„Ich liege jeden zweiten Tag im Hot Pot“

23.09.2007 - bildschirm, die aktuelle Digitalkamera – ich habe mir gerade einen neuen Blackberry gekauft, er ist fantastisch! Gott sei Dank haben wir keine ...
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SONNTAG

DIE THEMEN

Unsere Reporter sind zum Polarkreis geflogen. DER TAGESSPIEGEL

SONNTAG, 23. SEPTEMBER 2007 / NR. 19 676

Einmal lief ich die Champs-Elysées runter, es war wunderschön, und plötzlich bekam ich Heimweh. Ich fragte mich, warum? Da wurde mir bewusst: Es hatte geregnet, aber es schwebte kein Geruch von Moos in der Luft. Was haben Sie im Ausland am meisten vermisst? Meine Sprache. In einer fremden Sprache kannst du immer nur so viel sagen, wie du gelernt hast. Allein in der eigenen Sprache lassen sich all deine Gedanken ausdrücken. Unsere Sprache hat sich seit mehr als 1000 Jahren fast nicht verändert, sie ist ein Juwel der Identität. Lassen Sie uns über einige isländische Merkwürdigkeiten und Klischees sprechen: Es interessiert Sie genau, wo Sie herkommen. Und mit wem wir verbunden sind. Mein Stammbaum geht bis zur Besiedlung Islands zurück, das war im Jahr 874. Ich kann meine Familie über 34 Generationen zurückverfolgen. Jeder Isländer weiß über acht Generationen, wer wen geheiratet hat. Wir sind jedoch nicht so sehr blutsverwandt, dass es gefährlich wäre, keine Sorge. Bis in die 90er Jahre hatten Sie einen fernsehfreien Donnerstag. Leider ist das vorbei. Im Ausland hat uns das den Ruf eingetragen, besonders kulturbeflissen zu sein, wir würden an diesem Tag lieber lesen oder Konzerte besuchen. In Wahrheit war Fernsehen für uns lange zu teuer. Wir mussten die Sendungen ja entweder selbst produzieren oder untertiteln. Also spielte an jedem Donnerstag unser Symphonieorchester, und das ist heute noch so.

Interview: Alva Gehrmann und Norbert Thomma Foto: Mike Wolff

Frau Finnbogadóttir, Sie sind … … Moment mal! Ich darf Ihnen zuerst erklären, dass wir uns in Island nicht mit Nachnamen anreden. Dóttir bedeutet Tochter, ich bin also die Tochter von Finnbogi. Mein Vorname ist Vigdís, und wenn Sie mich mit vollendeter isländischer Höflichkeit ansprechen wollen, nennen Sie mich auch so: Vigdís.

Für Fremde klingt es lustig, wie neue Begriffe ins Isländische übertragen werden. Da sind so tolle Wörter wie „tölva“. Es bedeutet Computer und setzt sich zusammen aus „tala“, die Zahl, und „völva“, die Seherin. Ein Computer ist also eine Zahlenseherin. Das Barometer ist bei uns eine Luftwaage. Ich liebe das.

Wir können Sie nicht duzen. Wir würden zur Bundeskanzlerin ja auch nicht Angela sagen.

Und dann sitzen Isländer in heißen Quellen …

Sie haben eben nicht mehr diese mittelalterliche Tradition mit den Vornamen, die gibt es nur noch in Island, in anderen Ländern nur bei Königen und Königinnen. Es heißt Queen Elizabeth II. und nicht Mrs. Windsor. Und wenn Sie mich Frau Finnbogadóttir nennen, klingt das völlig albern.

