Arten sterben: Wendepunkte der Evolution - Buch.de

Umschlagabbildung: oben: Großer Asteroid trifft die Erde: Mopic – Fotolia.com; .... Man sagt, das Geheimnis eines langen Lebens ist es, eine unheilbare.
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Norman MacLeod

Arten sterben Wendepunkte der Evolution

Aus dem Englischen von Iris Newton

Veröffentlicht mit Unterstützung des Wilhelm-Weischedel-Fonds der WBG.

The Great Extinctions was first published in England in 2013 by The Natural History Museum, London. Copyright © The Trustees of the Natural History Museum, 2013 Photography copyright © The copyright holders 2013 (see picture credits) This edition is published by Wissenschaftliche Buchgesellschaft by arrangement with the Natural History Museum, London.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Katharina Ernst Producing und Satz: Palmedia Publishing Services GmbH Umschlagabbildung: oben: Großer Asteroid trifft die Erde: Mopic – Fotolia.com; unten: Mammuts: © Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart, Foto: Franz Xaver Schmidt Umschlaggestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3284-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3351-3 eBook (epub): 978-3-8062-3352-0

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Inhalt Einführung 6 1 Was bedeutet „Aussterben“? 8 2 Evolution, Fossilien und das Aussterben 14 Evolution und Aussterben  14 Der Fossilbefund  21 3 Muster im Datenmaterial  26 Ozeanbodenspreizung und Kontinentalverschiebung  28 Stratigrafie und die geologische Zeitskala  32 Woher stammt das Datenmaterial für die Aussterbeforschung?  37 4 Arten des Aussterbens  42 Daten und Entwicklungen in der Aussterbeforschung  42 Massenaussterben  47 Hintergrundaussterben 56 5 Ursachen des Aussterbens  60 Proximate Aussterbemechanismen  62 Ultimate Aussterbemechanismen  74 6 Aussterben im Präkambrium und Kambrium  80 Das Massenaussterben im Präkambrium  80 Das kambrische „Biomer“-Sterben  84 Rahmensituation 85 Artensterben 85 Zeitlicher Verlauf  87 Ursache(n) 88 7 Aussterben am Ende des Ordoviziums  92 Rahmensituation 94 Artensterben 95 Zeitlicher Verlauf  97 Ursache(n) 98 8 Aussterben im späten Devon  102 Rahmensituation 105 Artensterben 105 Zeitlicher Verlauf  108 Ursache(n) 108 9 Aussterben im späten Perm  114 Rahmensituation 114 Artensterben 119 Zeitlicher Verlauf  121 Ursache(n)  123

10 Aussterben an der Trias-Jura-Grenze  128 Rahmensituation 128 Artensterben  134 Zeitlicher Verlauf  138 Ursache(n)  139 11 Aussterben am Ende der Kreidezeit  142 Rahmensituation 145 Artensterben 150 Zeitlicher Verlauf  155 Ursache(n) 156 Zusammenfassung  166 12 Aussterben im Paläogen  168 Rahmensituation  170 Artensterben  174 Zeitlicher Verlauf  178 Ursache(n)  179 13 Aussterben im Neogen und im Quartär  188 Das Miozän  190 Rahmensituation 190 Artensterben  193 Das Pliozän  194 Rahmensituation 194 Artensterben 196 Das Pleistozän  197 Rahmensituation  197 Artensterben 200 Zeitlicher Verlauf  203 Ursache(n)  203 14 Aussterben in der modernen Zeit und in der Zukunft  206 Moderne Aussterberaten  206 Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit  211 Abschätzung zukünftiger Aussterberaten  213 Verantwortung  217 15 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen  218 Rekapitulation  218 Was wir daraus lernen können  225 Glossar  229 Bildnachweis  234 Register  235 Weiterführende Literatur  239 Danksagung  240

