Am achten Tag: Eine Reise in das Zeitalter des Menschen

Potosi. „Müllinsel“. Medellin. N. Coyhaique. ITER (Kernfusionsreaktor). Almeria. Rurrenabaque. Pantanal. Villa Hermosa. Ey. Patagonien. U. Salar de Uyuni.
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GAIA VINCE A M A C H T E N TA G Eine Reise in das Zeitalter des Menschen Aus dem Englischen von Monika Niehaus, Martina Wiese und Jorunn Wissmann

Für Nick

Englische Originalausgabe: Copyright © Gaia Vince, 2014 First published as ADVENTURES IN THE ANTHROPOCENE by Chatto & Windus, an imprint of Vintage Publishing. Vintage Publishing is a part of the Penguin Random House group of companies.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Anja Harms, Oberursel Einbandabbildung: Salzgewinnung, Salar de Uyun, Bolivien © picture alliance / Christian Kober/robertharding Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3393-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3412-1 eBook (epub): 978-3-8062-3413-8

I N H A LT Einleitung Der Menschenplanet

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1

Atmosphäre

24

2

Berge

55

3

Flüsse

80

4

Ackerland

117

5

Meere

164

6

Wüsten

206

7

Savannen

237

8

Wälder

281

9

Gestein

319

Städte

361

Epilog Das menschengemachte Zeitalter

407

Dank

417

Anmerkungen

419

Register

435

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Weltkarte

assage westp Nord

FRANKREICH ITER (Kernfusionsreaktor)

F ZI PA

SPANIEN „Müllinsel“

Almeria

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Salar de Uyuni (Salzpfanne)

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Rio de Janeiro

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Patagonien Rio Baker

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Masai Mara H ISC IND

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N

AUSTR ALIEN Port Augusta

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Zeittafel

8

ANTHROPOZÄN

(Erdneuzeit) 65,5 mya bis heute

KÄNOZOIKUM

HOLOZÄN PLEISTOZÄN PLIOZÄN MIOZÄN OLIGOZÄN EOZÄN

KREIDE (Erdmittelalter) 251,0–65,5 mya

MESOZOIKUM

PA L ÄO Z Ä N

JUR A

TRIAS

(Erdaltertum) 542,0–251,0 mya

PA L ÄO Z O I K U M

PERM KARBON D E VO N SILUR O R D OV I Z I U M KAMBRIUM P R O T E R O Z O I K U M 2500 – 542,0 mya A R C H A I K U M 4000 – 2500 mya

H A DA I K U M 4600 – 4000 mya mya = Millionen Jahre vor heute

EINLEITUNG DER MENSCHENPLANET

V

or viereinhalb Milliarden Jahren ging aus der schmutzigen Aureole kosmischen Staubes, die beim Schöpfungsprozess unserer Sonne entstanden war, ein wirbelnder, sich verdichtender Mineralklumpen hervor. Die Erde war geboren. Wenig später schlug auf ihr ein weiterer großer Gesteinsbrocken ein, der ein riesiges Stück – das später den Mond bildete – ablöste und unsere Welt in Schräglage kickte. Dieser Neigung verdanken wir die Jahreszeiten und Meeresströmungen, und der Mond bescherte uns Ebbe und Flut. All dies förderte die Voraussetzungen für die Entstehung des Lebens, das sich vor rund vier Milliarden Jahren zu entwickeln begann. Im Laufe der nächsten dreieinhalb Milliarden Jahre kam es wiederholt zu extremen Vereisungen. Nach der letzten dieser großen Eiszeiten explodierte die Zahl der komplexen vielzelligen Lebensformen geradezu. Der Rest ist Geschichte, eingestanzt in die Haut des Planeten als dreidimensionale fossile Abbilder von fantastischen Kreaturen – langhalsigen Dinosauriern und Wesen zwischen Echse und Vogel, Rieseninsekten und fremdartigen Fischen. Die Entstehung von Leben auf der Erde veränderte die Physik des Planeten von Grund auf.1 Pflanzen beschleunigten mit ihren Wurzeln das allmähliche Aufbrechen des Gesteins und halfen beim Aushöhlen von Kanälen, durch die das Regenwasser abfloss, sodass sich Flüsse bildeten. Die Photosynthese wandelte die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre und Ozeane, versorgte das Erdensystem mit chemischer Energie und veränderte das Erdklima. Tiere fraßen die Pflanzen, was die Chemie der Erde ebenfalls beeinflusste.