Kennen Sie Pankow oder Neukölln, Vigdís? Pankow, Neukölln? Hätte ich davon hören sollen? Beides sind Berliner Bezirke, und beide haben jeweils mehr Einwohner als ganz Island mit seinen 300 000 Menschen. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs waren wir sogar nur 130 000 Isländer. Sie sehen, wir holen auf. Sie leben in der Nähe des Polarkreises, Reykjavík ist die nördlichste Hauptstadt der Welt. Schottland ist rund 800 Kilometer entfernt, nach Norwegen sind es fast 1000. Sie müssen sich sehr isoliert fühlen. Das Zentrum der Welt ist da, wo man sich selbst befindet. So fühlen wir Isländer. Sie fragen mich: Wie ist es, so weit weg von allem zu leben? Ich frage: weit weg wovon? Wir hören alles, was in Deutschland passiert, wir kennen die Linkspartei, sobald sie gegründet ist. Meine Mutter hat als junge Frau in Berlin gelebt, ich war schon Mitte der 70er Jahre in beiden Teilen der Stadt, unzählige isländische Künstler leben in Berlin und erzählen zu Hause davon. Ich bin nicht stärker isoliert als eine Frau in Pankow, sie hat es nur näher zur Komischen Oper oder zum Pergamon-Museum. Umgekehrt ist das Interesse geringer. Als Sie 1980 zur ersten weiblichen Staatspräsidentin gewählt wurden, war das dem „Spiegel“ zwei Sätze wert. In vielen andern Ländern war das durchaus eine Nachricht, sogar in China: eine Frau als Staatsoberhaupt! Das ging um die Welt. Nur mein Name wurde nie erwähnt. Waren Sie stolz? Nein. Ich bewundere vielmehr meine Landsleute für den Schneid, eine Frau zu wählen. Nicht ich war mutig, sondern sie. Sie werden lachen, ich wusste vorher nicht einmal, dass ich die erste vom Volk gewählte Präsidentin sein könnte. Es gab ja Golda Meir und Indira Ghandi, in Sri Lanka wurde Sirimavo Bandaranaike 1960 die erste Premierministerin der Welt – doch alle drei wurden durch ihre Parteien erwählt. Sie waren geschieden … … und alleinerziehende Mutter einer adoptierten Tochter … … und in der Politik waren Sie auch nicht. Ich war damals Direktorin des Stadttheaters in Reykjavík. Ich wollte noch nicht einmal diese Wahl gewinnen, mit meiner Kandidatur wollte ich lediglich beweisen: Eine Frau kann das! Eine Niederlage wäre für mich keine Enttäuschung gewesen. Plötzlich hatten Sie es mit Reagan zu tun, mit Gorbatschow und Mitterrand.

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Vigdís Finnbogadóttir, 77, war bei ihrer Wahl zur Präsidentin von Island 1980 das erste direkt vom Volk gewählte weibliche Staatsoberhaupt der Welt. Nach 16 Jahren im Amt kandidierte sie nicht wieder. 2005 wählten sie die Isländer zur bedeutendsten lebenden politischen Persönlichkeit ihres Landes.

Sie werden nicht die einzige Vigdís in Island sein. Das ist verwirrend. Nein, ich bin Vigdís Finnbogadóttir, die nächste ist Vigdís Guðjónsdóttir, das wird ganz einfach nach dem Namen des Vaters unterschieden. Im Telefonbuch fänden Sie mich unter Vigdís. Es ist sehr praktisch, denn man behält diesen Namen, selbst wenn man heiratet. Du bleibst immer die Tochter deines Vaters. Heutzutage allerdings kann das auch der Name der Mutter sein.

Foto: Universal

Island Spezial Warum hat diese Insel so viel Erfolg?

… früher war ich jeden Morgen im Hot Pot, jetzt jeden zweiten Tag. Es ist der ideale Ort, um Tratsch aufzuschnappen. Ich liege zehn Minuten im Wasser, schwimme, dann geht es zurück in den bis zu 45 Grad heißen Hot Pot, später kommt die kalte Dusche. Als ich noch im Amt war, entspannte ein Amerikaner neben mir und fragte, was ich mache. „Ich bin Präsidentin“, sagte ich. „Von welcher Firma?“, fragte er. Ich antwortete: „Von Island.“ Der Arme ist rot angelaufen. Schauen Sie, ich hatte nie einen Leibwächter. Wenn ein fremdes Auto nicht ansprang, dann habe ich geholfen, es anzuschieben. Island hat Mängel wie jedes andere Land, doch wir schauen auf niemanden runter – aber wir schauen auch zu niemandem auf.

