die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen der Kybernetik. Es gilt sowohl als Grundlagentext der Sozialkybernetik, wie auch als frühe Beschreibung der ,,Informationsgesellschaft“ und lieferte maßgebliche Thesen zur Automatisierung und zur Informationsethik. Drei Denkfiguren Wieners sind für unseren Zusammenhang interessant: Erstens die Beschreibung von Sensoren als ,,Verlängerungen“ (,,extensions“) menschlicher Sinnesorgane im Rahmen der kybernetischen Isomorphiebehauptung von Lebewesen und Maschinen. Zweitens die Leitthese, ,,dass Gesellschaft nur durch das Studium der Nachrichten und der dazugehörigen Kommunikationsmöglichkeiten verstanden werden“ könne, wozu Kommunikation zwischen Menschen und Menschen, Menschen und

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Maschinen, und Maschinen und Maschinen gehöre. Drittens die Voraussage der Entstehung eines ,,Weltstaats durch moderne Kommunikation“, die sich auf Wieners historiographische Methode stützt, Epochenumbrüche auf technische Umbrüche zu datieren. Diese drei Figuren fielen, wie eine aktuelle Biographie Wieners nachweist [4], bereits in den 1950er-Jahren bei dem wohl einflussreichsten Medientheoretiker auf fruchtbaren Boden: Marshall McLuhan. Dort finden sie sich, gleichwohl auf besondere Weise angeeignet und verarbeitet, in den berühmt gewordenen Schagworten ,,extensions of men“, ,,the medium is the message“ und ,,global village“ wieder. Interessant daran ist, dass McLuhan, dessen Hauptwerk sich im Verlauf der 1960er-Jahre entfaltete, nur wenig Interesse und Verständnis für damals aktuelle Computerentwicklungen oder die Gründung von ,,Computer-Science“-Studiengängen aufbrachte, sondern sich nur recht allgemein zu Automatisierung und ,,Cybernation“ äußerte [6]. Das tat seiner Wirksamkeit jedoch keinen Abbruch. Vielmehr wurde McLuhans Medientheorie von einer bestimmten Generation junger Informatiker begeistert gelesen, die heute zu den Pionieren des Fachs gezählt werden, wie etwa Alan Kay, Seymour Papert, Ted Nelson und etliche andere. Interessant waren McLuhans Thesen zur medialen Bedingtheit ganzer Kulturen und Epochen deshalb, weil sie Ende der 1960er-Jahre eine Innovation propagieren und sinnvoll erscheinen lassen konnten, an deren Sinn die Industrie (noch) nicht glaubte: den Personal Computer. Die PC-Bewegung begriff den Computer nicht mehr (wie noch die Generation der älteren Kybernetiker) als ,,Elektronengehirn“, ,,Denkmaschine“ oder riesigen Kalkulator, sondern (dank und durch McLuhans populäre Schriften) plötzlich als ,,Medium“. Damit hatte eine Theorie, die technische Details weiträumig umfahren hatte, die Konzepte für technische Virtuosen geliefert, die bislang die Theorie weiträumig umfahren hatten. Das Experimentieren mit den Medienfunktionen des Rechners wurde nun als ,,Medientheorie“ des Computers artikulierbar, weil McLuhans mediale Diagnosen von Leuten gelesen wurde, die technisches Verständnis für das Potenzial des Computers hatten, und nun plötzlich merken, dass sie es ja mit einem Medium zu tun haben. So etwa wie Molières Monsieur Jourdain plötzlich feststellt, dass er ja immer schon

Prosa gesprochen hat. Dies erlaubte es in der Folge, unter dem Wort vom ,,Computer als Medium“ bestimmte pädagogische, politische, ästhetische oder epistemologische Aussichten auf eine anbrechende ,,Computer Culture“ mit dem Entwurf konkreter Hard- und Software zu verbinden. Dass viele Hoffnungen der PC-Bewegung nicht erfüllt wurden und inwiefern ihre Ideologiekritik selbst zur größten Ideologie einer neuen Wachstumsbranche geriet, steht auf einem anderen Blatt [2, 3]. Während also in den USA schon kurz nach der Gründung der ersten ,,Computer-Science“Studiengänge Informatik und Medientheorie sich darin trafen, den ,,Computer als Medium“ neu zu denken (und zwar aus der Informatik heraus), blieb diese Begegnung im deutschsprachigen Raum vorerst aus. Gleichwohl gab es Optionen, wie etwa in der sog. ,,Stuttgarter Schule“ um den Technikphilosophen Max Bense [1]. Dort hatte man seit den späten 1950er-Jahren an einer Objektivierung der Ästhetik mittels informationstheoretischer Konzepte gearbeitet und dies als wichtigen Schritt einer Annäherung der ,,Zwei Kulturen“ verstanden. Auch dort wurden grundlegende Fragen hinsichtlich der neuen informationsverarbeitenden Technologien, hinsichtlich der Kybernetik in ihrer philosophischen und gesellschaftlichen Reichweite und Bedeutung und hinsichtlich der Bildung im Computerzeitalter diskutiert. Und vor allem wurden ästhetische Experimente mit Computerkunst durchgeführt, die heute zu Recht als Pionierarbeiten anerkannt sind. Während jedoch in den USA die Kybernetik über die Computer Science und diese dann über den Medienbegriff eine Verbindung zur ,,Counterculture“ fand, ging die Informationsästhetik 1968 in gewisser Hinsicht unter. Einerseits wurde der teils gebrochene, teils aber beängstigend euphorische Technizismus der Stuttgarter Schule durch den technikkritischen Mainstream des soziologischen Imperativs der beginnenden 1970er bestraft. Andererseits verwandelte sie sich immer mehr zur Semiotik und löste sich damit von den Herausforderungen des Computers in seiner technischen Materialität ab. Ihre jüngeren Protagonisten entschieden sich dann weitgehend zwischen Kunst und (einer gerade universitär gegründeten) Informatik. Anfang der 1970er-Jahre, als in den USA Medientheorie und Informatik in der PC-Bewegung zusammenfanden, hatte sich also die deutsche Option eines solchen Rendezvous verflüchtigt.

