anderes wissen hrsg. v. kathrin busch - Wilhelm Fink Verlag

Zum Thema künstlerische Forschung initiierte die Merz. Akademie 2010 eine Kooperation zwischen der Akademie. Schloss Solitude, der Staatlichen Akademie ...
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Merz Akademie

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Schriftenreihe der Merz Akademie: Ausgewählte Publikationen der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien, Stuttgart erscheinen im Wilhelm Fink Verlag.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de

Koordination: Yvy Heußler Konzept und Gestaltung: Stefanie Ackermann Art Direction: Joost Bottema Lektorat: Ralf Eckschmidt Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5898-8

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vorwort —

Zum Thema künstlerische Forschung initiierte die Merz ­Akademie 2010 eine Kooperation zwischen der Akademie Schloss ­Solitude, der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, dem Württem­bergischen Kunstverein, dem Institut für Auslandsbeziehungen und der Merz Akademie. Unter dem Titel „anderes wissen“ fand im Oktober 2012 ein Symposium an der Merz ­Akademie statt, um erste Positions­bestim­mung­en zu ­wagen und Ergebnisse der Ko­operation der Öffentlichkeit zu prä­sen­tieren. Auf diesem Symposium basiert das vor­lie­­gen­ de Buch. ­Gefördert wurden die Kooperation und das Sym­ posium durch den Kreativitäts- und Innovationsring Baden-­ Württemberg, w ­ ofür wir nochmals danken. In der künstlerischen Forschung sehe ich das Bestreben, das schöpferische und künstlerische Arbeiten mit der Frage zu ­verbinden, welche Art des „Erkenntnisgewinns“ daraus ge­zogen werden kann; ­eine ­Erkenntnis also, die im klassischen S ­ inne weder rein ­„objektiv“ noch rein „subjektiv“ ist. „Künst­lerische Forschung“, so hieß es in der Einladung zu dem Symposium an der Merz Akademie, „ist weit mehr als bloße Umsetzung oder Ver­mittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie zielt auf ein ­eigenständiges in und durch künstlerische Strategien und ­ästhetische ­Dar­stellungsformen hervorgebrachtes Wissen – eben auf a ­ nderes Wissen“.

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Die Merz Akademie arbeitet seit ­ihrer Gründung exakt an ­dieser Schnittstelle: zwischen Kunst, ­Gestaltung, ­Medien und Wissen und fragt seit jeher d ­ anach, was diese Welten ­mit­einander verbindet und wie sich diese, nicht leicht zu ­ ­kategorisierenden und darstell­baren Arbeits-, Ausdrucksund Wissens­formen in ­Beziehung setzen, ­vermitteln und ­lehren ­lassen. A ­ lbrecht Leo Merz hat in dem ­Bestreben, ­eine neue Form der V ­ erbindung von Hand- und Kopf­arbeit zu finden, 1918 die „Merz Akademie für ­Erkennen und ­Gestalten“ ge­gründet. Dieses Anliegen prägt das Leitbild der Hoch­schule bis heute und hat auch die Ausrichtung des Master­studiengangs Wissensbildung in ­Gestaltung, Kunst und Medien be­­­einflusst. „Es ist ein offenes und ungewisses Forschen, das sich in anderer Weise als die Wissen­­schaf­ ten vermit­telt, andere ­Evidenzen produziert und sich in ­einer ganz spezifischen Weise auf die Lebenswelt und die Ge­ sellschaft auswirkt“, wie es die Einladung zum S ­ ymposium ­„anderes ­wissen“ formulierte. Kathrin Busch danke ich nicht nur dafür, dass sie das Thema der künstlerischen Forschung sehr ­dezidiert an der Merz ­Akademie vertreten hat, sondern auch für das Zustandekommen des ­Sym­posiums und dieses Buchs. Markus Merz Rektor

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I. ästhetik der theorie

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1 Siehe Christoph Hoffmann (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich/Berlin 2008. 2 Vgl. Bernhard J. Dotzler und Henning Schmidgen (Hg.), Parasiten und Sirenen. Zwischenräume als Orte materieller Wissensproduktion, Bielefeld 2008. 3 Siehe hierzu den Beitrag von Karin Krauthausen in diesem Band. 4 Hans-Jörg Rheinberger, „Das Wilde im Zentrum der Wissenschaft“, in: Gegenworte, Heft 12 (2003), S. 36–39. 5 Wolfgang Krohn (Hg.), Ästhetik in der Wissenschaft. Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen (Sonderheft 7 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft), Hamburg 2006.

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Anderes Wissen Die Frage nach einem anderen Wissen steht im Kontext der derzeitigen Debatten über künstlerische Forschung und ist dem Wunsch geschuldet, das Wissen der Künste deutlicher zu bestimmen. Andersheit kommt dem künstlerischen Wissen zuallererst in Absetzung zur wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion zu, insofern es sich um eine eigenständige Form der Wissensbildung handelt, die mit anderen Forschungsverfahren, Darstellungsformen und auch Rezeptionsweisen als die Wissenschaften operiert. Das künstlerische Forschen führt zu einem gegenüber den Wissenschaften andersgearteten Wissen. Diese Abgrenzung gegenüber den Wissenschaften ist vielleicht nicht ganz so rigoros wie der Titel „Anderes Wissen“ suggerieren mag. Auch die Wissenschaften sind in ihren Methoden und in Bezug auf den Stellenwert ihrer Ergebnisse keineswegs einheitlich. Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften arbeiten mit sehr unterschiedlichen Wissens- und Forschungsbegriffen. Außerdem wird in der neueren Wissenschaftstheorie die Idee der strengen Wissenschaft selbst relativiert, wenn Verfahren, die man der künstlerischen Forschung zuordnen würde, in den Kern wissenschaftlichen Arbeitens selbst verlegt werden.(1) In der postpositivistischen Wissenschaftstheorie wird Forschung im Konkreten fundiert und gezeigt, inwiefern Wissen an materielle Kulturen, Apparate, mediale Praxen, dingliche Anordnungen und Aufzeichnungskonventionen gebunden ist und in vielfacher Weise anschaulich gewonnen und ästhetisch vermittelt wird.(2) Fokussiert man diese materiellen Bedingungen von Forschung, wie sie der material turn in den Wissenschaftstheorien behauptet, dann konvergieren Kunst und Wissenschaft.(3) Die Wissenschaften stehen einem „wilden Denken“ näher als man bislang meinte,(4) auch spielen ästhetische Kriterien eine größere Rolle als in dem wissenschaftlichen Selbstverständnis präsent wäre.(5) Trotz dieser Einsicht, dass die Wissenschaften selbst vielfältig und weniger streng verfasst sind als es ein klassisches Wissenschaftsverständnis nahelegt, erscheint der Begriff der künstlerischen Forschung zunehmend problematisch, weil er den Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft verschleift und die