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Einführung

I

30 jahren zeigte sich ein Großteil der wissenschaftlichen Gemeinschaft geradezu besessen von der Idee des Aussterbens biologischer Arten und besonders vom Aussterben der „Dinosaurier“ am Übergang von der Kreidezeit zum Paläogen. Dieses Interesse bestand schon lange vor der gegenwärtigen Sorge über ein mögliches „sechstes“ Aussterben – ein hypothetisches Ereignis, das vielleicht in der Zukunft einmal eintreten wird und dessen Name sich an die sogenannten großen Fünf anlehnt, die fünf vergangenen (Massen-)Aussterbeereignisse, die sich durch Fossilien nachweisen lassen. Die Gründe für diese Befürchtung und das anhaltende Interesse an Themen rund um das Aussterben sind zahlreich und vielfältig, doch sie haben eine gemeinsame Quelle. Die Vorstellung vom Aussterben ruft heute in den meisten Menschen eine hochemotionale Reaktion hervor, nicht zuletzt aufgrund einer intuitiven Besorgnis über die Veränderungen unserer zunehmend unnatürlichen Umwelt. Beim Anblick des Niedergangs von Landschaften, Tieren und Pflanzen auf lokaler, regionaler und sogar globaler Ebene kommen wir nicht umhin, eine dunkle Vorahnung zu empfinden und offensichtliche Parallelen zwischen dem Zustand unserer eigenen Spezies und dem Schicksal anderer, viel älterer Spezies zu ziehen, die in ferner Vergangenheit über die Erde „herrschten“. Über das Aussterben von Arten ist eine Menge geschrieben worden. Viele Abhandlungen zu diesem Thema erklären das Problem, das Aussterben im Allgemeinen oder einzelne Aussterbeszenarien zu verstehen, für bereits gelöst (z. B. Raup 1991, Ward 1995, Alvarez 1997). In Wahrheit liegt ein detailliertes Verständnis der rätselhaften Aussterbeprozesse selbst für die wissenschaftliche Gemeinschaft noch in weiter Ferne, was sich an der einfachen Tatsache ablesen lässt, dass die „Aussterbedebatten“ zu den langlebigsten wissenschaftlichen Kontroversen aller Zeiten gehören. Wenn tatsächlich ein Konsens darüber erreicht worden wäre, was die Dinosaurier, Ammoniten und ihre Verwandten „umgebracht“ hat (siehe Alvarez u. a. 1980, Schulte u. a. 2010), warum stehen dann so viele professionelle Paläontologen – und besonders jene, die den fossilen Befund am besten kennen – abseits davon (siehe etwa Archibald u. a. 2010)? Welche Schlussfolgerungen könnten oder sollten wir in Anbetracht des augenblicklichen Wissensstands über das Phänomen des Aussterbens für den heutigen wie auch zukünftigen Umgang mit unserem Planeten ziehen? Welcher Art Katastrophe bedarf es, um 50, 60 oder 75, vielleicht sogar 90 Prozent aller Land- und Meerestiere auszurotten, wie es wiederholt in der Erdgeschichte geschehen ist? Was n den letzten

Einführung

verursacht diese Art von Umweltveränderungen, die die Aussterberaten in so erstaunliche Höhen treiben, und über welche Zeiträume geschieht das? Am wichtigsten ist vielleicht die Frage, wie sich ein Planet nach Verwüstungen solcher Größenordnung wieder erholt. Während eines Großteils meiner wissenschaftlichen Karriere habe ich das Aussterben von Arten erforscht und darüber geschrieben, wobei mir der fossile Befund als die primäre Datenquelle diente. Meine Kollegen und ich sind (buchstäblich) mit diesem Forschungsprogramm aufgewachsen, mit dieser wissenschaftlichen Debatte, dieser öffentlichen Kontroverse. Wie jeder, der an irgendeiner menschlichen Aktivität teilnimmt, habe auch ich eine persönliche Meinung, die, wie ich glaube, der plausibelsten Interpretation der meisten derzeit vorhandenen Beweise entspricht. Ich stimme den Erklärungen einiger meiner Kollegen nicht zu, und einige von ihnen stimmen mir nicht zu. Das muss in einer gesunden wissenschaftlichen Debatte so sein. In diesem Buch will ich jedoch nicht einfach zugunsten meines eigenen Standpunkts argumentieren und alle Gegenbeweise beiseitelassen. Vielmehr möchte ich die Ausgangsdaten von Forschern jeglicher Couleur so neutral wie möglich präsentieren, mit all jenen Nuancen, Lücken und Mutmaßungen, auf die in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen oft verzichtet wird. Wenn alle diese Beweise vorgelegt wurden, ist es dann am Leser, seine eigenen Schlüsse über das Aussterben der Arten zu ziehen, über die Geschehnisse der Vergangenheit und darüber, was in der Zukunft geschehen könnte. Zweifelsohne werden meine eigenen Vorurteile manchmal durchscheinen. Das ist unvermeidlich. Ich verspreche hiermit, dass ich gewissenhaft versuchen werde, jene Stellen zu kennzeichnen, an denen ich meine eigene Meinung oder Interpretation vertrete. Vor allem aber hoffe ich, eine kleine Ahnung von der Spannung, der Neugierde, den Frustrationen und dem Gefühl der Größe vermitteln zu können, welche das Studium eines der normalsten Prozesse der Natur, aber auch eines ihrer dunkelsten Mysterien begleiten. Man sagt, das Geheimnis eines langen Lebens ist es, eine unheilbare chronische Krankheit zu haben und diese immer weiter zu behandeln. In demselben Sinne liegt das Geheimnis eines produktiven wissenschaftlichen Lebens darin, ein unlösbares chronisches Problem zu haben und unentwegt daran zu arbeiten. In dieser Hinsicht können ich und meine Kollegen in allen interpretatorischen Lagern uns sehr glücklich schätzen.