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Einleitung

Die physikalische Gestalt des Planeten wirkte ihrerseits auf seine Biologie ein. Lebewesen entwickeln sich in Reaktion auf geologische, physikalische und chemische Bedingungen. In den letzten 500 Millionen Jahren kam es fünfmal zu einem Massenaussterben, ausgelöst durch Eruptionen von Supervulkanen, Asteroideneinschläge und andere Ereignisse mit enormen globalen Auswirkungen, die das Klima dramatisch veränderten.2 Jedes Mal formierten sich die Überlebenden danach neu, vermehrten sich stark und entwickelten sich weiter. Heute ist die Diversität von Pflanzen, Tieren, Pilzen, Bakterien und anderen irdischen Lebensformen größer als jemals zuvor.3 Und wir? Der anatomisch moderne Mensch erschien erst vor rund 200 000 Jahren auf der Bildfläche, und ob wir überleben würden, stand auf Messers Schneide. Doch wir kamen durch – dank dem gewissen Etwas, das uns von den anderen Arten in unserer gemeinsamen Biosphäre unterschied und uns so erfolgreich machte, dass wir nun Herrscher unserer Welt sind: das menschliche Gehirn. Wir sind intelligenter und geschickter im Umgang mit Werkzeugen als andere Tiere. Überdies können Menschen Feuer machen und es beherrschen. Von dem Moment an, in dem ein Mensch den ersten Funken zündete, stand fest: Wir würden die mächtigste Spezies sein. Diese externe Energiequelle, die wir überallhin mitnehmen konnten, verlieh uns Macht über die Landschaft, Schutz vor anderen Tieren, die Möglichkeit, unsere Nahrung zu kochen, uns zu wärmen und letztendlich von der Welt Besitz zu ergreifen. Jahrtausendelang teilten wir Menschen den Planeten mit Neandertalern und anderen Verwandten. Der Ausbruch des Supervulkans Toba in Indonesien vor 74 000 Jahren vernichtete beinahe uns alle – die menschliche Population schrumpfte auf wenige Tausend. Doch vor 35 000 Jahren hatten sich die eigentlichen modernen Menschen entwickelt, die von heutigen Menschen nicht mehr zu unterscheiden waren; sie wanderten aus Afrika aus und hinterließen in Höhlen und an Felsen zahllose Zeugnisse ihrer Kultur. Der heroische Aufstieg des Menschen hatte seinen Anfang genommen. In der Steinzeit beschränkte sich unser Wirken als Spezies auf das Ausrotten einiger Arten – insbesondere großer Säugetiere – und einige Eingriffe in die Landschaft, wie das Niederbrennen von Wäldern. Die Techniken waren primitiv und minimalistisch und die Materialien allesamt erneuerbar. In den darauffolgenden Jahrhunderten nahm unser Ein-