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eklatanten und für manchen beunruhigenden Verschiebungen innerhalb der zeitgenössischen Kunst verschleiert. Forschung gilt als Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft,(6) und ihren Kriterien folgt die Kunst auch als forschende im Grunde nicht.(7) Die unter dem Begriff der künstlerischen Forschung firmierende Kunst rückt nicht in die Nähe der Wissenschaften, wie der Begriff der Forschung nahelegt, sondern führt zu einer neuen Konstellation von Kunst und Episteme. Die heutigen bisweilen heftigen Auseinandersetzungen um künstlerische Forschung sind Symptom einer grundlegenderen Verschiebung, durch die sich das Verhältnis von Kunst und Wissen neu figuriert und die wesentlich weiter reicht als die rezenten Debatten über künstlerische Promotionen. Die Subsumption künstlerischen Wissens unter den Forschungsbegriff verstellt daher den Blick auf die Brüche, Verlagerungen und Neuverteilungen im Feld der Episteme, deren Spuren man bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen kann. Ein Ausdruck dieser Veränderungen ist die Amalgamierung von Kunst und Theorie. Seit den frühen Avantgarden hat es in der Kunst eine Annäherung an die Theorie und zugleich in der Theorie eine Annäherung an die Kunst gegeben. So wie von einem TheoretischWerden der Kunst kann man von einem Kunst-Werden der Theorie sprechen. Auf der einen Seite wird Kunst zum Medium der Theorie: Kunst fungiert etwa in der Philosophie von Martin Heidegger, Gilles Deleuze oder Jacques Derrida nicht als der Gegenstand einer ästhetischen Erfahrung, sondern sie wird in der Philosophie – als Veränderung des Denkens – wirksam. Kunst ist darin weniger Sujet einer philosophischen Betrachtung, als vielmehr Austragungsort für eine andere Form des Denkens, das sich entlang und vermittels der Kunst vollzieht, sich von der Kunst in Anspruch nehmen lässt und sich durch sie transformiert. Im Gegenzug wird auf der anderen Seite auch die Philosophie zum Material und Arbeitsmittel der Kunst, sei es, dass die Kunst selbst eine philosophische Funktion in Bezug auf die Klärung ihres eigenen Status gewinnt – wie etwa bei Marcel Duchamp, Andy Warhol oder Joseph Kosuth –, sei es, dass eine Arbeit mit Theorien – wie in der post-

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6 Vgl. Martin Heidegger, „Zeit des Weltbildes“, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1980, S. 73–110, hier: S. 75. 7 Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass das, was heute mit dem Begriff der künstlerischen Forschung belegt wird, selbst ausgesprochen vielgestaltig ist. Es gibt KünstlerInnen, die wissenschaftliche Ergebnisse ästhetisch vermitteln oder in transdisziplinären Projekten mit WissenschaftlerInnen gemeinsam arbeiten, ohne selbst wissenschaftliche Verfahren anzuwenden. Andere KünstlerInnen beziehen qualitative Forschungsmethoden wie Interviews und Feldforschung in ihre künstlerische Arbeit ein, ohne dass die Ergebnisse deshalb schon wissenschaftlich wären. Andere wiederum begnügen sich nicht mit einer Vermittlung eines in den Wissenschaften gewonnenen Wissens, sondern arbeiten an einer künstlerischen Fortführung von Forschungsergebnissen, was zu einem hybriden künstlerisch-wissenschaftlichen Wissen führt. Auch wird als künstlerische Forschung angesehen, wenn KünstlerInnen wissenschaftliche Methoden und Darstellungsverfahren oder wissenschaftliche Labore, Archive und Bibliotheken auf ihre impliziten Voraussetzungen hin befragen und damit eine Art künstlerische Epistemologie und Institutionskritik der Wissenschaften oder des akademischen Feldes vornehmen. Einen guten Einblick in die unterschiedlichen Formen künstlerischer Forschung gibt Jens Badura et al. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, das Journal for Artistic Research, http://jar-online.net/ (aufgerufen am 19.08.2015), das Themenheft zu Artistic Research von Texte zur Kunst, Heft 82 (2011) und Michael Biggs und Henrik Karlsson (Hg.), The Routledge Companion to Research in the Arts, London /New York 2011.

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8 Den Begriff der Migration der Theorie hat Edward W. Said geprägt: „Theorien auf Wanderschaft“, in: ders., Die Welt, der Text und der Kritiker, Frankfurt a. M. 1997, S. 263–292. Wie dies kunsttheoretisch fruchtbar zu machen ist, entwickelt Mirjam Schaub, „Plädoyer für Kunst als verkannte Heuristik der Philosophie“, in: Ins Offene. Gegenwart, Ästhetik, Theorie, Zürich 2012, hrsg. v. Elke Bippus, Jörg Huber u. Roberto Nigro, S. 71–79. 9 Vgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übers. v. Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, Berlin 2006, S. 39ff. Rancière unterscheidet drei Regime der Kunst: das ästhetische Regime der Kunst, das sich mit der Autonomie der Künste durchsetzt, folgt auf das repräsentationale Regime, in dem Kunst im Hinblick auf die Nachahmung der Wirklichkeit beurteilt wird. Im ethischen Regime der Kunst, das Platon etabliert, werden Bilder im Hinblick darauf beurteilt, wie sie „das ethos, also die Seinsweise der Individuen und der Kollektive“ (ebd., S. 37) bestimmen. 10 Dieser Verlagerung zum Epistemischen in der Kunst korrespondiert eine Umwälzung im Feld des Wissens selbst, die Jean-François Lyotard bereits in Das postmoderne Wissen beschrieben hat und die heute unter Begriffen wie „Wissensgesellschaft“ oder „kognitiver Kapitalismus“ analysiert wird. Einerseits geht die epistemische Orientierung in den Künsten konform mit der generellen Bedeutungszunahme von Wissen innerhalb der Gesellschaft, andererseits zeichnet sich ab, dass die Kunst (ebenso wie die Philosophie) gerade für ein anderes Wissen eintritt, das auch das Funktionieren der heutigen Wissensgesellschaft reflektiert, die Wissensökonomien selbst in den Blick

