„Aller Ehre werth und nicht leicht zu ersetzen ..." Wissen, Weisheit und ...

„Aller Ehre werth und nicht leicht zu ersetzen ...“ Wissen, Weisheit und Bildung im Kontext von Gut und Dorf. Symposion der AEET in Hansühn am 27-2-2015.
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ISBN 978-3-95605-015-2

9 783956 050152

„Aller Ehre werth und nicht leicht zu ersetzen ...“ Schriftenreihe der AEET, Band 5

Im Rahmen einer Kooperation zwischen Erik Graf Platen und der Arbeitsstelle Edition und Editionstechnik (AEET) der Universität Duisburg-Essen werden seit 2009 die Bestände des gräflichen Privatarchivs systematisch digitalisiert, transkribiert und in Datenbanken erfasst, um sie für wissenschaftliche Untersuchungen und für Anliegen der Heimatforschung bereitzustellen. Der fünfte Band der Schriftenreihe der AEET versammelt die Vorträge des fünften Symposions der Arbeitsstelle in Hansühn, das am 27. Februar 2015 stattgefunden hat.

Hermann Cölfen, Sevgi Filiz, Karl Helmer & Gaby Herchert (Hg.)

„Aller Ehre werth und nicht leicht zu ersetzen ...“ Wissen, Weisheit und Bildung im Kontext von Gut und Dorf

Hermann Cölfen, Sevgi Filiz, Karl Helmer & Gaby Herchert (Hg.)

„Aller Ehre werth und nicht leicht zu ersetzen ...“ Wissen, Weisheit und Bildung im Kontext von Gut und Dorf Symposion der AEET in Hansühn am 27-2-2015

Schriftenreihe der Arbeitsstelle für Edition und Editionstechnik (AEET), Band 5 Herausgegeben von: Rüdiger Brandt, Hermann Cölfen, Karl Helmer und Gaby Herchert

Universitätsverlag Rhein-Ruhr, Duisburg

Die Drucklegung wurde durch die Sparkasse Holstein gefördert.

Für die freundliche Genehmigung des Abdrucks der Broschüre „Kurzschule Weissenhaus“ (S. 109 ff.) möchten sich Herausgeber, Autoren und Verlag herzlich bedanken bei Horst Hehl und beim Kurt-Hahn-Archiv im Kreisarchiv Bodenseekreis, Salem.



Titelbild © Archiv der Grafen v. Platen, Friederikenhof



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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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ISBN 978-3-95605-015-2 (Printausgabe)



ISBN 978-3-95605-016-9 (E-Book)



Satz und Lektorat Sevgi Filiz Druck und Bindung Format GmbH, Jena

Printed in Germany

Inhalt Hermann Cölfen, Sevgi Filiz, Karl Helmer, Gaby Herchert Vorwort...............................................................................................................5 Gaby Herchert Zur Tradition von Wissen, Weisheit und Bildung. Einleitung zum Symposion..................................................................................7 Katja Winter Ilse und Clemens gehen zur Schule. Unterricht zur Kaiserzeit...............................11 Karl Helmer Kurzschule im Geist der Landerziehungsheime. Kurt Hahn und die Gründung in Weissenhaus...........................................................................33 Erik Graf Platen Dienst am Nächsten – Dienst am Frieden. Die Kurzschule in Weissenhaus 1952–1975....................................................................................49 Jeannine Pham Maecenas‘ Erbe. Graf Ernst Franz v. Platen Hallermund und Johann Gottfried Eichhorn................................................................................59 Guillaume van Gemert Tradiertes Wissen im Zeichen des Aberglaubens. Zur Hauswirtschaftsliteratur des gemeinen Mannes am Beispiel eines bisher unbekannten, handschriftlich überlieferten Ökonomiebüchleins................71 Jörg Zimmer „An den lappen lern der hund ledder fressen.“ Literarisches für den pädagogischen Zweck: Luthers Sprichwörtersammlung......................................95 Anhang Faksimile der Broschüre „Kurzschule Weissenhaus“ aus den Jahren 1954–1956 .............................................................................109