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1 Was bedeutet „Aussterben“?

V

Aussterben reden wir, wenn das letzte Individuum einer taxonomischen Gruppe (z. B. einer Art, Gattung oder Familie) stirbt. Meist ist dies das Ergebnis einer über lange Zeit zurückgehenden Zahl von Individuen sowie einer immer weiter abnehmenden geografischen Verbreitung. Ökologen und Demografen benutzen das Wort „Aussterben“ oft im Zusammenhang mit dem Verschwinden einer Gruppe aus einem lokal begrenzten Gebiet oder einer Region. Der korrekte Fachterminus für ein örtlich begrenztes oder regionales Verschwinden ist „lokales Aussterben“. Paläontologen und Umweltschützer hingegen verwenden den Begriff Aussterben gewöhnlich in seiner korrekten fachsprachlichen Bedeutung des weltweiten Verschwindens einer Gruppe. Bei fossilen Befunden ist es allerdings oft schwierig, zu entscheiden, ob es sich bei dem Verschwinden eines Taxons um ein lokales oder globales Aussterben handelt. Dessen ungeachtet spielt das Aussterben eine wichtige Rolle als treibende Kraft hinter vielen natürlichen Prozessen. In der Tat ist das Aussterben zusammen mit den grundlegenden biologischen Prozessen der Adaptation, Selektion und Artbildung fundamental für das Verständnis der Geschichte, Gegenwart und Zukunft unserer natürlichen Umwelt. Mathematisch betrachtet stirbt eine Gruppe dann aus, wenn die durchschnittliche Geburtenrate der Population über einen so langen Zeitraum unter ihrer durchschnittlichen Sterberate liegt, dass zufällige Schwankungen in den jährlichen Geburten- und Sterberaten die Populationsgröße auf null reduzieren können. Diese Schwankungen werden durch eine Vielfalt voneinander unabhängiger Faktoren verursacht, wie Umweltveränderungen, die Einwanderung von Raubtieren oder Mitbewerbern, die Elimination kritischer Ressourcen (z. B. Nahrung, Schutzräume, Nistplätze) oder das Einschleppen von Krankheiten. Das Zusammenspiel von Faktoren, die das Aussterben befördern und/ oder verhindern, wird oft mittels mathematischer Modelle erforscht, mit denen für unterschiedlich große Populationen die wahrscheinliche Zeitom

Der Ammonit Brasilia bradfordensis aus dem mittleren Jura. Dieses Exemplar ist aufgeschnitten worden, sodass seine durch Membranen oder Septa voneinander getrennten inneren Kammern sichtbar sind. Während der Fossilisation wurden einige dieser Kammern komplett, andere nur teilweise mit Sedimenten gefüllt, wieder andere überhaupt nicht. Das Verschwinden der Ammoniten wird gemeinhin mit dem endkreidezeitlichen Massenaussterben verbunden, jedoch ist kürzlich von Ammonitenfossilien aus Dänemark berichtet worden, die aus Sedimenten stammen, welche den endkreidezeitlichen Aussterbehorizont überlagern (also jünger sind).

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Arten sterben

spanne bis zum Aussterben geschätzt werden kann. Unter der Annahme, dass die Faktoren, die zum Aussterben führen, zufällig und über die Zeit konstant sind, kann die erwartete Dauer bis zum Aussterben einer Gruppe beispielsweise durch die folgende Gleichung simuliert werden: p0(t) = (dt/1 + bt)i p0(t) = Wahrscheinlichkeit des Aussterbens b = Geburtenrate d = Sterberate t = Zeitspanne bis zum Aussterben (in Generationen) i = anfängliche Populationsgröße

Ergebnisse einer Reihe von Simulationen der Zeitspanne (in Generationen) bis zum Aussterben für verschiedene Populationsgrößen unter der Bedingung, dass Geburten- und Sterberaten bei demselben Wert von 0,5 liegen. Solche Experimente verdeutlichen die Beziehung zwischen der Anfälligkeit gegenüber dem Aussterben und der Populationsgröße.