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konzeptuellen Kunst – ein wesentliches Verfahren innerhalb der künstlerischen Praxis darstellt. So wie Kunst in die Theorien einwandert und dort ein eigenes Leben entfaltet, so wandern im Gegenzug Theorien in das Feld der Kunst aus, wo sie eine Umarbeitung und Fortführung erfahren.(8) Es werden von der Kunst und der Philosophie bei diesen Migrations- und Transformationsbewegungen jeweils unübliche Gebräuche – geradezu entfremdende Gebräuche – gemacht: von der Kunst ein „geistiger“ (und eben nicht nur ästhetischer) Gebrauch und von der Philosophie ein künstlerischer (und nicht nur epistemischer) Gebrauch. Diese Missbräuche, Wanderungen und Umwandlungen treten in der Gegenwart besonders offensichtlich zutage und gehen mit einer weitreichenden epistemischen Verschiebung im Ästhetischen einher. Oder präziser: Es vollzieht sich in der Kunst eine Wende vom Ästhetischen zum Epistemischen. Hatte Jacques Rancière von einem „ästhetischen Regime“ in der Kunst seit der Moderne gesprochen, in dem Kunst durch ihre „sinnliche Seinsweise“(9) ausgezeichnet ist, so hat man für die Gegenwartskunst von einem epistemischen Regime zu sprechen. Kunst wird nicht mehr nur im Hinblick auf die Möglichkeiten einer ästhetischen Erfahrung, sondern vermehrt im Hinblick auf ihren Erkenntnisgehalt, ihr kritisches Vermögen und die Bereitstellung eines anderen Wissens beurteilt.(10) Statt um eine Arbeit an der Aisthesis, an einer Vertiefung von Wahrnehmung oder Verfeinerung der Sinne, geht es in der zeitgenössischen Kunst um eine Arbeit an Erkenntnisformen, um eine Infragestellung des wissenschaftlichen Diskurses und eine Kritik an den Macht- und Ausschlussmechanismen der bestehenden Wissensordnungen.(11) Wenn Kunst eine Weise des Denkens ist, dann nicht mehr allein ästhetisch: als „sinnliche Erkenntnis“, sondern als explizite Auseinandersetzung mit der Episteme, wenn man darunter mit Michel Foucault jenes historische Apriori verstehen will, das die Grenzen legitimen Wissens bestimmt.(12) Diese Wende zu einem epistemischen Register verschiebt die modernistische Kunsttheorie insofern, als Kunst sich nicht nur durch eine Reflexion im Ästhetischen auszeichnet, sondern durch die Einbeziehung

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von Theorien, durch eine Positionierung in Diskursen oder durch das Freilegen eines verworfenen Wissens. Dafür arbeiten KünstlerInnen mit Experimentalanordnungen, mit Versuchen oder Essays, in denen sie Forschungsfragen aufwerfen und ihre Gegenstände zum Zwecke neuer Einsichten verschiedenen Erprobungen unterziehen.(13) Künstlerische Wissensbildung meint weit mehr als die Tatsache, dass dem Produktionsprozess ein implizites Wissen zugrunde liegt oder dass im Entstehungsprozess von künstlerischen Arbeiten recherchiert wird. Neu ist vielmehr, dass die Resultate dieser Forschungsprozesse selbst als Beiträge zur Wissensproduktion und für eine Verschiebung der Grenzen des Wissbaren verstanden und sie als solche rezipiert werden. Dies zieht eine Neubestimmung von Kunst nach sich: nämlich als einer künstlerischen Erkenntnispraxis – wenn nicht sogar darüber hinaus als einer Epistemologie eigenen Rechts –, die das Zustandekommen von Wissen und die Ausschlüsse aus den hegemonialen Wissensdiskursen kritisch reflektiert.(14) Anstatt also das neue epistemische Regime der Künste den herrschenden Forschungskonzepten anzupassen, gilt es von nun an, das Wissen selbst anders zu denken. Anders Denken Ansätze für einen anderen Wissensbegriff, der das künstlerische Denken abseits von wissenschaftlichen Ansprüchen beschreibt, findet man in der Philosophie. Die eingangs erwähnte Amalgamierung von Kunst und Theorie hat vor allem in der französischen Philosophie zu einem anderen Denken der Kunst geführt. Um ein „anderes“ Denken der Kunst handelt es sich hierbei, weil es nicht um eine Theorie der Kunst geht, in der die Kunst das Objekt der Theorie ist, wie in den üblichen ästhetischen Theorien, sondern die Kunst als Subjekt der Theorie fungiert.(15) Außerdem handelt es sich um eine „andere“ Kunsttheorie, weil sie ihren historischen und auch aktuellen Bezugspunkt in einer anti-modernistischen Konzeption findet, in der allen Formen des Anderen im Sinne der Heterologie oder Alteration besondere Bedeutung zukommt. Während man üblicherweise die künstlerische Forschung mit der modernistischen Tradition

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nimmt und die institutionellen Bedingungen der Wissensproduktion und -vermittlung befragt. Siehe hierzu Tom Holert, „Unmittelbare Produktivkraft? Künstlerisches Wissen unter Bedingungen der Wissensökonomie“, in: Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst,Wissenschaft und Gesellschaft, hrsg. v. Sibylle Peters, Bielefeld 2013, S. 223–238. 11 Siehe Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1991. 12 Vgl. Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1981, S. 258. 13 Dies zeigt Dieter Mersch am Beispiel Marcel Duchamps in seinem Aufsatz für die vorliegende Publikation. 14 Beispielhaft zeichnen dies Iris Dressler, Sibylle Peters und Heinz Emigholz in ihren Beiträgen zu diesem Band nach. Siehe hierzu auch Florian Dombois et al. (Hg.), Ästhetisches Denken. Nicht-Propositionalität, Episteme, Kunst, Zürich 2014. 15 Siehe hierzu den Artikel von Marcel Finke: „Denken (mit) der Kunst oder: Was ist ein theoretisches Objekt?“, in: http://wissenderkuenste.de/ texte/denken-mit-der-kunstoder-was-ist-ein-theoretisches-objekt/ (abgerufen am 11.10.2015); und den Text von Knut Ebeling in diesem Band, der auch die Idee einer anderen Ästhetik verfolgt.

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16 Jacques Rancière, Das ästhetische Unbewußte, übers. v. Ronald Voullié, Zürich 2006. 17 Ebd., S. 8. Siehe zum unbewussten Denken auch den Beitrag von Mai Wegener in diesem Band. 18 Rancière, Das ästhetische Unbewußte, a.a.O., S. 19.