Einleitung

fluss zu. Vor etwa 10 000 Jahren (also vor rund 300 Generationen, Weltbevölkerung: 1 Million) wurde der Ackerbau erfunden; vom Menschen gezüchtete Pflanzensorten verdrängten Wildpflanzen und veränderten so einige regionale Landschaften. Vor rund 5500 Jahren (Weltbevölkerung: 5 Millionen) entstanden Städte und es entwickelten sich die ersten großen Zivilisationen. Der globale Einfluss der Industriellen Revolution in Europa und Nordamerika, die die Arbeitskraft von Menschen und Tieren durch Maschinen ersetzte, ist seit etwa 150 Jahren (Weltbevölkerung: 1 Milliarde) spürbar, da seither große Mengen Kohlendioxid aus fossilen Brennstoffen in die Atmosphäre geblasen werden. Nichts ist jedoch vergleichbar mit dem Ausmaß und der Geschwindigkeit unseres weltweiten Einflusses seit dem Zweiten Weltkrieg, befeuert durch Bevölkerungswachstum, Globalisierung, Massenproduktion, Revolutionen auf dem Gebiet der Technik und der Kommunikation, effizientere landwirtschaftliche Methoden und medizinischen Fortschritt. Unter der Bezeichnung Great Acceleration („große Beschleunigung“) offenbart sich dieser rasante Zuwachs menschlicher Aktivitäten auf allen möglichen Ebenen, von der Anzahl der Autos bis zum Wasserverbrauch. 4 Die Menschheit benötigte 50 000 Jahre, um eine Weltbevölkerung von 1 Milliarde zu erreichen, doch für die letzte Milliarde brauchten wir gerade einmal die vergangenen 10 Jahre. Dieser radikale Umbruch beflügelte die soziale und ökonomische Entwicklung – vor 100 Jahren betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa weniger als 50 Jahre, heute liegt sie bei rund 80 Jahren. Doch die Great Acceleration hatte immer auch ihre schmutzige Seite. Dichter Smog hüllte Großstädte wie London ein und tötete Tausende, saurer Regen verseuchte Flüsse, Seen und Ackerböden und ließ Gebäude und Denkmäler zerfallen, Kältemittel zersetzten die schützende Ozonschicht, Kohlendioxidemissionen veränderten das Erdklima und machten die Meere saurer. Unser gieriges Ausbeuten der natürlichen Welt hat zu massiver Abholzung geführt, zu einem sprunghaften Anstieg der Aussterberaten und zu zerstörten Ökosystemen. Sie hat eine Flut von Müll produziert, deren Abbau Hunderte Jahre in Anspruch nehmen wird. Die Spanne eines einzigen Menschenlebens hat genügt, uns zu einer gewaltigen globalen Macht zu machen, und nichts spricht dafür, dass sich der Prozess verlangsamt – ganz im Gegenteil scheint sich unsere ungeheure Einwirkung auf den Planeten noch zu verstärken.

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Einleitung

Zur gleichen Zeit lebt unser engster Verwandter, der Schimpanse, im Grunde noch genauso wie schon vor 50 000 Jahren. Menschen sind die einzigen Lebewesen mit einer kumulativen Kultur, was uns in die Lage versetzt, auf Vergangenem aufzubauen, statt das Rad immer wieder neu zu erfinden. Doch indem wir – stets den Launen unseres unfassbar leistungsfähigen Gehirns unterworfen – auf dem Antlitz der Erde herumwerkeln, wagen wir Menschen uns an das kühne Experiment, die physikalische und biologische Welt völlig neu zu gestalten. Wir besitzen die Macht, das Schicksal jeder einzelnen Spezies, einschließlich unserer eigenen, dramatisch zu verändern. Große Umwälzungen sind bereits im Gange. Dieselbe Genialität, die uns länger und behaglicher leben lässt als je zuvor, verwandelt die Erde stärker als alles, was unsere Art bisher erfahren hat. Dies ist eine aufregende, aber auch unsichere Zeit. Willkommen im Anthropozän – dem Zeitalter des Menschen.