Geschätzte Zeit bis zum Aussterben (95 %)

Wenn die Extinktionswahrscheinlichkeit auf 95 Prozent und die Geburten- und Sterberaten auf dieselben konstanten Werte (etwa 0,5) gesetzt werden, kann das durch die Gleichung dargestellte System für eine hypothetische Reihe von Populationen unterschiedlicher Größen untersucht werden, indem die Resultate grafisch dargestellt werden (siehe unten). Man beachte, dass ein relativ geringer Anstieg in der Ausgangsgröße der Population eine enorme Auswirkung auf den geschätzten Zeitraum bis zur Extinktion hat. Dieses einfache mathematische Experiment verdeutlicht, dass kleine Populationen (z. B. weniger als 100) innerhalb sehr kurzer Zeitintervalle aussterben können, selbst wenn die Spannbreite der Umweltveränderungen konstant bleibt. Die unten abgebildete Kurve prognostiziert, dass Arten mit großen Populationen weniger schnell aussterben als Arten mit kleinen Populationen. Entspricht dies tatsächlich den natürlichen Gegebenheiten? Man könnte ein Laborexperiment anstellen, um das Modell zu testen. Jedoch sind Labore per definitionem keine natürliche Umgebung. Glücklicherweise ist dieses Experiment schon unter völlig natürlichen Bedingungen für uns durchgeführt worden – und zwar auf Inseln.

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Ursprüngliche Populationsgröße

Was bedeutet „Aussterben“?

Die Erforschung von auf Inseln lebenden Arten hat sich als eine unserer besten Informationsquellen erwiesen, was den Prozess des Aussterbens betrifft. Inselspezies existieren nicht nur in kleineren Populationen als kontinentale Arten, sondern ihre Populationsgröße wird zudem durch die Größe der Insel selbst bestimmt. Das Datenmaterial über auf Inseln ausgestorbene Vogelarten bestätigt den erwarteten Zusammenhang. Die überwältigende Mehrheit jener Vogelarten, die nachweislich in den letzten 300 Jahren ausgestorben sind, war auf Inseln bis zur Größe Neuseelands beheimatet. Diese Beziehung bleibt auch bei Vergleichen zwischen verschiedenen Inseln bestehen. Auf den Kanalinseln vor der kalifornischen Küste starben zwischen 1917 und 1968 bis zu 70 Prozent der Vogelarten aus. Die höchsten Extinktionsraten wurden auf den kleinsten Inseln der Gruppe verzeichnet (70 Prozent) und die niedrigsten Raten (36 Prozent) auf den größten. Vergleichbare Daten gibt es heute von vielen anderen Inseln auf der ganzen Welt. Auch wenn es einige Zweifel gibt, ob die Zahlen nicht eventuell aufgrund unzureichender historischer Belege und/oder fehlerhafter Stichproben zu hoch eingeschätzt werden, ist doch der Zusammenhang zwischen Populationsgröße und Widerstandsfähigkeit gegen das Aussterben klar. Die meisten Ökologen sind sich darin einig, dass die Populationsgröße der bedeutendste Einzelfaktor bei der Bestimmung der Extinktionsanfälligkeit ist. Angesichts des unvermeidlichen Schicksals einer jeden Art, einmal auszusterben, ist die Frage berechtigt, ob es zwischen den Arten Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt, die mit ihrer Widerstandsfähigkeit zusammenhängen. Sind die Umweltprozesse, die zum Aussterben führen, völlig zufällig in Anbetracht der artspezifischen Evolutionsgeschichte oder gibt es ein tiefer liegendes Muster, das uns helfen könnte zu erkennen, für welche Arten ein größeres Extinktionsrisiko besteht? Interessanterweise scheinen die Antworten auf diese Frage von dem als maßgeblich betrachteten Zeitrahmen abzuhängen. In der modernen Welt ist das Gegenteil einer aussterbenden Art eine, deren Populationsgröße zunimmt (und damit meist auch deren geografische Ausbreitung). Da angenommen wird, dass im Grunde alle Arten als relativ kleine Lokalpopulationen beginnen, kann die Zeitspanne zwischen Artenbildung und Aussterben mit einem Entwicklungszyklus verglichen werden, in dem eine Abfolge verschiedener Phasen erkennbar ist. Dieser Taxon-Zyklus ist am umfangreichsten auf Inseln dokumentiert worden, wo der Zeitpunkt des Auftretens und Verschwindens von Arten in bestimmten geografischen Lagen anhand historischer Dokumente nachvollzogen werden kann. Durch die Erstellung von Karten zur geo-