Gleichwohl entstand 1971 die erste deutsche Professur für ,,Medienwissenschaft“ an der Berliner TU. Auf Rückfrage antwortete mir der damalige Lehrstuhlinhaber, dass man bei diesem Unterfangen mit der ,,Stuttgarter Schule“ nicht viel habe anfangen können. Deren Computerexperimente seien zwar sehr interessant gewesen, aber die Umorientierung auf Semiotik und das Desinteresse für die Materialität der Zeichenträger habe die Sache wertlos gemacht – zumindest für eine Theorie des Computers als Medium. Und McLuhan habe man zwar ,,wie Marx und Mao“ verschlungen, aber er sei nicht anwendbar gewesen. Die medientechnische Bedingung medienwissenschaftlichen Denkens war in Deutschland nicht der PC, sondern der Videorecorder. Deswegen wurde Medienwissenschaft (in sehr bewusster Abgrenzung zur Publizistik und Kommunikationswissenschaft) inhaltlich als Filmund Fernsehwissenschaft gestartet. Gelehrt wurde allerdings (und dies ist nicht ohne Ironie) auch Mediengeschichte, weil die jungen Ingenieurinnen und Ingenieure u.a. eine ,,humanistische Prüfung“ ablegen mussten. Und darin kam zuletzt auch der Computer vor. Fragt man nach den medialen Bedingungen von Wissenschaften, so war die Medienwissenschaft der 1970er-Jahre also eher eine ,,Videorecorderwissenschaft“. Demgegenüber wurden die 1980er mit PCs ausgestattet, was es vermutlich erlaubte, nicht nur mit dem Computer zu denken und zu forschen, sondern endlich auch, den Computer als Medium zu denken. McLuhan spielte dabei (im Verbund mit anderen Theorieansätzen) zwar noch eine gewisse Rolle, aber die historische wie technische Situation war grundlegend anders als ein gutes Jahrzehnt zuvor bei der PC-Bewegung. Dies ist jedoch alles andere als ein Nachteil, denn auch die deutschsprachige Informatik widmete sich dem ,,Computer als Medium“ erst mit einem gewissen Jetlag. So hatten und haben Informatik und Medienwissen die Chance, einen fruchtbaren Dialog zu führen, wie ihn bspw. die traditionsreiche Veranstaltungsreihe ,,Hyperkult – Computer als Medium“ seit 17 Jahren praktiziert [5]. An Themen herrscht jedenfalls kein Mangel: Seien es Computerspiele oder die Veränderungen der Wissenschaften durch ,,Modeling“ und Simulation; seien es ,,E-Government“ oder ,,E-Learning“; seien es ,,Virtual Communities“ oder das WWW in all seinen Facetten – überall erweisen sich die technischen und gegenwärtigen Fragen Informatik_Spektrum_31_1_2008

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zugleich als mediale und historische, die nicht nur deshalb gemeinsam angegangen werden sollten, weil der Wissenschaftsrat solcherlei Zusammenarbeit empfiehlt [9], sondern weil sich Informatik und Medienwissenschaft etwas zu sagen haben.

Literatur 1. Büscher B, von Herrmann HC, Hoffmann C (Hrsg.) (2004) Ästhetik als Programm. Vice Versa, Berlin 2. Carey JW, Quirk JJ (1970) The Mythos of the Electronic Revolution. Am Scholar 39:219–241

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3. Carey JW, Quirk JJ (1970) The Mythos of the Electronic Revolution. Am Scholar 39:395–424 4. Conway F, Siegelman J (2005) Dark Hero of the Information Age. In Search of Norbert Wiener, the Father of Cybernetics. Basic Books, New York 5. http://www.uni-lueneburg.de/uniweb/index.php?id=hyperkult 6. McLuhan M (1967) Cybernation and Culture. In: Dechert CR (Hrsg) The Social Impact of Cybernetics. Simon & Shuster, New York, pp 95–108 7. Wiener N (1948) Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine. MIT Press, Cambridge, MA 8. Wiener N (1952) Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft. Metzler, Frankfurt a.M. Berlin 9. Wissenschaftsrat (2007) Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland. http://www.wissenschaftsrat.de/texte/7901-07.pdf