„Ich liege jeden zweiten Tag im Hot Pot“ Hier kommt der Regen von der Seite. Trotzdem ist die Stimmung gut. Pünktlich zum Herbstanfang erklärt Vigdís Finnbogadóttir das Phänomen Island. Nun ja, am Theater studiert man die Persönlichkeit des Menschen – und die Menschheit. Es geht um Hass und Liebe, um die Gier nach Macht. Das ist ein gutes Training für eine Präsidentschaft. Island war mehr als 600 Jahre lang dänische Kolonie, nach der Unabhängigkeit 1944 war es ein armer Bauern- und Fischerstaat. Nun ist es laut der OECD eines der reichsten Länder der Welt, die Arbeitslosenquote liegt um die zwei Prozent. Wie war das zu schaffen? Durch Intelligenz und menschliche Energie. Beides gibt es auch in anderen Ländern. Und die Deutschen galten immer als besonders fleißig … warum lachen Sie? Je weniger Fische im Wasser schwimmen, desto mehr Futter findet jeder einzelne. Vielleicht ist es mit unseren wenigen Menschen einfacher. Und seit dem 18. Jahrhundert kann jeder in Island lesen, das ist der Schlüssel zum Lernen und Studieren. Kein Isländer scheut sich davor, einen zweiten Job anzunehmen. Außerdem bekommt jeder von der Bank recht leicht einen Kredit, wenn er eine gute Geschäftsidee hat. Auch damit erklärt sich unser Wirtschaftswunder. Der Autor Henryk M. Broder hat Island häufig besucht und war beeindruckt von der „positiven Gedankenlosigkeit“: Erst machen wir es, und dann mögen wir es. Stimmt, wir Isländer sind ziemlich ungeduldig. Wir müssen alles heute haben. Lange lebten wir nur von Fisch und Landwirtschaft, und wir sind Jäger geblieben. Der Kabeljau hat gerade Saison, also fang ihn so schnell du kannst. Für das Heu bleibt in diesem Klima nicht viel Zeit, also mache es gleich! Isländer sind unstet aus Tradition, es ist ein Erbe der Natur. Sie sind schnell gelangweilt.

Was in Island auffällt, ist, dass viele nicht nur mehrere Jobs haben, sie haben mehrere Kinder mit mehreren Partnern, sie telefonieren unablässig den übernächsten Termin herbei, sind Musiker und bauen ein neues Haus. Am liebsten machen wir alles zur gleichen Zeit. Sobald Sie in Reykjavík aus dem Flugzeug steigen, spüren Sie diese große Energie in der Luft und … … Vigdís, Sie werden esoterisch! Nein, mit Esoterik hat das nichts zu tun, wir wollen immer die neue Kunst, den brandneuen Flachbildschirm, die aktuelle Digitalkamera – ich habe mir gerade einen neuen Blackberry gekauft, er ist fantastisch! Gott sei Dank haben wir keine Raketenstation wie die Nasa, wir würden andauernd neue Satelliten – Blupp! Blupp! – ins All schießen. Weil wir so viele Ideen und Energie haben. Kein Wunder, dass Amerika vom Norden Skandinaviens aus entdeckt wurde, schon 500 Jahre ehe Kolumbus mit seiner Santa Maria losfuhr. Wir trauen uns, den ersten Schritt zu gehen. Wenn etwa ein Bus im Schneesturm stecken bleibt und Sie fragen den Fahrer: „Wann werden wir im Norden ankommen?“, dann würde er niemals eine Uhrzeit nennen, er sagt dann nur: „Wir werden Blönduós erreichen.“ Wir geben nie auf. Es gibt dafür eine sehr gute Wendung: Þetta reddast! Es wird schon irgendwie klappen. Ein beneidenswerter Optimismus. Dieser Optimismus kommt aus der Erfahrung, mit einem Land zu leben, wo sich die Erde jederzeit bewegen kann, durch Beben, nordische Stürme. In meiner Küche steht ein offener Schrank mit Tassen. Wenn der Schrank vibriert, fallen sie auf den Marmorboden. Und trotzdem denke ich nicht an so etwas, wenn ich das Haus verlasse.