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Arten sterben

grafischen Verbreitung einer Spezies im Verlauf der Zeit können die klassischen Entwicklungsphasen Expansion (Phase I), Differenzierung (Phase II), Fragmentation (Phase III) und Endemisierung (Phase IV) rekonstruiert werden. Für Inselbiota lässt sich dieser Zyklus besonders leicht in Karten festhalten, doch das Konzept kann auch auf kontinentale und sogar marine Habitate angewendet werden. Geht man vom Taxon-Zyklus aus, scheinen Arten mit einer langen Evolutionsgeschichte im Durchschnitt resistenter gegenüber dem Aussterben zu sein als Arten mit einer kurzen Geschichte. Der Evolutionsbiologe Leigh Van Valen ging in den frühen 1970er-Jahren dieser Frage nach, indem er aus der Fachliteratur über Fossilien die Zeitintervalle heraussuchte, in denen 24 000 fossile Taxa existierten. Van Valen fasste diese Daten in einer Serie von „Überlebenskurven“ zusammen, welche die Verteilung der Lebensdauer verschiedener Arten aufzeigten. Beispiele der Überlebenskurven aus dieser Studie finden sich im Folgenden.

Taxonreichtum

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Foraminiferen (Gattungen)

Muscheln (Gattungen)

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Zeit (Millionen von Jahren) Taxonomische Überlebenskurven für fossile Gattungen von Foraminiferen (links), Muscheln (Mitte) und Säugetieren (rechts). Die Analyse der stratigrafischen Vorkommen vieler fossiler Gruppen deutet darauf hin, dass die evolutionäre Lebensdauer jedes Taxons sehr spezifisch ist, dass jedoch im Laufe langer geologischer Zeitspannen die Aussterbeanfälligkeit nahezu konstant ist (siehe Van Valen 1973).

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Zeit (Millionen von Jahren)

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Säugetiere (Gattungen)

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Zeit (Millionen von Jahren)

Beim Vergleich dieser Kurven stellte sich eine Reihe interessanter Tatsachen heraus. Erstens zeigten sich bei unterschiedlichen Typen von Pflanzen und Tieren charakteristische Unterschiede hinsichtlich ihrer Anfälligkeit gegenüber dem Aussterben. Zum Beispiel deuteten Van Valens Datensätze darauf hin, dass die durchschnittliche Lebensdauer einer Muschelart fünf Millionen Jahre beträgt, die einer Säugetierart dagegen nur eine Million Jahre. Es ist völlig unklar, warum diese Unterschiede zwischen Gruppen von Organismen bestehen. Doch dass es sie gibt, steht außer Frage.

Noch überraschender war die Erkenntnis, dass der Anteil an Gattungen und Arten, die in einer bestimmten Zeitspanne aussterben, innerhalb verschiedener höherer taxonomischer Gruppen (Familien und Ordnungen) beinahe konstant zu sein scheint. Van Valens Interpretation zufolge funktioniert die Evolution demnach nicht in der Weise, dass sie langlebigeren Arten eine größere Aussterberesistenz verleihen würde.

Was bedeutet „Aussterben“?

Schenkt man diesen Untersuchungen Glauben, werden die Arten im Laufe der Zeit durchschnittlich keineswegs besser darin, das Aussterben zu vermeiden. Vielmehr ist über die gesamte Erdgeschichte hinweg in jedem Zeitintervall stets ein fester Anteil von Arten ausgestorben, wenngleich die Zahlen von Gruppe zu Gruppe differieren. Spätere Forscher haben einzelne Aspekte von Van Valens Deutung angezweifelt. Dennoch konnten sich seine grundlegenden Ergebnisse den wiederholten Anfeindungen bemerkenswert gut widersetzen, da sie die Resultate neuerer Forschungen, die von Van Valens Kritikern angeregt wurden, bereits vorausgesagt hatten. Dieser Prozess des Versuchs, die Interpretationen von Kollegen zu widerlegen, indem man ihre Prognosen mit tatsächlichen Beobachtungen vergleicht, bestimmt den Fortschritt der Wissenschaft. Doch um die möglichen Gründe und Auswirkungen von Van Valens Befunden verstehen zu können, müssen wir erst die Rolle des Aussterbens innerhalb der evolutionären Vorgänge verstehen.