des Selbstreflexiv-Werdens der Künste in einer Kontinuität sieht und eine Linie zieht von der klassischen Moderne über die Konzeptkunst bis zur Kontextkunst, die ihre eigenen gesellschaftlichen Bedingungen erforscht, lässt sich aus Sicht der Franzosen eine andere Genealogie des Wissens der Künste nachzeichnen. Ein solches Denken in der Kunst wird das implizieren, was bereits in der philosophischen Ästhetik herausgestellt wurde, nämlich dass im Denken der Kunst unbewusste Kräfte im Spiel sind – woran (1.) unter Bezugnahme auf Rancière erinnert werden soll. Dass diese Dimension über das „ästhetische Regime“ der Künste, wie Rancière es beschreibt, hinaus wirksam bleibt und sich auch für die theoretisch informierte Kunst des 20. Jahrhunderts nachweisen lässt, wird (2.) anhand von Michel Foucaults „Denken des Außen“ gezeigt. Foucault bezieht sich auf Maurice Blanchot, dem es gelingt, Literatur und Philosophie in einzigartiger Weise zu verschmelzen und damit ein neues Bild des Denkens zu entwerfen. Dieses andere Bild des Denkens soll (3.) mit Gilles Deleuze weiter verdeutlicht werden, um schließlich (4.) an den Essayismus als exemplarische Form von künstlerischem Denken zu erinnern. 1. Das unbewusste Denken Mit Rancière kann man eine Charakterisierung eines anderen Wissens über den Begriff des „ästhetischen Unbewußten“(16) vornehmen. Rancière zeichnet nach, wie mit der Ästhetik im 18. Jahrhundert die Idee von Kunst als unbewusster Denkmodus entsteht. Kunstwerke sind demnach „Zeugnisse für die Existenz einer bestimmten Beziehung zwischen Denken und Nichtdenken, einer bestimmten Art von Präsenz des Denkens in der sinnlich spürbaren Materialität, für das Unwillkürliche im bewußten Denken und den Sinn im Sinnlosen“.(17) Anders als im wissenschaftlichen, methodisch gestützten Wissen wird im künstlerischen Denken der Anteil des Unbewussten am Denken nicht minimiert, sondern exponiert. In der Kunst ist eine andersgeartete Erkenntnisfähigkeit am Werk, „eine Wildheit des Denkens“,(18) die ihre Andersheit aus dem Zuspiel des Unbewussten gewinnt. Die Tatsache, dass alle Denkvorgänge Dynamiken unter-

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stehen, die sie selbst nicht vollständig regulieren, zeigt sich in besonderer Weise in der Kunst. Das Werk ist „Wirkungsbereich“ des Unbewussten.(19) Für eine Epistemologie der Kunst ist diese Berücksichtigung eines nicht auf das Bewusstsein eingeschränkten Begriffs vom Denken besonders interessant. Gegen eine rationalistische Verengung künstlerischer Forschung lässt sich ausgehend von der Ästhetik ein Wissensbegriff umreißen, der unbewusste Artikulationen einschließt und ihnen ein Wissenspotenzial zuerkennt. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass Kunst tatsächlich ein Modus des Denkens ist, und zwar eines Denkens, das „von Kunstwerken ausgeführt wird“(20). Diesen Modus zeichnet aus, dass er sich nicht ausschließlich einer bewussten Betätigung, sondern Kräften verdankt, die einerseits im Subjekt, andererseits im Sinnlichen, im Material oder Medium des Werks wirken. Das Werk ist aufzufassen „als Zeugnis der Tätigkeit von Kräften, die über das Subjekt hinausgehen und es aus sich selbst herausreißen“.(21) Das Werk zeugt von etwas, das sich in ihm denkt. Mit diesem „es denkt“ wird in der Ästhetik ein neues Wissensregime entdeckt. Der Rätselcharakter der Kunst, die Uneinholbarkeit der Bedeutung von Kunstwerken, ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen anders zu interpretieren: Kunst ist nicht das Andere des Denkens, dessen ästhetischer Überschuss die Offenheit von Kunst bedingt, sondern in ihr artikuliert sich ein anderes Denken, das über die Beschränkungen eines rationalistischen Wissensbegriffs hinausgeht. Auf dieses Unbewusste im Ästhetischen bezieht sich, so muss man Rancières Überlegungen fortführen, die Kunst im 20. Jahrhundert, insofern sie es zum Gegenstand ihrer künstlerischen Auseinandersetzung macht. Spätestens seit dem Surrealismus stehen in der Kunst Ansätze einer Erforschung des ästhetischen Unbewussten bereit.(22) Die künstlerische Praxis der Surrealisten beschränkt sich nicht darauf, einen unbewussten Sinn zu artikulieren – sie erkundet ihn. Sie verfährt analysierend im Hinblick auf das ästhetische Unbewusste und macht es in den Werken sichtbar. Was von der surrealistischen Malerei entdeckt und künstlerisch erforscht wird, ist dabei vor allem, dass

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19 Ebd., S. 8. 20 Ebd., S. 10. 21 Ebd., S. 61. 22 Siehe hierzu die Studie von Rosalind Krauss, Das optische Unbewusste, übers. v. Hans H. Harbort und Andreas Stuhlmann, Hamburg 2011. Die Erforschung des optischen Unbewussten, der sich Künstler im 20. Jahrhundert annehmen, ist als Erkundung der Kehrseiten des Modernismus und als eine Kritik an dessen Verkürzungen zu verstehen.

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23 Vor allem Salvador DalÍ hat mit seiner kritisch-paranoischen Methode ein regelrechtes Verfahren zur Freilegung der unbewussten Strukturierung der Wahrnehmung entwickelt (siehe hierzu vor allem Salvador DalÍ, „Der Eselskadaver“ und „Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes ‚Das Abendläuten’ von Millet“, in: ders., Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften, übers. v. Brigitte Weidmann, Frankfurt a. M. 1974, S. 131–141 und S. 196–207). Auch Max Ernst verfährt in seinen Collageromanen in hohem Maße systematisch, um aufzudecken, wie die Bildwelten des 19. Jahrhunderts das Sehen strukturieren (siehe hierzu Krauss, Das optische Unbewusste, a.a.O., S. 59–150). 24 Krauss, Das optische Unbewusste, a.a.O., S. 35. 25 Zur Aktualisierung dieser Ansätze siehe den Beitrag von Susanne Leeb in der vorliegenden Publikation. 26 Krauss, Das optische Unbewusste, a.a.O., S. 47. 27 Michel Foucault, „Das Denken des Außen“, übers. v. Michael Bischoff, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, Band 1, Frankfurt a. M. 2011, S. 670–697.

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und inwiefern das Sehen passivisch strukturiert ist. Es gibt eine Vorgegebenheit im Visuellen, die das Sehen in gleicher Weise strukturiert wie die Sprache das Sprechen. Der Surrealist verfügt nicht über die Bilder, deren Wesen er entschlüsselt. Vielmehr legt er Zeugnis ab von dem „Gefangen-genommen-Sein“ oder „Ergriffen-sein“ durch das Sichtbare und durch ein bereits „Vor-gesehenes“.(23) Gegen die Positivität des Visuellen und gegen die Gleichsetzung von Sehen und bewusster Wahrnehmung gewendet,(24) arbeiten diese anti-modernistischen Künstler in ihren Werken einer anderen Theorie des Sehens zu. In Abgrenzung vom modernistischen Paradigma versteht der surrealistische Gegenentwurf die visuellen Tatsachen als Effekte von Verdrängungen und erkundet den Prozess, in dem bestimmte Sichtbarkeiten gegenüber anderen verworfenen Sichtbarkeiten durchgesetzt werden. Man kann den surrealistischen Werken also ein Denken des Visuellen entnehmen, das von Maurice Merleau-Ponty und Jacques Lacan aufgenommen worden ist.(25) Die Kunst unternimmt streng genommen eine Erforschung jener „dunklen Stellen“, von denen die „Fundamente des Modernismus durchsetzt“(26) sind: wie das Unheimliche, das Formlose, die Mimikry und das Blickbegehren, deren Theoretisierung man wiederum in den Texten Georges Batailles, Roger Caillois’ oder Pierre Klossowskis findet und die sich bis in das Werk von Gilles Deleuze oder Michel Foucault nachverfolgen lässt. 2. Ein Denken des Außen Insbesondere bei Foucault findet man eine solche anti-modernistische Kunstkonzeption weitergeführt. Foucault zeigt in „Das Denken des Außen“(27) für die Literatur, dass sie in ihrer Selbstthematisierung nicht zu sich zurückkommt, sondern das produzierende Subjekt über sich und seine inneren, subjektiven Vermögen hinaustreibt ins Außen und dabei – anders als es die modernistische Kunsttheorie will – keine Bewegung der reflexiven Aneignung ihrer eigenen Voraussetzungen vollzieht. Eben dieses Hinausgetriebensein über das eigene Vermögen zeichne ein angemessenes Bild des Denkens in der Kunst. Wenn man annehmen möchte, dass es