Wir leben in epochemachenden Zeiten. Buchstäblich. Die in den letzten Jahrzehnten vom Menschen herbeigeführten Veränderungen waren weitreichender und tiefgreifender als alles, was unsere Welt in ihrer viereinhalb Milliarden Jahre langen Geschichte erlebt hat. Unser Planet ist dabei, in ein neues geologisches Zeitalter einzutreten, und wir Menschen sind die Urheber dieses Geschehens. In Millionen von Jahren wird ein Streifen in den Gesteinsschichten der Erdoberfläche unsere Spuren preisgeben, genauso, wie wir heute Hinweise auf Dinosaurier im Gestein des Jura entdecken oder auf die kambrische Explosion von Lebensformen oder auf die tiefen Narben, die nach dem Gletscherschwund im Holozän zurückblieben. Unser Einfluss wird sich im massenhaften Aussterben von Arten offenbaren, in der veränderten Chemie der Ozeane, im Verlust von Wäldern und in der Ausbreitung von Wüsten, im Aufstauen von Flüssen, dem Rückgang von Gletschern und dem Versinken von Inseln. Die Geologen der fernen Zukunft werden aus den fossilen Zeugnissen das Ausrotten verschiedener Tierarten und die Fülle der domestizierten Tiere herauslesen, den chemischen Fingerabdruck künstlicher Materialien, wie Getränkedosen aus Aluminium und Plastiktüten, sowie die Spuren von Projekten wie der Syncrude-Mine in den Athabasca-Ölsanden im Nordosten Kanadas, wo jährlich 30 Milliarden Tonnen Erde bewegt werden – die doppelte

Einleitung

Menge der Sedimente, die alle Flüsse der Welt in dieser Zeitspanne mit sich führen. Geologen nennen dieses neue Zeitalter Anthropozän. Damit bringen sie zum Ausdruck, dass die Menschheit zu einer geophysikalischen Macht geworden ist, ebenbürtig den erderschütternden Asteroiden und den Finsternis bringenden Vulkanen, die vergangene Epochen geprägt haben.5 Die Erde ist heute ein Menschenplanet. Wir entscheiden, ob ein Wald bestehen bleibt oder abgeholzt wird, ob Pandabären überleben oder aussterben, wie und wo ein Fluss fließt, ja sogar, wie viel Grad die Atmosphäre hat. Wir sind das auf der Erde am häufigsten vorkommende große Tier, und gleich danach kommen die Tiere, die wir durch Züchten herangezogen haben und die uns dienen. Vier Zehntel der Erdoberfläche werden zum Anbauen unserer Nahrung genutzt. Drei Viertel der Süßwasservorkommen auf der Welt werden von uns kontrolliert. Dies sind außergewöhnliche Zeiten. In den Tropen schwinden die Korallenriffe, an den Polen schmilzt das Eis und in den Meeren gibt es dank uns immer weniger Fische. Ganze Inseln versinken in den steigenden Meeresfluten und in der Arktis kommt neues, ödes Land zum Vorschein. Während meiner Laufbahn als Wissenschaftsjournalistin hatte ich häufig mit Berichten über den Wandel der Biosphäre zu tun. Die entsprechenden Untersuchungen häuften sich. Eine Studie nach der anderen landete auf meinem Schreibtisch, mit Schilderungen von sich ändernden Schmetterlingswanderungen, der Geschwindigkeit der Gletscherschmelze, dem Stickstoffgehalt der Meere, der Häufigkeit von Flächenbränden … und alles einte ein großes Thema: der Einfluss des Menschen. Wissenschaftler, mit denen ich sprach, beschrieben mir, auf welch vielfältige Weise der Mensch in die Natur eingegriffen hat, selbst wenn es um scheinbar unergründliche physikalische Phänomene wie Wetter, Erdbeben und Meeresströmungen ging. Und sie sagten noch größere Umwälzungen voraus. Klimaforscher, die die Erderwärmung verfolgten, sprachen von todbringenden Dürren, Hitzewellen und einem meterhohen Anstieg des Meeresspiegels. Naturschutzbiologen erläuterten den Zusammenbruch der Artenvielfalt bis hin zum Massenaussterben, Meeresbiologen redeten von „Inseln aus Plastikmüll“ in den Ozeanen, Weltraumforscher besprachen auf Tagungen, was mit all dem Abfall im All zu tun sei, der unsere Satelliten bedrohe, Ökologen schil-