Hermann Cölfen, Sevgi Filiz, Karl Helmer, Gaby Herchert

Vorwort Die Arbeitsstelle Edition und Editionstechnik der Universität Duisburg-Essen (AEET) hat es sich zur Aufgabe gemacht, vorwiegend handschriftliche mittelalterliche und frühneuzeitliche Bestände privater Archive und Bibliotheken, die bisher nicht öffentlich zugänglich sind, digital aufzuarbeiten, zu transkribieren, zu übersetzen, zu kommentieren und in Datenbanken zu erfassen, um sie für die wissenschaftliche Forschung, insbesondere für regionalgeschichtliche Recherchen, bereitzustellen. Unter Mitwirkung von Studierenden und Nachwuchswissenschaftler/inne/n werden dazu methodische und technische Editionsverfahren entwickelt, die in der Editionspraxis Verwendung finden. Seit 2009 erschließen Wissenschaftler/innen und Studierende der AEET in enger Zusammenarbeit das wertvolle Privatarchiv der Grafen v. Platen in Friederikenhof, Gemeinde Wangels/Ostholstein. Diese Familie stammt ursprünglich aus Rügen. Einem Zweig der Familie wurde am Hof des Kurfürsten von Hannover das Grafendiplom zugesprochen. Seit der Belehnung mit der Grafschaft Hallermund im Jahre 1706 nennen sich alle Abkommen G ­ rafen bzw. Gräfinnen v. Platen Hallermund. Mit dem Kauf des Gutes ­Weissenhaus durch den General-Erbpostmeister und Kammerherrn Graf Georg Ludwig v. Platen Hallermund im Jahre 1739 wird die Familie in Ostholstein ansässig. Das Archiv in Friederikenhof umfasst alle wichtigen Dokumente, die mit der Regional- und Familiengeschichte dieses Zweiges in Verbindung stehen. Das fünfte Symposion am 27. Februar 2015 in der Evangelischen Christus­ kirche in Hansühn/Ostholstein fand erneut lebhaftes Interesse. Die Vorträge werden in diesem Band veröffentlicht. Für die freundliche Zusammenarbeit danken wir Erik Graf Platen (Friederikenhof ), Jürgen Gradert (Grammdorf ), Pastor Tim Voß (Hansühn) und den vielen Helferinnen und Helfern der Kirchengemeinde. Ebenfalls danken möchten wir Horst Hehl, der uns für den vorliegenden Band eine Broschüre zur Kurzschule Weissenhaus aus den Jahren 1954–1956 zur Verfügung gestellt hat, Brigitte Mohn vom Kurt-Hahn-Archiv, die uns bei der Recherche rund um die Broschüre Kurzschule Weissenhaus ebenfalls sehr unterstützt hat, der Sparkasse Holstein für den Druckkostenzuschuss und dem Universitätsverlag Rhein-Ruhr, der die Veröffentlichung der fünf bisher erschienenen Bände der Schriftenreihe der AEET unterstützt und gefördert hat. Essen und Wangels, im Januar 2016

Gaby Herchert

Zur Tradition von Wissen, Weisheit und Bildung. Einleitung zum Symposion Meine Damen und Herren, im Namen der AEET heiße ich Sie herzlich willkommen und freue mich, so viele bekannte Gesichter wiederzusehen. Aber ebenso freue ich mich, viele neue Gäste zu sehen, und hoffe, dass wir alle, die in diesem Jahr zum ersten Mal den Weg zu unserem Symposion gefunden haben, davon überzeugen können, dass es sich lohnt, im nächsten Jahr wiederzukommen. Wir sind sehr stolz darauf, dass so viele Menschen an unseren Forschungen interessiert sind und zum Teil weite Wege nach Hansühn auf sich nehmen. Stellvertretend für alle Weitgereisten begrüße ich denjenigen, der den längsten Anreiseweg hatte, Herrn Prof. Nakagawa von der Kansei Gakuin Universität in Osaka in Japan. Mein herzlicher Dank gilt all jenen, die es uns alljährlich ermöglichen, diese Veranstaltung durchzuführen: Gräfin und Graf Platen, die uns immer wieder so freundlich aufnehmen und verwöhnen, Pastor Voß, der uns nicht nur seine Kirche und sein Gemeindehaus zur Verfügung stellt, sondern uns mit Rat und Tat zur Seite steht, Söhnke Utke, ohne den es nicht möglich gewesen wäre, die Ausstellung zur Kurzschule mit so imposanten Bildern zu gestalten, Herrn Hehl, der uns sein umfangreiches Material zur Kurzschule zur Verfügung gestellt hat. Der Sparkasse Holstein danken wir für den Druckkostenzuschuss zum Tagungsband des Symposions 2014. Unser besonderer Dank gilt Jürgen Gradert, auf dessen Schultern nicht nur die Hauptlast der Tagungsvorbereitung liegt, der darüber hinaus als Außenstelle der AEET rund ums Jahr all das erledigt, was wir aufgrund der Entfernung nicht selbst bewerkstelligen können. Seien Sie versichert, meine Damen und Herren, das ist nicht wenig! Wer sich den Folder näher angesehen und mit denen der vorigen Jahre verglichen hat, wird gesehen haben, dass es eine Veränderung gegeben hat. Dass die wertvollen Dokumente aus dem Archiv der Grafen v. Platen überregionale Bedeutung haben, ist mehrfach in verschiedenen Vorträgen angesprochen worden. Da viele Textzeugnisse in die Niederlande weisen, freut es uns sehr, dass es gelungen ist, eine Kooperation mit der Radboud Universität in Nimwegen einzugehen. Unser geschätzter Kollege Prof. Dr. Guillaume van