Wenn Sie das Haus verlassen, steigen Sie ins Auto. Was denn sonst? Die Pkw-Dichte in Island ist höher als in Deutschland, einer Nation von Autobauern. Wir sind verrückt nach Autos. Erstens finden wir Technik toll. Zweitens geht es in die Westfjorde schneller als mit dem Pferd. Ich habe einen Minijeep. Er ist genau so, dass ich beim Einsteigen nicht hochklettern muss und mich auch nicht runterbücken, ich rutsche rein wie in eine Kirchenbank, fahre los und sehe die ganze Landschaft. Jemand hat uns erzählt, wer in Reykjavík einen öffentlichen Bus benutze, gelte als Hippie. Unsinn. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass der Regen bei uns nicht wie in Berlin senkrecht vom Himmel fällt. Er trifft einen von der Seite. Wenn Sie in der isländischen Natur stehen, wie ist das? Ich fühle mich sicher, das liegt an meinen Wurzeln. Ich kenne aber auch Leute, denen diese Landschaft zu viel wird, weil man so weit sehen kann. Es gibt den isländischen Witz: Wenn du dich im Wald verirrt hast, musst du einfach aufstehen. Oh ja, unsere Bäume sind schon sehr niedrig. Das Wort „heimskur“ bedeutet in Ihrer Sprache „dumm“, meint aber auch „jemand, der zu Hause bleibt“. Es ist ein altes germanisches Wort, wie das deutsche „Heimat“. Es ist ein cleveres Wort, denn wer nie seine Heimat verlässt, erweitert nicht seinen Horizont. Heute wird „heimskur“ nur noch im Sinne von Dummheit benutzt. Sie haben in Paris studiert und sind doch nach Reykjavík zurück.

Als Sie gewählt wurden, beschrieb der „Guardian“ Ihre Haltung als „unpolitisch mit einer Tendenz zur Linken“. Es ist doch so, wenn Sie nicht Mainstream sind oder rechts davon, sind Sie automatisch eine Kommunistin. Ich kann doch die Idee der Gleichheit gut finden, ohne gleich Stalin zu folgen. Ich bin dafür, Frauen so zu bezahlen wie Männer. Der Schriftsteller Kristof Magnusson schrieb in seinem Roman „Zuhause“ ironisch, Isländer würden im Ausland immer auf Elfen angesprochen, so wie die Deutschen auf Reisen gern auf Hitler angesprochen würden – das klang genervt. Ich sorge mich eher um die Elfen. Sie entstanden im Dunkeln, und mit der Elektrizität kam das Licht zu uns und wurde zum Feind der Elfen. Wie also entstehen bei uns solche poetischen Geschichten? Jemand kommt auf einen einsamen Hof und sagt: „Stellt euch vor, was ich gesehen habe! Ein Mann stieg die Klippe empor mit einem Bündel auf dem Rücken, er sah gruselig aus …“, und dazu kommen Licht, Regen, Fantasie und die Lust, etwas Dramatisches hinzuzufügen. Oder wie halten Sie Kinder davon ab, auf einen gefährlichen Felsen zu klettern? Sie erzählen, dort wohnen die Elfen und dürfen nicht gestört werden. Ich möchte nicht, dass diese Sagen verschwinden. Vigdís, das Magazin „Geo“ hat geschrieben, die Insel sei „extrem teuer mit einem extrem schlechten Wetter“. An welche drei Orte schicken Sie jemanden, der keine Lust auf Island hat? Zuerst sollte man sich Þingvellir anschauen. Dort sieht man den Riss, der durch Island geht, denn ein Teil der Insel gehört zu Amerika, der größere zu Europa. Sie können dies sogar fühlen, denn Atmosphäre und Landschaft sind dort dramatisch. Sie können sogar durch die Spalte laufen. Hier haben die Isländer im Jahr 930 ein Parlament errichtet, ein frühes soziales Arrangement. Überall drum herum gab es Könige, aber die Siedler wollten eine Demokratie – sie wird die älteste Demokratie der Welt genannt, und hier in Þingvellir wurde sie gegründet. Ganz guter Anfang. Als Zweites schicke ich Sie nach Norden, zum See Mývatn. Sie finden dort schwarze Lavasteine, sagenhafte, wundersame Steinformationen. Und dann empfehle ich die Halbinsel Snæfellsnes. Es gibt hier einen beeindruckenden Gletscher, der bei gutem Wetter auch von Reykjavík aus zu sehen ist. Beim Gletscher lässt Jules Vernes übrigens seine „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ beginnen. Diese drei Landschaften überzeugen jeden? Sie müssten ein Herz aus Stein haben, wenn Sie das nicht bewegt.