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Einleitung

derten die Abholzung der letzten intakten Regenwälder, und Agrarökonomen warnten vor Wüsten, die sich über die letzten fruchtbaren Landstriche ausbreiten. Jede neue Studie schien schonungslos klarzumachen, wie sehr die Welt im Wandel begriffen war – sie entwickelte sich zu einem ganz anderen Planeten. Wir selbst waren dabei, unsere Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern, und indem ich und andere diese Geschichten zu Papier brachten, erfuhren Menschen weltweit und unmissverständlich von den Umweltkrisen, die wir alle heraufbeschworen hatten.6 Es war zutiefst beunruhigend und oft erdrückend. Die neuesten Forschungen, mit denen ich mich beschäftigte, gingen mit einer Fülle düsterer Vorhersagen über unsere Zukunft auf der Erde einher. Zur gleichen Zeit verfasste ich jedoch einen Text über unsere Triumphe, die Genialität des Menschen, unsere Erfindungen und Entdeckungen, darüber, wie Forscher auf neue Methoden stießen, um Nutzpflanzen zu optimieren, Krankheiten zu bekämpfen, Strom zu transportieren und völlig neue Materialien herzustellen. Wir sind eine unglaubliche Naturgewalt. Der Mensch hat die Macht, den Planeten weiter aufzuheizen oder ihn abzukühlen, Arten auszumerzen und ganz neue zu kreieren, das Gesicht der Erde umzugestalten und ihre Biologie zu bestimmen. Kein Teil dieses Planeten bleibt vom menschlichen Einfluss unberührt – wir haben Naturzyklen außer Kraft gesetzt und die physikalischen, chemischen und biologischen Prozesse der Erde verändert. Wir können neues Leben in der Retorte erschaffen, ausgestorbene Arten wiederauferstehen und aus Zellen neue Körperteile wachsen lassen oder mechanische Ersatzteile für diese konstruieren. Wir haben Roboter erfunden, die uns als Sklaven dienen, Computer, die als Außenposten unseres Gehirns fungieren, und ein neues Ökosystem aus Netzwerken, das der Kommunikation dient. Wir haben unseren evolutionären Pfad dank medizinischer Errungenschaften so manipuliert, dass diejenigen, die normalerweise im Säuglingsalter sterben, gerettet werden. Die Grenzen, die anderen Spezies gesetzt sind, haben wir durch die Schaffung künstlicher Umgebungen und externer Energiequellen überwunden. Ein 72jähriger Mann von heute ist so vital wie ein 30-jähriger Höhlenmensch. Wir besitzen übernatürliche Kräfte: Wir können ohne Flügel fliegen und ohne Kiemen tauchen, todbringende Krankheiten überstehen und nach dem Tod wiederbelebt werden. Und wir sind die einzige Art, die den Planeten verlässt und unserem Mond einen Besuch abstattet.

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Die Erkenntnis, dass wir eine solch globale Macht ausüben, erfordert einen ganz außergewöhnlichen Perspektivwechsel. Sie kehrt das wissenschaftliche, kulturelle und religiöse Gedankengut, das unseren Platz in der Welt, in der Zeit und in Relation zu allen anderen bekannten Lebensformen definiert, ins Gegenteil um. Bis ins Mittelalter glaubte man, der Mensch sei der Mittelpunkt des Universums. Im 16. Jahrhundert kam dann Nikolaus Kopernikus, der der Erde ihren Platz zwischen mehreren Planeten zuwies, die um die Sonne kreisten. Und im 19. Jahrhundert identifizierte Charles Darwin den Menschen als lediglich eine Spezies unter vielen – ein Zweiglein nur am gewaltigen Baum des Lebens. Doch nun hat sich erneut ein Paradigmenwechsel vollzogen: Der Mensch ist nicht länger eine Spezies unter vielen. Wir sind die Ersten, die bewusst die Biologie und Chemie der Erde umgestalten. Wir sind zu den Herren unseres Planeten geworden und bestimmen das Schicksal des irdischen Lebens. Das letzte Mal trat unser Planet vor etwa 10 000 Jahren in ein neues geologisches Zeitalter ein, was sich grundlegend auf das Überleben und den Erfolg unserer Spezies auswirkte. Mit dem Ende der letzten Eiszeit begann eine neue Epoche der Erderwärmung, die man als Holozän bezeichnet. Die Eisdecke zog sich bis zu den Polen zurück und die Tropen wurden feuchter. Die Menschen verließen ihre Höhlen und profitierten zunehmend von den neuen Lebensbedingungen: Gräser sprossen, und diejenigen mit nahrhaften Samen, wie Weizen und Gerste, ließen sich anbauen. Überall auf der Welt siedelten sich Menschen in größeren Gemeinschaften an und produzierten ihre Nahrung selbst, statt sie nur zu jagen und zu sammeln. Diese Stabilität führte zur Entwicklung von Kultur und Zivilisationen – unsere Spezies nahm zahlenmäßig zu und war so erfolgreich, dass sie sich über sechs Kontinente ausbreitete. Die Auswirkungen des Anthropozäns werden ebenso tiefgreifend sein. Den Begriff Anthropozän prägte der Nobelpreisträger Paul Crutzen. Wie der niederländische Chemiker mir erzählte, war er bei einer wissenschaftlichen Tagung zu der plötzlichen Einsicht gelangt: All die biophysikalischen Veränderungen, über die die Forscher diskutierten, „bedeuteten, dass wir uns nicht mehr im Holozän befanden. Der Planet hatte sich zu weit von den Bedingungen entfernt, die man für das Holozän als normal betrachten würde.“ In einem Artikel in der Zeitschrift Nature von 2002 plädierte Crutzen für die Einführung des Begriffs An-