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2 Evolution, Fossilien und das Aussterben

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Konzept des Aussterbens und das der Evolution stehen in einer seltsamen Beziehung zueinander. Darwin war der Ansicht, dass das Aussterben das natürliche Resultat eines jeden Existenzkampfes bilde, welcher die Grundlage seiner Theorie der natürlichen Selektion war. Dieser Theorie nach stehen Individuen miteinander im Wettbewerb um die Ressourcen, die ihre natürliche Umwelt ihnen bietet (z. B. Nahrung, Schutz, Nistplätze, Partner). Besitzt ein Individuum morphologische, physiologische, verhaltensbezogene oder sonstige Charakteristika, die ihm dazu verhelfen, siegreich aus diesem Wettkampf hervorzugehen, so wird es oft auch mit größerer Wahrscheinlichkeit bis zur Geschlechtsreife überleben und/oder mehr Nachkommen zeugen als ein Individuum ohne diese Charakteristika. Wenn die Merkmale, die für diesen Erfolg verantwortlich sind, durch genetische Vererbung von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden können, werden die Individuen im Besitz dieser für das Überleben günstigen Merkmale in den Lokalpopulationen, die der Selektion unterworfen sind, häufiger auftreten. Angenommen, die Eigenschaften, die diesen Wettbewerbsvorteil verleihen, verbreiten sich in einer Lokalpopulation, so besteht die Möglichkeit, dass die Mitglieder dieser Population die Fähigkeit – oder die Gelegenheit – verlieren, sich mit Mitgliedern anderer Populationen derselben Art erfolgreich fortzupflanzen. Mit dem Auftreten dieser reproduktiven Isolation ist der Punkt erreicht, an dem eine neue Art entsteht. Danach gehen die Ursprungsart (Eltern) und die Tochterart (Nachkommen) ihre eigenen Wege entlang unterschiedlicher evolutionärer Pfade. as

Evolution und Aussterben Die Art des evolutionären Wandels, dem sich sowohl Ursprungs- als auch Tochterart unterwerfen, heißt Kladogenese (siehe S. 16). Nach Abschluss der Kladogenese tritt die Tochterart mit allen anderen Arten im

Charles Darwin (1809–1882) formulierte die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion. Darwin war sich der Realität des Aussterbens bewusst, er akzeptierte jedoch weder das Konzept des Massenaussterbens, noch war er der Meinung, dass das Aussterben eine schöpferische Rolle in der Evolution spielte.

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Arten sterben

Beispieldiagramm von Anagenese und Kladogenese. Bei der Anagenese verändert sich infolge natürlicher Auslese eine ganze Population oder Art in ihrer Form und ihrem genetischen Aufbau. Von den Taxonomen wird ihnen in Anerkennung dieses Wandels ein neuer Name verliehen. Bei der Kladogenese durchläuft nur ein Teil der Art, meist eine isolierte Population, diese evolutionäre Transformation, während in anderen Gebieten die Ursprungsart bestehen bleibt.

a) Anagenese

b) Kladogenese

lokalen Gebiet – inklusive der Ursprungsart – in Konkurrenz. Das Ergebnis des Kampfes um die endlichen Umweltressourcen könnte sein, dass sich die Größe der Tochterart und einer oder mehrerer ihrer Konkurrenten im Laufe der Zeit so weit reduziert, dass sie durch zufällige Fluktuationen der Populationsgröße entweder lokal oder global aussterben. Wenn sich dagegen die Merkmale, die diesen Wettbewerbsvorteil verschaffen, durch alle Populationen der Art verbreiten, dann besteht die Möglichkeit, dass die gesamte Art mit der Zeit ihren grundlegenden Charakter verändert. Wenn dies geschieht, vergeben die Taxonomen – jene Wissenschaftler, die sich mit der Erforschung und der Namensgebung von Arten befassen – in Anerkennung des Wandels der Art einen neuen Namen, der sie von der älteren Form unterscheiden soll, die vorher existierte. Diese Weise der Benennung neuer Arten ist besonders unter den Paläontologen verbreitet, die zwischen der älteren und jün-