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die Kunst des 20. Jahrhunderts ausmacht, den repräsentationalen Bezug auf die außerkünstlerische Wirklichkeit zugunsten einer Selbstreferenzialität zu suspendieren, dann wäre es falsch zu meinen, sie komme dabei in ihrem Inneren an, vielmehr werde sie in ihr Außen versetzt. In der Thematisierung ihrer eigenen materiellen und medialen Bedingungen stößt die Kunst an deren Uneinholbarkeit. Foucault weist anhand der Schreibweise des dem Surrealismus nahestehenden Maurice Blanchot auf, dass dieser vor allem zwei Verfahren entwickelt hat, um das, was nicht im Rahmen der subjektiven Vermögen einzuholen ist, im Werk dennoch zur Sprache kommen zu lassen. An der Grenze der subjektiven Vermögen situiert, lässt sich sein Schreiben von einer Anziehung bestimmen, es betätigt sich nicht. Blanchot hat aus solcher Anziehung ein regelrechtes Verfahren gemacht, das ein Gegenmodell zur wissenschaftlichen Methodik bildet. Anziehung eröffnet eine Erfahrung von etwas, das man nicht hat und das seine Kraft aus einem Abstand entfaltet. Blanchot nennt es eine Wirkung in die Ferne – nicht nur aus der Ferne –, weil die Distanz zu dem Anziehenden nicht verringert oder überbrückt, sondern als Entfernung erfahrbar ist. Für Blanchot ist es das Bild vom Gesang der Sirenen,(28) das er in dieser Weise als ein Bild des Denkens interpretiert, das angezogen wird und fasziniert ist von etwas, das in Distanz bleibt. Dies birgt insofern Ungewissheit und sogar Gefahr, als man sich in der künstlerischen Produktion einem Prozess zu überlassen hat, ohne zu wissen, wo dieser Prozess endet, und ohne dessen Ziel zu kennen. Deshalb sei der künstlerische Produktionsprozess ein Wagnis, ein Aufbruch ins Ungewisse, eine Erfahrung des Nächtlichen und Dunklen und keine Bewegung der Selbstvergewisserung und Aufklärung.(29) Das zweite künstlerische Verfahren von Blanchot belegt Foucault mit dem Begriff der Achtlosigkeit oder des Unbeabsichtigten. In einem Verzicht auf eine Beherrschung der künstlerischen Produktionsmittel werde die Erfahrung einer Fremdheit gemacht. Auch hierbei geht es um die Öffnung des künstlerischen Denkens für „etwas Unbekanntes“ und nicht um dessen Aufklärung oder Vergewisserung. Das Denken des Außen ist also ein Denken, das sich nicht ausgehend

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28 Siehe Maurice Blanchot, „Die Begegnung mit dem Imaginären“, in: ders., Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, übers. v. Karl August Horst, Frankfurt a. M./Berlin/ Wien 1982, S. 11–21, hier: S. 11f. 29 Maurice Blanchot, Der literarische Raum, übers. v. Marco Gutjahr und Jonas Hock, Zürich 2012, S. 167ff.

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30 Foucault, „Das Denken des Außen“, a.a.O., S. 678. 31 Siehe hierzu Raymond Bellour, „Das Bild des Denkens. Kunst oder Philosophie, oder darüber hinaus?“, in: Deleuze und die Künste, hrsg. v. Peter Gente und Peter Weibel, Frankfurt a. M. 2007, S. 13–25.

vom Subjekt entrollt, um zu diesem zurückzukehren, das nicht dessen Intentionen und Annahmen folgt, dem Subjekt keine Selbstgewissheit schenkt, vielmehr seine Selbstbezüglichkeit aufkündigt, um in den Raum seiner Bedingtheit aufzubrechen, der nur zugänglich wird, wenn das Subjekt sich von sich selbst entfernt. Dieses Denken versichert sich dabei nicht der äußeren Bedingungen, die es bestimmen. Eben deshalb ist das Denken des Außen, wie Foucault es in der Kunst seiner Zeit auffindet, keine aneignende Sichtbarmachung der unsichtbaren Bedingungen, sondern zeige, „wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren“(30) sei. Das künstlerische Denken versucht zu jenen das Denkbare, Sagbare und Sichtbare bestimmenden Strukturen vorzudringen, also die Dispositive des Sichtbaren und Sagbaren freizulegen, die nicht vom Subjekt konstituiert und reguliert werden, sondern ihm gegenüber eigenständig und eigengesetzlich sind. Mit ihren Gesetzen kann nur in Berührung kommen, wer die subjektiven Kategorien und Vermögen suspendiert. Daher sind künstlerische Verfahren der Neutralisierung des eigenen Tuns zugunsten von Nichttun und Unvermögen, die Blanchot auch als Ent-werkung bezeichnet, die angemessenen Mittel zur Erforschung dieses Bestimmenden. Dieses Anliegen, eine Erfahrung des Ausgesetzt-seins zum Ausgangspunkt der denkerischen Praxis zu machen, findet sich auch in der Philosophie wieder, wenn sie sich ausgehend von einem Kern der Beunruhigung und des Fragwürdigen entspinnt – wie man dies bei Deleuze findet. 3. Deleuzes Bild des Denkens Auch Deleuze zeichnet ein neues Bild des Denkens.(31) Er räumt mit drei traditionellen Vorstellungen vom Denken auf: erstens dass das Denken der Vollzug eines Vermögens sei, das, angemessen ausgeführt, zum Wahren führe; zweitens dass die Abweichung vom Wahren, also der Irrtum, durch Kräfte verursacht sei, die dem Denkvermögen äußerlich sind und vom Körper, den Leidenschaften oder Affekten ausstrahlen, und drittens dass ein methodisches Vorgehen verbürge, dass man richtig denkt. Dank der Methode soll es gelingen, den irrläuferischen Kräften zu entgehen. Damit aber, so die zent-