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Gaby Herchert

Gemert leitet seit letztem Jahr die AEET mit uns gemeinsam und wird Ihnen heute einen Einblick in seine Forschungen geben. Mit dem Thema der diesjährigen Tagung nähern wir uns einer aktuellen Diskussion, die auf vielen Ebenen geführt wird. Politiker aller Parteien haben sich seit dem sogenannten PISA-Schock des Themas Bildung angenommen und bemühen sich, die vorgegebenen Standards der OECD und anderer wirtschaftlich ausgerichteter Verbände zu erfüllen. Kinder und Jugendliche werden als humane Ressourcen gehandelt, deren Rentabilität in ökonomischem Sinne es durch nicht enden wollende Reformen zu steigern gilt, damit sie sich als möglichst wertschöpfungsfähig erweisen und die optimale Anpassungsfähigkeit an den Arbeitsmarkt erreichen. Der Bildungsbegriff ist in dieser Debatte bis zur Unkenntlichkeit zerredet worden, dem Wissen hat man eine Absage erteilt zugunsten von Kompetenzen, die innerhalb eines normierten Rasters objektiv überprüfbar sein sollen. Von Weisheit ist, zumindest in der politischen Diskussion, schon lange nichts mehr zu merken. Bundesländer konkurrieren um Platz 1 im Ranking der besten Abschlussnoten, Staaten stehen in einem Wettbewerb um die höchsten Absolventen- und Akademikerquoten und über alle Kulturen hinweg werden Schulbesuch und Alphabetisierungsraten als Maßstäbe genommen, an denen Fortschrittlichkeit überhaupt gemessen wird. Dass Bildung mehr ist als das Erreichen von Standards, die durch simple Tests abgefragt werden können, dass Wissen weder träge noch nutzlos sein muss und dass Weisheit nicht an Hochschulabschlüsse gebunden ist, lehrt nicht nur die alltägliche Erfahrung, sondern auch ein Blick zurück in die Vor-PISA- und -Bologna-Zeit. Die Vermittlung von Wissen ist auf vielfältige Weise möglich und sie bedarf nicht einmal zwingend der Schriftlichkeit. Bis ins hohe Mittelalter waren Lesen und Schreiben keine elementaren Kulturtechniken. Der Grund ist rein pragmatischer Natur, denn als alleiniger Beschreibstoff stand Pergament, Tierhaut, zur Verfügung. Um eine Bibel zu schreiben, benötigte man mehr als 200 Kühe oder 500 Schafe. Für Klöster, die notwendiger Weise über eine Heilige Schrift verfügen mussten, war dies eine außerordentliche finanzielle Herausforderung und selbst große Bibliotheken beherbergten deutlich weniger Bücher als die meisten von uns in ihrem Regal stehen haben. Für den größten Teil der Bevölkerung war die Wahrscheinlichkeit, irgendwann ein Buch in Händen zu halten, denkbar gering und so hatten Lesen und Schreiben außerhalb von Klöstern und Kirchen keine Bedeutung. Erst mit der Einführung von Papier im 13. Jahrhundert und der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert wurden Bücher für ein größeres Publikum attraktiv und Lesen und Schreiben allmählich zu nützlichen Kenntnissen auch außerhalb klerikaler Kontexte. Bis dahin wurden Wissensbestände in weiten Teilen mündlich