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thropozän, und dieser fand im Lauf der letzten zehn Jahre in der Wissenschaftsgemeinde immer stärkere Verbreitung.7 Mittlerweile hat die British Geological Society den langsamen Prozess in Gang gesetzt, das neue Zeitalter formal anzuerkennen und zu erfassen. Grundlage dafür sind die vom Menschen hervorgerufenen Veränderungen der Biosphäre, die sich in der Geologie, Chemie und Biologie unseres Planeten für Tausende oder Millionen von Jahren niederschlagen werden.8 Dazu gehören eine geänderte Flächennutzung, wie die Umwandlung von Wald in Ackerland, oder auch radioaktiver Fallout. Die Übergänge zwischen geologischen Zeitaltern sind unscharf und ziehen sich häufig über Tausende von Jahren hin; dennoch versuchen Wissenschaftler, sie anhand von Streifen im Gestein überall auf der Welt zu ermitteln. Die Geologen werden festlegen müssen, wann das Zeitalter begonnen hat – war es vor Tausenden von Jahren, als der Ackerbau einsetzte, oder vor einigen Generationen mit der Industriellen Revolution oder in den 1950er-Jahren zu Beginn der Great Acceleration? Diese Festlegung wird davon abhängen, welche Marker die Geologen wählen, um das Anthropozän zu definieren, etwa die Atombombentests von 1949 oder den Anstieg der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre vor rund 150 Jahren. Doch während die Geologen mit dem begrifflichen Problem ringen, eine Ära paläontologisch zu datieren, deren Paläontologie und Geologie noch im Entstehen begriffen ist, hat das Anthropozän bereits die Mauern der akademischen Welt überwunden und Einzug in die Gesellschaft gehalten. Die Vorstellung, dass die Menschheit einen buchstäblich globalen Einfluss ausübt, hat das Interesse von Künstlern und Dichtern, Soziologen und Umweltschützern, Politikern und Anwälten geweckt. Wissenschaftler verwenden den Begriff, um vielfältige Veränderungen für unseren Planeten und das Leben auf ihm zu beschreiben. Und im Geiste dieser weiteren Definition – und weil zunehmend Einigkeit darüber besteht, dass wir dabei sind, die Grenze zum Zeitalter des Anthropozäns zu überschreiten – schreibe ich dieses Buch. Woran also lässt sich das Anthropozän festmachen – was sind die Anzeichen für den Übertritt in ein neues geologisches Zeitalter? Die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre liegt fast um 50 Prozent über dem Mittelwert des Holozäns. Die industriellen und privaten Emissionen von Treibhausgasen erwärmen weltweit die Atmosphäre, verändern das Klima und bringen Wetterverläufe aus dem Takt.9 Die Auswirkun-