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unreine diskurse. immanenzebenen zwischen ästhetischer theorie und künstlerischer forschung — knut ebeling

An der erfreulichen Karriere der Kon­ zeptionen von künstlerischer Forschung, künstlerischem Wissen und dem Wissen der Künste bleibt eine Tatsache erstaun­ lich: der Befund, dass dieser Diskurs bis heute von theoretischer Seite aus un­ beantwortet geblieben ist. Den an die­ sem Diskurs beteiligten Theoretikern ge­ nügt es offenbar, sich über den (immer noch bestehenden) Zaun der Diszipli­ nen zu beugen und das „andere Wissen“ oder das Andere des Wissens im benach­ barten Garten der Künste zu suchen – wo jeder künstlerische Beleg für ein for­ schendes Arbeiten begeistert aufge­stö­ bert wird. Doch was ist mit dem „ande­ ren Wissen“ im Bereich der Theorie, der Philosophie und Ästhetik selbst? Hat nicht auch die Theorie im Allge­meinen – und die Geschichte der ästhetischen Theorie im Besonderen – Formen und Phäno­mene hervorgebracht, die den künstlerischen Forschungen ­analog sind? Was ist mit den „unreinen D ­ iskursen“1

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nen Formen und Formationen fragen, um den Diskurs der künstlerischen For­ schung angemessen zu beantworten: Legt die Diagnose eines „Wissens der Künste“ nicht auch ein künstlerisches Wissen nahe, das sich reichhaltig in der ästhetischen Theorie findet?

Denn künstlerisch oder visuell ist die äs­ thetische Theorie nicht erst geworden, seit ihre zeitgenössischen Vertreter in­­ flationär auf Videoportalen wie YouTube erscheinen. Auch vorher schon wuchsen und wucherten die wilden Orchideen der ästhetischen Theorie überall und nir­ gends, in akademischen Niemandslän­ dern und in den Gräben zwischen den ­Fächern. ­Zu­sammen genommen bilden sie einen Dschungel, in dem sie nur schwer zu orten und noch schwerer zu ordnen sind, denn sie erscheinen in im­ mer neuen Gestalten und am liebsten verdeckt, under cover, als Theorieimport aus anderen Um­ständen und fremden Disziplinen – eher als philosophische Dissidenz denn als aka­demische Diszi­ 1 —  Vgl. Jean-Noel Vuarnet, plin. Die ästhetische Theorie hat keine Le discours impur, Paris 1973. ­feste disziplinäre Bleibe, seit Friedrich und künstlerischen Formen, die von der Schlegel 1795 diesen Begriff prägte. Sie Theorie selbst ent­wickelt wurden – und ist e­ ine wilde, eine freibeuterische Theo­ die bei Weitem nicht nur in ästhetischen rie, die sich an vielen Stellen bedient Theorien be­stehen, die inhaltlich wie und unter diversen Flaggen segelt – nicht Rancière die „Aufteilung des Sinnlichen“ nur unter der Fahne der Philosophie, innerhalb der Geschichte der Philosophie auch unter der der Li­teratur- oder Kul­ verorten. Statt das Augenmerk auf den turwissenschaft, manchmal auch der Inhalten, den Argumenten und den Dis­ Kunstwissenschaft oder -theorie. Ab­ge­ kursen der ästhetischen Theorie zu be­ sehen von ihren ephemeren Erscheinungs­ lassen und ­ihrer déformation professionelle orten bleibt die ästhetische The­orie je­ weiter zu frönen, muss sie nach ihren ei­ge­ doch merk­würdig unsichtbar; in ihrem

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Dschungel sieht man den Wald vor lauter wuchernden Lianen nicht. Die ästheti­ sche Theorie bleibt unsichtbar inmitten ihres Wucherns – und treibt aber zugleich ein anderes, ein wildes Wissen hervor, das sich nur schwer disziplinieren lässt. Die ästhetische Theorie ist gewis­sermaßen das blaue Auge der diszipli­nä­ren Philoso­ phie, neuaka­de­mischer: ihr blinder Fleck. Dieser blinde Fleck eines anderen,­­künst­ lerischen Wissens findet sich auch in der zeitgenössischen Theoriebildung – beispielsweise bei einem Georges Didi-­ Huberman, dem vielleicht profiliertesten gegenwärtigen Autor ästhetischer Theo­rien, in dessen Werk Kunst und Phi­lo­sophie, Theorien und Praktiken epi­­stemologisch auf eine neue Weise zu­sammengefügt wer­den – in einer be­griffs­skeptischen, an­ti­ idealistischen ­Weise, die ihn eher in die Tradition ­Warburgs als Panofskys und Batailles als Benjamins stellt (mit dem ihn gleichfalls viel verbindet). Das Werk Didi-Hubermans zeigt nicht zuletzt, dass das ‚andere Wissen‘ der ästhetischen The­ orie nicht nur in aktuellen Positionen zur künstlerischen Forschung aufscheint – umgekehrt findet sich diese Forschung zwischen Kunst und Theorie auch in der Geschichte der Ästhetik: doch weniger in der Geschichte der p ­ hilosophischen Ästhetik als in der Geschichte der ästhe­ tischen Theorie, zwischen ­denen hier ­unterschieden wird: Ausgehend von die­ ser Unterscheidung lassen sich diverse Tendenzen eines ‚anderen Wissens‘ in der Geschichte einer ‚anderen‘ Ästhetik lokalisieren – weniger in der idealisti­

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schen Ästhetik Kants als in der antiidea­ listischen Ästhetik Nietzsches. In deren genealogischer Tradition legen jüngere Forschungen zur Geschichte oder Ar­ chäologie des Museums beispielsweise die ‚anderen‘ und ‚unreinen‘ Ursprünge des Museums sowie seiner Ästhetiken frei – und zeigen beispielsweise, wie die Begründung einer Disziplin mit der in Gründung befind­lichen Institution namens Museum korrespondierte.2 2 — Vgl. Tony Bennett, Birth of the ­Museum: History, Theory, Politics, ­London 1995; Eilean Hooper-Greenhill, Museums and the Shaping of Know­l­ edge, London 1992. Aus der Perspektive dieser Forschungen erscheint auch der glorreiche Moment der Entstehung der philosophischen Äs­ thetik, Alexander Gottlieb Baumgartens ­Aesthetica von 1750, antiidealistisch kon­ taminiert als Legitimationswissenschaft 3 — Vgl. Rüdiger Campe, Anselm ­Haverkamp u. Christoph Menke, ­Baumgarten-Studien, Berlin 2014.

der niederen Sinne:3 Die philosophische Ästhetik begründete sich nicht als ‚an­ deres Wissen‘, sondern um das sinnliche Andere des Wissens phi­losophisch zu dis­ ziplinieren – was durchaus wörtlich zu verstehen war, insofern als die entstehen­ den öffentlichen Kunstsammlungen nach einem subjektiven Ge­schmack ver­ langten, der gleichzeitig mit der Subjek­