Zur Tradition von Wissen, Weisheit und Bildung. Einleitung zum Symposion

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weitergegeben. Martin Luther sah Fabeln und Sprichwörter als probate Mittel an, Verhaltensregeln, Werte und Lebensweisheiten zu vermitteln. Jörg Zimmer wird uns am Nachmittag darüber berichten. Martin Luther setzte jedoch nicht nur auf die seinerzeit traditionellen Wege, er forderte die Einrichtung öffentlicher christlicher Schulen, denen er neben der Vermittlung von Kenntnissen auch Erziehungsaufgaben zusprach. Seine Vorstellungen wurden von Philipp Melanchthon aufgegriffen und mit humanistischen Ideen verbunden, führten aber noch lange nicht zu einer allgemeinen Schulpflicht. Mit der Aufklärung setzt eine Hochschätzung von Bildung und Wissenschaft ein. Sie gelten als Garanten für technischen und gesellschaftlichen Fortschritt. Die Gelehrten und Forscher erfahren eine breite Unterstützung, auch und gerade von Adligen, die einerseits selbst wissenschaftlich tätig werden und andererseits Forschungen auf vielfältige Weise als Mäzene unterstützen. Dies wird Jeannine Pham uns später am Beispiel von Ernst Franz v. Platen zeigen. Aufklärer glauben, durch Volksbildung Unwissenheit, Armut, Trägheit und Laster überwinden zu können. Sie verfolgen mit ihren Bemühungen soziale, ökonomische und politische Ziele. Neue Produktionsverhältnisse erfordern Grundkenntnisse, die gewährleisten, dass die Arbeiter umsichtig und verständig handeln. Zudem hofft man, durch die flächendeckende Vermittlung von Lese-, Schreib- und Elementarkenntnissen und die Anleitung zu einem christlich-sittlichen Leben vernünftiges Handeln im Sinne des Gemeinwohls befördern zu können. Bildung wird zu einem säkularisierten Heilsversprechen, zu einem möglichen Weg, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Nicht nur in den Städten werden immer mehr Schulen errichtet, auch für die Landbevölkerung werden Dorf- und Gutsschulen eröffnet. Vorbildcharakter hat die von Friedrich Eberhard von Rochow auf Gut Reckahn gegründete Musterschule. Die Bereitschaft, Kinder in die Schule zu schicken, bleibt insbesondere auf dem Land vorerst gering, denn bei vielen Tätigkeiten gilt die Arbeitskraft der Kinder als unverzichtbar. Regelmäßiger Unterricht zählt als verlorene Zeit, zumal das Gelernte für den Alltag nur wenig nützlich scheint. Auf welche Weise Wissenswertes in bäuerlichen Kontexten über die Generationen weitergegeben wurde, zeigt beispielhaft Guillaume van Gemert auf, der sich bei seinen Forschungen eines geheimnisvollen kleinen schwarzen Büchleins angenommen hat. Eine allgemeine Schulpflicht kann erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts flächendeckend durchgesetzt werden. Von nun an muss jedes Kind, zumindest theoretisch, ab dem sechsten Lebensjahr die Elementarschule besuchen. Das vermehrte staatliche Interesse an der allgemeinen Schulpflicht liegt unter

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Gaby Herchert

anderem daran, dass Schule nicht nur zu Bildungszwecken genutzt wird, sondern auch politisch funktionalisierbar ist, wie uns der Vortrag über Unterricht zur Kaiserzeit von Katja Winter vor Augen führt. Über eine Schule ganz anderer Art werden uns Graf Platen und Prof. Dr. Helmer berichten. Unter dem Motto ‚Dienst am Nächsten – Dienst am Frieden‘ wurden von 1952 bis 1975 in der Kurzschule Weissenhaus Jugendliche und junge Erwachsene zu Rettungsdiensten ausgebildet. Dies ist ein Beispiel dafür, dass die Regelschule als institutionalisierte Form der Wissensvermittlung zu keinem Zeitpunkt die einzige Instanz gewesen ist, die Wissen, Weisheit und Bildung vermittelt hat. Mit den Vorträgen des heutigen Symposions stecken wir ein weites Feld von unterschiedlichen Aspekten des Bildungsbereichs ab, wir nähern uns diesem zwar aus einer historischen Perspektive, doch könnte das eine oder andere Gesagte für die aktuelle Diskussion relevant sein. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei den nachfolgenden Vorträgen und lade Sie ein, mit uns zu diskutieren oder uns Ihre Sicht der Dinge zu schildern.