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tivierung auch die Disziplinierung der Betrachter förderte. Doch bevor man das ‚andere Wissen‘ phi­ losophisch umzingelt und sich auf das Terrain der Philosophie begibt, lassen sich vielleicht einfach einige historische Beispiele anderen Wissens im 20. Jahr­ hundert nennen: Ludwig Wittgensteins Bemerkungen über die Farben brachten ein visuelles Wissen zum Leuchten, das sich vom sprachlichen Wissen unter­ schied, Gaston Bachelards Poetik des Raums erschloss phänomenologisch das Wissen der Literatur, Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz machte erstmals das Wissen der Medien namhaft, und Georges Batailles Sprache der Blumen wendete die idealistische Ästhetik Hegels ins Ge­ genteil, indem sie das Wissen von Ver­ fall und Dekomposition sichtbar mach­ te. Neben diesen Beispielen aus dem 20. Jahr­hundert für ein ‚anderes Wissen‘ ließen sich ebenso ältere aus dem 18. und 19. Jahrhundert nennen wie Gotthold Ephraim Lessings Laokoon von 1766, Friedrich Schlegels Über das Studium der griechischen Poesie von 1795, N ­ ietzsches Geburt der Tragödie, 1872, oder natürlich die Essays Charles ­Baudelaires. Wild ge­ wachsen und nicht disziplinär gezüchtet sind diese Theorien, weil sie von man­ nigfaltigen Phänomenen und nicht von disziplinären Selbstgesprächen ausgehen. Diese Beispiele verstehen als Wissen der Ästhetik weniger ein bestimmtes Objekt (wie das Schöne oder die Kunst oder das Kunstschöne) als einen bestimmten Frage- und Forschungstypus, der ein

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‚­anderes Wissen‘ oder das Andere des ­bekannten Wissens hervortreibt – und der heute, unter anderen Vorzeichen, auch in vielen künstlerischen Forschun­ gen aufscheint. Der Status der Kunst Wenn Künstler oder die Künste forschen, verändert sich der Status der Kunst bzw. ihr Verhältnis zum Wissen – und es wäre nicht das erste Mal. Schließlich lässt sich dieser Befund auch in ihrer Geschichte rekonstruieren, in der sich der Status der Kunst und ihrer Ästhetik immer wieder verändert hat: Während sich beispielsweise innerhalb der philosophischen Ästhetik mit dem Wechsel vom 18. zum 19. Jahr­ hundert eine Wendung zum Klassischen abzeichnete, war vom 19. zum 20. Jahr­ hundert genau das Gegenteil zu diagnos­ tizieren: nämlich eine Bewegung vom Klassischen zum Unklassischen oder Nach­­ klassischen, die vielleicht am besten von Georg Simmels Schriften zur Ästhetik be­ legt wird.4 An dieser Stelle markiert sich 4 — Vgl. Georg Simmel, Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, Frankfurt a. M. 2008. auch die Wende von der philosophischen Ästhetik zur ästhetischen Theorie: Die bildende Kunst, die mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel Anfang des 19. Jahrhun­ derts als Objekt der Ästhetik erscheint, wandert im Laufe dieses Jahrhunderts all­ mählich von der Objekt- an die Subjekt­ stelle eines Denkens – am imposantesten

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natürlich mit Nietzsches Privilegierung der Kunst vor der Wahrheit. Nietzsche transformierte das Denkregime der Kunst vollkommen, womit sich auch der Status der Kunst veränderte. Innerhalb dieser Transformation wurde die Kunst vom bloßen Objekt, über das verhandelt wur­ de, zum Subjekt eines Denkens oder ­einer Theorieformation. Plötzlich gab es nicht mehr nur Theorien über Kunst, die Kunst als Objekt verhandelten – das war das abgelegte Theorieformat der phi­ lo­sophischen Ästhetik. Mit einem Mal ­entstehen Theorien aus der Perspektive der Kunst selbst, in denen die Kunst an die Subjektstelle hinüber wandert. Mit ­Nietzsches Privilegierung der Kunst vor der Wahrheit reflektierte dieses ästheti­ sche Denken derart freihändig und kunst­ nah, dass man bald jeden Begriff der phi­ losophischen Ästhetik aus den Augen verlor: ‚Ästhetische Theorie‘ heißen seit­ her all jene Denkbewegungen, die nicht mehr ganz Philosophie und noch lange keine Kunsttheorie sind – also jenes ­terrain vague obdachloser Theoriebildun­ gen, für die keine Disziplin mehr auf­ kam. Folg­lich werden ästhetische Theo­­ rien im 20. und 21. Jahrhundert weniger von den Berufsdenkern der philosophi­ schen Ästhetik praktiziert als von deren freibe­ruflichen Counterparts – weniger von M ­ artin Heidegger und seiner Antike als von Benjamin und seinem Surrealis­ mus. Die Obdachlosigkeit der ästhetischen Theorie war jedoch leider buchstäblich zu verstehen. Wenn man die erwähnten

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Beispiele betrachtet, so fällt auf, dass ih­ re Schöpfer fast ausnahmslos Randfigu­ ren des akademischen Betriebs waren: Per­sonen und Positionen, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zur aka­ demischen Welt standen – um nicht zu sagen: die sich auf Konfrontationskurs zur Schulphilosophie begeben haben oder ihre ästhetische Theorie gleich von einem Standpunkt außerhalb der Philo­ sophie formulierten wie beispielsweise Nietzsche oder Georg Simmel, Benjamin oder Bataille. Schon Nietzsche brauchte nur daran zu denken, „wie unsere Pro­ fessoren Ästhetik treiben“5 – und schon 5 — Friedrich Nietzsche, Kritische Studien­ ausgabe, Band 7, hrsg. v. G ­ iorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin /New York 1988, S. 615. verging ihm offenbar die Lust an der aka­ demischen und idealistischen Tradition der philosophischen Ästhetik. Denn tat­ sächlich trifft auch der Umkehrschluss zu: Wenn einmal ein akademisch veran­ kerter Philosoph eine „Ästhetik treibt“, wie beispielsweise Theodor W. Adorno – dann entpuppt sie sich schnell als Etiket­ tenschwindel: das heißt als systematische philosophische Ästhetik mehr denn als dissidente ästhetische Theorie. Kurz: Äs­ thetische Theorien zu verfassen kann also offenbar heißen, seine akademische An­ stellung zu riskieren. Ein Denkregime so nachhaltig zu transformieren, dass kein regierbarer Gegenstand und keine regie­ rende Disziplin dabei herauskommen, be­ deutet in fast allen Fällen auch, dass es

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keine Disziplin mehr gibt, die einem Un­ terschlupf und Lehrstuhl gewährt. Sobald man leidenschaftlich philosophiert wie Nietzsche, erotisch wie Bataille oder ma­ terialistisch wie Benjamin, gerät man auf die schwarze Liste der Lehrstuhlverwalter. Die Avantgarde der ästhetischen Theorie Man kann dieses Dilemma der ästheti­ schen Theorie auch positiv wenden: Der Verzicht auf philosophische Standards hat nicht nur einige legendäre akademische Leichen produziert. Er hat auch einige der folgenreichsten ästhetischen Theorien der Moderne ermöglicht. Sie vermittel­ ten das neu, was von der philosophischen Ästhetik stets getrennt wurde: Körper und Geist, Sinnlichkeit und Idee, Text und Bild, Botschaft und Medium, Kultur und Technik. Mit diesen Gesten kommt es im 20. und 21. Jahrhundert zu einem er­ staunlichen Theorieverkehr. Die Trans­ formationen eines Denkregimes bringen erhebliche Bewegung in den Bereich, der einmal philosophische Ästhetik hieß. Hier nur einige Beispiele aus dem 20. Jahr­ hundert: Sigmund Freuds Traum­deutung, die aus den Tiefen des physio­logischen 19. Jahrhunderts kam, schloss sich plötz­ lich mit der Kunst des Surrealismus kurz; die surrealistische Zeitschrift Do­cuments, an der Georges Bataille von 1929–31 ­gemeinsam mit Carl Einstein und Michel Leiris kollaborierte, integrierte ethnologie und archéologie in ihr Themen­spektrum; ebenfalls vom Surrealismus be­einflusst war die Epistemologie Bachelards, die auch phänomenologische und psycho­

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analytische Einflüsse verarbeitete; die Psy­ choanalyse stand wiederum am Anfang einer dem Wiener Kreis entstammenden Sprachtheorie wie der Wittgensteins, die sich am Ende mit Minimalismus und Concept Art ebenso kurzschließen konnte wie sich künstlerischer Kontextualismus und Institutionskritik aus (post-)struktu­ ralistischen Ansätzen entwickelten. Ästhetische Theorien sind im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts also unge­ wöhnlich geschmeidig und beweglich ­geworden. Der zunehmende Diskursver­ kehr des 20. Jahrhunderts hat zu einer größeren Manövrierbarkeit von ästheti­ schen Theorien geführt, die reihenweise ihre akademischen Elfenbeintürme ver­ lassen haben. Ihr beschleunigter Theorie­ verkehr hat dafür gesorgt, dass sie zu den ästhetischen Phänomenen und Produk­ tionsorten gelangten, in Ateliers und La­ bore, ins Dickicht der Städte und Träume, in den Strudel von Ereignis und Inszenie­ rung, ins Wochenbett des Wissens und der Wissenschaft. Im Laufe des vergange­ nen Jahrhunderts sind ästhetische Theo­ rien in einer neuen Sichtbarkeit in Kunst­ werke eingesickert, so wie einzelne Werke ihrerseits ganze ästhetische Theorien pro­ duzierten. Es sind neue Berührungspunk­ te und Kontaktflächen zwischen Kunst und Theorie entstanden – Vorgeschich­ ten, die dafür gesorgt haben, dass Künst­ ler und Theoretiker heute in neuer Weise und an anderen Orten zusammenarbei­ ten können. Sie haben aber auch den ­Effekt gehabt, dass sich die Ästhetik als Disziplin im 20. und 21. Jahrhundert

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aufgelöst hat; sie ist gewissermaßen an ­allen Ecken und Enden ausgefranst und ausgebeutet worden und wird es noch: Sie hat sich mit künstlerischen und wis­ senschaftlichen Verfahren einerseits und mit Kunst- und Literaturtheorien an­ dererseits kurzgeschlossen, um in einer schillernden Vielzahl von ästhetischen Theorien – und der Plural ist hier tat­ sächlich zentral – weiter zu wuchern. Das Untergehen der ästhetischen Theorie im allgemeinen Theoriechaos des 20. und 21. Jahrhunderts lässt sich also auch po­sitiv formulieren: nicht als Verlust von Kenntlichkeit, sondern als Gewinn von Beweglichkeit. Genau das ist auch die Logik der Avantgarde, die weniger nach Verlusten als nach Gewinnen fragt. Und die ästhetischen Theorien werden im 20. und 21. Jahrhundert erstaunlich be­ weglich: In derselben Bewegung, in der die Guerilla-Taktiken der ästhetischen Theorien dazu geführt haben, dass man sie kaum noch wiedererkennt, haben sie der Ästhetik auch eine ungeahnte Be­weg­ lichkeit verschafft. Sie gehen nicht nur mit den Wissenschaften neue Verbindun­ gen ein, sondern auch mit den Künsten. Neuerdings gehen Theorien und Philo­so­ phien direkt – um nicht zu sagen: frontal – auf die Künste los. Gewiss interessieren sich Künstler und Theoretiker schon seit Beginn der Neuzeit füreinander. Im 20. und 21. Jahrhundert kon­vergiert ihre Ar­ beit jedoch enger und ­folgenreicher als jemals zuvor. Neue Verbindungen und Vernetzungen führen einerseits zu neuen Inhalten, wie zum Beispiel Kitsch oder

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Pop. Aber sie führen auch zu neuen Dar­ stellungsformen und Theorieformaten. Beispielsweise ist es heute möglich, Theo­ rien aus der Perspektive der Kunst selbst zu verfassen – ein Seitenwechsel von der Kunst als Objekt zur Kunst als Subjekt, der für die Trennungsgeschichte zwischen ästhetischer Theorie und philosophischer Ästhetik gar nicht hoch genug veran­ schlagt werden kann: In der Folge dieser Geschichte landen auf der einen Seite die phi­losophischen Ästhetiken, die sich Kunst und Künstler bis heute als Objekte vom Leibe halten; auf der anderen lan­ den jene ästhetischen Theorien, die seit Nietzsche dafür gesorgt haben, dass die Kunst zunehmend vom Objekt zum Sub­ jekt des Denkens wurde. Seit man aus der Perspektive der Kunst philosophiert, ist die Theorie ebenso neugierig und wandlungsfähig geworden wie die künstle­ rischen Avantgarden – weswegen man die ästhetische Theorie auch als ‚Avant­ garde der Theorie‘ bezeichnen kann. Immanenzebenen zwischen Kunst und ­Theorie Heute gehen diverse Autoren ästhetischer Theorien das Risiko ein, sich auf gleicher Augenhöhe mit der Kunst zu bewegen – eine Bewegung, die von der Kunsttheorie noch gar nicht beachtet wurde, obwohl sie beträchtliche Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Kunst und Theorie hat: In diesem sensiblen Bereich liegen die Kunst oder das Sichtbare der Theorie nicht mehr gegenüber, sie sind nicht län­ ger ihr Objekt und werden nicht länger

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