Katja Winter

Ilse und Clemens gehen zur Schule. Unterricht zur Kaiserzeit Lange Zeit stand die alte Postkiste ungeöffnet in der Eingangshalle des Friederikenhofes. Als sie im Jahr 2014 endlich geöffnet werden konnte, fanden sich darin neben vielen privaten Dokumenten wie Briefen und Fotografien auch Schulhefte aus der Zeit der Jahrhundertwende. Diese Schulhefte von Ilse von der Marwitz, der Großmutter, und von Clemens, dem Vater Erik Graf Platens gaben Anlass für weitere Recherchen im Archiv der Grafen v. Platen, die weitere Dokumente über die Schulzeit und die jungen Jahre Ilses und Clemens hervorbrachten. Nicht nur Zeugnisse, sondern auch Aufsatzhefte beider und Briefe von Clemens an seine Mutter aus der Zeit seines Schulbesuchs in Lübeck sind archiviert. Bereits beim ersten Sichten der Dokumente wurde deutlich, wie stark der politische und gesellschaftliche Geist der Kaiserzeit den schulischen Fächerkanon und die Unterrichtsinhalte beherrschte. Daraus ergaben sich Fragen danach, welchen Einfluss reichsstaatliche Bestimmungen auf die Erziehungs- und Bildungsziele hatten, inwieweit Schule und Unterricht von Kaiser Wilhelm II. und dem Militär instrumentalisiert wurden und inwiefern die Zeugnisse und Aufsätze von Ilse von der Marwitz und Clemens v. Platen die vorherrschenden Geschlechterbilder und die patriotische und militärische Gesinnung in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg widerspiegeln.

1.

Schulwesen zur Kaiserzeit

Die Reichsgründung im Jahre 1871 hatte für das gesamtdeutsche Schulwesen zunächst nur eine geringe Bedeutung. Die Reichsverfassung enthielt keine Artikel zum Bildungswesen, der Kultusbereich oblag also auch nach der Reichsgründung weiterhin den Einzelstaaten. Vor allem angesichts des Glaubensgegensatzes von Katholizismus und Protestantismus sollte den verschiedenen Staaten Raum für Identitätswahrung und Pflege des Regionalbewusstseins gegeben werden. Zudem sah sich das Reich finanziell nicht in der Lage, einheitliche Schulverhältnisse zu schaffen.1 1

Vgl. Geißler, Gert: Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Frankfurt/M. 2011, S. 177–178.

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Katja Winter

Für die Schul- und Unterrichtspflicht, die Bildungsziele, Stundentafeln, Ferienzeiten und Notenvergabe der Volksschule standen am Ende des 19. Jahrhunderts reichseinheitliche Vereinbarungen nicht zur Debatte.2 Im höheren Schulwesen dagegen wurden länderübergreifende Absprachen getroffen. Diese wurden maßgeblich vom Militär angetrieben, das eine einheitliche Vorbildung künftiger Reserveoffiziere forderte. Aus diesem Grund fand im Jahre 1874 in Dresden eine Konferenz statt, an der leitende Schulbeamte aus verschiedenen Ländern teilnahmen. Festgelegt wurden die neunjährige Dauer der gymnasialen Ausbildung und die Prüfungsgegenstände Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch, Mathematik und Geschichte. Ziel der Vereinbarungen war die länderübergreifende Anerkennung des Abiturs.3

1.1.

Preußisches Schulwesen

In Preußen, dem größten deutschen Staat zu jener Zeit, zeigten sich unmittelbar nach der Reichsgründung Veränderungen, die zu einem einheitlichen preußischen Schulwesen beitrugen. Diese Veränderungen standen zum Teil in einem engen Zusammenhang mit dem sogenannten Kulturkampf. Dieser Konflikt zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche wurde bezeichnenderweise durch drei schulpolitische Ereignisse ausgelöst: Erstens wurde im Jahr 1871 die Katholische Abteilung des Kultusministeriums aufgehoben. Zweitens begann im selben Jahr der Streit um einen katholischen Religionslehrer, der das vom vatikanischen Konzil verkündete Unfehlbarkeitsdogma nicht anerkannte, deshalb von der Kirche exkommuniziert, trotzdem aber von der preußischen Schulverwaltung gehalten wurde. Drittens wurde 1872 das Schulaufsichtsgesetz erlassen.4 Das Schulaufsichtsgesetz, das den Kampf gegen den Polonismus, ein Begriff, der zu dieser Zeit gleichbedeutend mit Katholizismus gebraucht wurde, unterstützen und die Herrschaft des Staates über die Schule sichern sollte, wurde von Bismarck gefordert.5 Auch die 1872 erlassenen Allgemeinen Bestimmungen beförderten ein einheitlicheres preußisches Schulwesen. Mit diesen Bestimmungen wurde eine Schule angestrebt, die der wirtschaftlich und technisch fortschreitenden Zeit Rechnung tragen konnte und eine grundlegende Bildung vermitteln sollte.6 2 3 4 5 6

Vgl. ebd., S. 178. Vgl. ebd., S. 179. Vgl. Giese, Gerhardt: Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800. Göttingen 1961, S. 35. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 37.